fK 2/08 Thyen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsfürsorge für Kinder

Neue Aufgaben der Kinder- und Jugendmedizin

von Ute Thyen

Die Förderung und der Erhalt der Gesundheit von Kindern von Jugendlichen, aber auch die Behandlung von akuten und insbesondere chronischen Erkrankungen ist eine Aufgabe, die weit über den ärztlichen und pflegerischen Aufgabenbereich hinausgeht – dies hat die Deutsche Liga für das Kind immer verstanden. Die aktive Teilnahme von Kinder- und Jugendärzten und -ärztinnen an der Arbeit innerhalb der Liga, der Öffentlichkeitsarbeit, den Kongressen und an Veröffentlichungen in frühe Kindheit ist daher seit Gründung dieser Zeitschrift eine Selbstverständlichkeit. Daher konnte gerade in dieser Zeitschrift modellhaft abgebildet werden, dass die Verwirklichung von Kindergesundheit nur im Konzert aller gelingen kann, die mit Kindern und Familien arbeiten. Die Trennung der Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Angebote in unserem Land, die sich auch in der Organisationsform vieler Institutionen und Fachverbände abbildet, konnte in frühe Kindheit als Diskussionsforum weitgehend überwunden werden.

Dies ist umso erfreulicher, als die Herausforderungen, die sich der Kinder- und Jugendmedizin in den letzten zehn Jahren neu gestellt haben, ihre Antwort allein in einer besseren Vernetzung und verbesserten Kooperation finden kann. Dabei ist zum einen die Zusammenarbeit mit anderen Kinderfächern wie Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinderchirurgie, den eigenen Subspezialitäten, aber auch anderen organbezogenen Fächern, sowie der Allgemeinmedizin und der Gynäkologie und Geburtshilfe von Bedeutung. Prävention und Therapie geschieht insbesondere bei chronischen Gesundheitsstörungen zumeist in Zusammenarbeit mit nicht-ärztlichen Berufsgruppen, die im Gesundheitswesen verankert sind und durch dieses finanziert werden.

Darüber hinaus wird zunehmend der Bedarf für eine Kooperation mit Systemen der sozialen Sicherung, der Jugendhilfe, Beratungsstellen, Elternverbänden und auch hier nicht-ärztlichen Therapeuten gesehen, die häufig über die Behindertenhilfe oder Eingliederungshilfe der Kommunen finanziert werden. Weiterhin rückt die außerfamiliäre Lebensumwelt des Kindes in Krippe, Tagespflege, Kindertagesstätte, Schule und Hort sowie Jugendeinrichtungen in den Blick, wenn eine zunehmende Zahl von Kindern einerseits täglichen Versorgungs- und Förderbedarf erkennen lässt, andererseits Familien zunehmend überlastet erscheinen, den wachsenden Anforderungen an Gesundheitsförderung, Erziehung und emotionaler Entwicklung des Kindes nachkommen zu können. Auch in diesem Bereich finden sich Hilfs- und therapeutische Angebote, die in aller Regel wenig mit den aus dem Gesundheitswesen heraus empfohlenen Maßnahmen koordiniert sind.

Die Forderung nach Prävention, die in den drei Bereichen Gesundheitswesen, Jugendhilfe und Bildungssystem in den letzten Jahren artikuliert wird, verbindet sich in der Medizin mit Krankheits-Früherkennung und vorbeugender Gesundheitsberatung, in der Jugendhilfe mit frühen Hilfen und Frühwarnsystemen und im pädagogischen Bereich mit der Verwirklichung von Entwicklungschancen und Frühförderung. Im Grunde geht es dabei um ein gemeinsames Ziel, nämlich das Recht des Kindes auf eine möglichst weitgehende Realisierung seines körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Entwicklungspotentiales zu verwirklichen und Familien bei der Verwirklichung dieses Ziels zu unterstützen. Die Kooperation aller Bereiche mit- und untereinander hat zu Konzepten geführt, die über die Integration von Maßnahmen auf individualmedizinischer Ebene, wie sie paradigmatisch in sozialpädiatrischen Behandlungsansätzen erfolgt, hinausführen und sich insbesondere im Bereich der primären und sekundären Prävention Setting-Ansätze zu nutze machen: Dorthin gehen, wo Kinder und Familien sich ohnehin aufhalten und mit Angeboten erreicht werden können.

