fK 4/08 Morgenstern

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kreativität des Kindes

Wie sich kreatives Handeln entwickeln kann

von Bernhard Morgenstern

Die Fähigkeit zu kreativen Handlungen ist im Menschen grundständig angelegt. Allerdings bedarf es bestimmter Voraussetzungen, um diesen Teil menschlichen Seins zur Entfaltung zu bringen. Kreative Entfaltung und Entwicklung entsteht nicht von selbst. Es bedarf der Beziehung zur Umwelt und zum Material. Außerdem setzt es Wertorientierung, Gefühlsfähigkeit und Gefühlsbereitschaft voraus.

Der Mensch ist Geschöpf, nicht Schöpfer. Im letzten ist der Mensch also nicht selbst schöpferisch wirksam. Es ist ihm nur möglich, aus vorhandener Materialität neue Verbindungen, Varianten und Phantasien herzustellen – dies allerdings in unvorstellbarem Reichtum und Variationen. Schöpfung ist göttlichen Kräften vorbehalten. Kreative Entfaltung und Entwicklung kann auch verhindert werden. So sind Erkenntnis und Befriedigung von Grundbedürfnissen Basis und Voraussetzung für Kreativitätsentfaltung. Beschränkte Freiheit und Freizügigkeit lähmen Phantasie und Tätigkeit im kreativen Bereich. Aber auch Verwöhnung, Übersättigung und Überflutung verhindern Eigengestaltung und Tätigkeitsdrang.

Vor allem im Überfluss unserer Zeit liegt ein gefährdender Faktor, dessen Auswirkungen nicht immer richtig erkannt werden. Je nach Persönlichkeitsstruktur des Kindes lähmt ein „Zuviel“ genauso, wie es lustlos und egoistisch machen kann. Demgegenüber ist eine Behinderung (im weitesten Sinn Beeinträchtigung) nicht zwangsläufig auch mit der Einschränkung von Kreativität gekoppelt. Die Kreativität eines Menschen mit Behinderung zeigt sich lediglich anders, entwickelt sich behutsamer und persönlichkeitsnäher.

Langeweile – ein Reizwort?
„Mama, spielst du jetzt mit mir?“ Schon am Ton erkennen Mutter oder Vater den Gemütszustand des Kindes. Auch die Erzieherin kennt diese Frage und einen bestimmten, gedehnten Ton in der Stimme. Langeweile, Lustlosigkeit ist angesagt. Der Erziehungsauftrag scheint uns zu verpflichten, jetzt „tätig“ zu werden. Auch dass das Kind auf dumme Gedanken kommen kann, wenn es keine sinnvolle Beschäftigung hat, lässt manchen Erwachsenen in dieser Situation tätig werden. Es werden Vorschläge gemacht, Materialien bereitgestellt, Freude und Lust vorausgesagt.

Wenn bei der Bitte um das Mitspielen der Erwachsenen dem Kind zu rasch geantwortet wird, ist die Gefahr groß, dass das Kind keine eigenen Lösungen mehr sucht. Diese Aussage ist mehr als eine Hypothese. Die große Zahl der spiel- und gestaltungsgestörten Kinder belegt, dass der Aufbau des Spielantriebs der Kinder nicht genügend auf die Eigenspielfähigkeit der Kinder Rücksicht nimmt.

Wir dürfen dem Kind Langeweile zugestehen. Dies ist nicht nur dann erlaubt, wenn wir das Wort in seinem eigentlichen Sinn verstehen, nämlich eine „lange Weile“ haben. Das Kind braucht die Zeit, um eigene Ideen zu verwirklichen und Materialerfahrungen zu machen.

Wir dürfen dem Kind auch Langeweile zugestehen, weil wir damit seine Persönlichkeit akzeptieren. Die Aussage des Kindes, dass es nicht weiß, was es tun soll, ist ja bereits die Entscheidung, „so nicht weiterzumachen“. Das ist ein kreativer Gedanke, ganz sicher aber die Voraussetzung zu neuen Handlungen.

Kinder haben gelernt, mit Erwachsenen und ihren Anforderungen an sie zu leben. So beinhaltet die Frage „Was soll ich denn jetzt tun?“ nicht selten auch die indirekte Botschaft nach der Zustimmung zum augenblicklichen Tun oder Nicht-Tun. Eltern und Erzieherinnen dürfen dem Kind durchaus auf die Frage, was es denn nun spielen solle oder ob sie mit ihm spielen würden, mit dem Hinweis auf die eigenen Kräfte und Möglichkeiten antworten. Dass dies ungereizt und liebevoll geschehen muss, versteht sich von selbst.

Damit keine Irrtümer entstehen: Kinder fragen die Eltern manchmal auch, ob sie mit ihnen spielen würden, weil sie Sehnsucht nach der Nähe und Geborgenheit haben und den eigentlichen Grund für das Gefühl von Verlassenheit und Schmerz nicht mitteilen können. Kinder teilen viel über das Spiel mit, und wir müssen das Spiel verstehen, damit wir das Kind verstehen. Eine solche Bitte um Mitmachen und Annahme der Situation braucht sicher eine andere Art von Beachtung als der Ausdruck des Kindes von Langeweile. Diese Art von Kontaktaufnahme und Sehnsucht nach Nähe hat aber nur indirekt etwas mit Kreativität zu tun, sehr wohl aber mit der reinigenden Kraft des kindlichen Spiels.

So ist für mich die Botschaft, dass ein Kind Langeweile hat, eher Ansatz für das Suchen freiwerdender kindlicher Kräfte als das Rufen um Hilfe bei der Bewältigung der Probleme des Kindes.

Kreativität und Spiel
Wesenselemente des Spiels sind Freiheit, Wiederholbarkeit, Regelhaftigkeit, Ernsthaftigkeit, Phantasie und Spannung. Kreativität ist auf den Homo ludens, den spielenden Menschen, hin ausgerichtet. Und so brauche ich, um kreativ sein zu können, die gleichen Voraussetzungen wie beim Spiel. Die Variabilität und der Umgang mit den Bedingungen unseres Universums machen den kreativen Menschen aus. Durch das Spielen mit den Materialien werden neue Dinge geschaffen, Lebensnotwendigkeiten verbessert und verfeinert, ja „Kreationen“ geradezu erfunden. Töne werden erfunden, in eine Reihe gebracht, in eine Ordnung gesetzt.

Farben werden zu Flächen verbunden, Vorstellungen schaubar gemacht. Gedanken werden festgehalten, aufgeschrieben, in ein Bild gesetzt, durchgespielt, gegenübergestellt, ausgebreitet, verworfen und immer wieder neu gedacht. Geht das alles spielerisch, mit einer gewissen Leichtigkeit, Mühelosigkeit und – scheinbar zentral als Notwendigkeit – mit Freude?

Hier regen sich Zweifel. Spiel wird häufig mit diesen Begriffen umschrieben, ja gerade dann als Spiel akzeptiert. Aber Kreativität braucht auch Durchhaltevermögen und Leistungsbereitschaft – Begriffe, die dem Spiel fremd zu sein scheinen. In vielen Spielformen (z. B. Musik, Sport) sind aber gerade diese Bedingungen gefragt. Und bei der Kreativität sind sie Bedingung.

Kreativität und Handwerklichkeit
Viele Formen der Kreativität sind auf der Bewältigung des Materials aufgebaut. Das setzt Materialbesitz, Materialkenntnis und Materialverarbeitung voraus. Handwerklichkeit ist Mitbedingung bei der Kreativität. Der Gedanke von Carl Jaspers umschreibt es vollkommen: „Die Hand ist ein Werkzeug des Denkens: aber so, dass die Lust des Denkens in der Einheit mit der Hand sich vollzieht. Wir begreifen mit den Händen tatsächlich und dann als Gleichnis.“

Das bedeutet, dass der Erzieher nicht rezeptive Produktionsfähigkeit alleine braucht, sondern dass er variable Handwerklichkeit besitzen muss. Denn nur so ist der Transfer zum Kind hin möglich. Das Wissen um die Fähigkeiten und Eigenschaften des Materials und des Werkzeugs setzt ungeahnte Kräfte frei.

Für die Arbeit mit dem Kind bedeutet dies aber, dass die Handwerklichkeit nicht reduktiv angewandt, d. h. auf kindliche Fähigkeiten eingeschränkt wird, sondern dass der Konstruktionsfähigkeit des Kindes (Konstruktionsspiel bedeutet: einen Plan machen und ihn durchführen) Raum und Möglichkeit gegeben wird.

Handwerklichkeit in diesem Sinne ist der Umgang mit Wasser und Sand, Luft und Wärme, Einsatz von Kraft, Raum und Form ebenso wie das Einsetzen aller Hilfen, die sich die Menschen im Laufe ihrer Entwicklung geschaffen haben. Gemeint sind dabei Werkzeuge und zum Zweck des Benutzens hergestellte Produkte aus Natur und Kultur. Handwerklichkeit beinhaltet auch Partnerschaftlichkeit, Lernbereitschaft, Lernfähigkeit und Übungswille.

Kreativität und Ordnung
Ist Ordnung ein Widerspruch zur Kreativität? Hemmt die Ordnung nicht den freien Geist und die freie Hand? Genau das Gegenteil ist der Fall. Menschen suchen aus einer chaotischen Struktur durch das Erkennen von Ordnung kreativ zu werden. Kinder können in einem ungeordneten Umfeld auf die Dauer nicht spielen. Wenn sie zur Ordnung noch nicht fähig sind, verlassen sie ungeordnete Räume und Situationen und suchen sich neue Umgebungen. Was manchen Erzieherinnen nicht bewusst ist: Kinder gehen auch wegen der Ordnung gerne in den Kindergarten, wenn auch unbewusst.

Der ungeordnete Umgang mit Materialien und Werkzeugen lähmt in den meisten Fällen die Kreativität. Ein stumpfes Messer, ein harter Pinsel, ein trockener Ton machen ärgerlich und lustlos. Hier begegnen sich freies Gestalten und Erziehungsbedingungen zwangsläufig, weisen auf Hindernisse und Notwendigkeiten hin. Es bedarf aber auch einer Ordnung natürlicher Voraussetzungen und kultureller Bedingungen. Eine Kreativität, die mit der Zerstörung der Umwelt und der Gaben der Natur einhergeht, ist ungeordnet und letztlich sinnlos.

Kreativität und Freiheit
Freiheit beinhaltet u. a. die Fähigkeit zum Verzicht auf eine Vielzahl von Möglichkeiten. Freiheit ist aber auch die Entfaltung einer Unzahl von Varianten eines Materials, eines Gedankens, letztlich also die Entfaltung einer bestimmten Entscheidung.

Das Angebot einer unüberschaubaren Vielzahl von Möglichkeiten und Materialien ist der Kreativität nicht zuträglich. Die Bescheidung auf das Auseinandersetzungsfeld einer Materialgruppe z. B. setzt die Kreativität dadurch frei, dass die Grundregeln, die Materialechtheit und die Werkzeugstimmigkeit in immer neuen Varianten freigesetzt werden.

Maria Montessori hat mit den Grundlagen ihrer Pädagogik hervorragende Voraussetzungen für die Entwicklung der Kreativität geschaffen. Für sie waren vorbereitete Umgebung und das Zeitlassen der Kinder für die eigenen Entwicklungsschritte Grundbedingung der Entfaltung der Persönlichkeit. Durch unsere Erkenntnisse könnten wir in vielen Bereichen diese Grundlagen erweitern und der kreativen Entfaltung der Kinder dienstbar machen.

Bernhard Morgenstern ist Heilpädagoge und Puppenspieler in Meckenbeuren.

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