Sinnvolle Projekte, beispielsweise zur Förderung von Bewegung und guter Ernährung oder zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung werden typischerweise bereits in der Konzeption, aber auch in der Durchführung interdisziplinär getragen. Forschung zur Effektivität von frühen, präventiven Interventionen insbesondere bei belasteten Familien konnte zeigen, dass nur ein multimodaler Ansatz erfolgreich ist, der Wissensvermittlung und Gesundheitsberatung mit Komponenten sozialer Unterstützung, Integration und praktischen Hilfen verbindet. Wenn diese Angebote einzeln und nicht miteinander verknüpft gemacht werden, zeigen sie keine nachhaltigen Effekte und Änderungen des Verhaltens bei den betroffenen Menschen. Dies bedeutet, dass erfolgreiche Interventionen nur im Austausch und im fachlichen Miteinander aller Disziplinen erarbeitet werden können, die sich mit Kindern und Familien befassen: gerade der unterschiedliche Zugang, unterschiedliche Methoden, theoretische Konzepte und Praxiserfahrungen der Fachgruppen können und müssen als Ressource angesehen werden, wenn es darum geht, optimale Programme zu entwickeln, gleich, ob es sich um Gesundheitsförderung, langfristige Betreuung bei Krankheit und Behinderung, Überwindung psychosozialer Risiken, Suchtprävention, besseren Bildungserfolg oder soziale Teilhabe handelt.

Bei der Durchsicht der kinderärztlichen Beiträge in frühe Kindheit lassen sich diese Entwicklungen gut nachvollziehen. In einem der ersten Hefte der Zeitschrift im Jahr 1999 schreibt Klaus Gritz, damaliger Vorsitzender des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendmedizin und langjähriges Vorstandsmitglied der Liga für das Kind, dass die Behandlung von akuten Krankheiten im Kindesalter dank der Fortschritte der Medizin leichter geworden und dadurch gegenüber den Aufgaben der Prävention eher in den Hintergrund getreten sei.

Es waren gerade die primär präventiven Angebote, welche die Gesundheit von Kindern in unserem Jahrhundert so nachhaltig verbessert haben: die Impfungen, die in Verbindung mit besseren Lebensverhältnissen und umweltmedizinischen Maßnahmen zu einem dramatischen Rückgang der Mortalität und Morbidität durch Infektionskrankheiten geführt hatten und den Blick frei machten für die Früherkennung und Frühbehandlung angeborener Stoffwechselstörungen und Organerkrankungen. Als hervorragende Beispiele beschreibt Gritz die Vermeidung der Rötelnembryopathie durch die Rötelnimpfung, die Verhütung der Rachitis durch die Vitamin D-Prophylaxe, die Verhütung von Krankheiten beim Neugeborenen durch eine Verbesserung der Müttergesundheit während der Schwangerschaft, die Früherkennung und Behandlung von Blutgruppenunverträglichkeiten bei Mutter und Kind, die Screening-Untersuchungen bezogen auf Schilddrüsenunterfunktion und Stoffwechseldefekte und in neuerer Zeit die Früherkennung angeborener Hör- und Sehstörungen.

Alle diese Maßnahmen haben die Krankheitslast im Kindesalter erheblich gesenkt. Allerdings beschreibt Gritz auch schon damals die zunehmende Zahl von psychischen und psychosozialen Fehlentwicklungen und Entwicklungsstörungen bei Kindern, die im Laufe der folgenden Jahre wachsende Aufmerksamkeit erfahren mussten. Sein Fazit lautete: „Die ständig wachsende Aufgabe des Schutzes unserer Kinder können wir Ärzte nicht alleine bewältigen. „Anwälte“ des Kindes sind auch Angehörige anderer Berufe – Theologen, Juristen, Pädagogen, Politiker. Wenn wir diese Kräfte bündeln, ist wirkungsvolles Vorbeugen möglich. Eine Chance dafür sehen wir in der Liga für das Kind“ (frühe kindheit 4/1999).

Dieser Ansatz wird von Hubertus von Voss, dem damaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin in einem weiteren Beitrag aufgegriffen. Er beschreibt die wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Gesundheitsbedürfnissen, die aus einem komplexen Zusammenspiel gesundheitlicher und sozialer Risikofaktoren erwachsen und trotz eines zunehmenden Wohlstands der Gesellschaft beobachtet werden. Er schreibt: „Die so in ihrer Entwicklung gefährdeten Kinder und Jugendlichen warten auf ein sich vernetzendes Konzept von Hilfen, koordiniert von Kinderärzten. (…) Das durch Krankheit betroffene oder behinderte Kind und der ebenso gefährdete Jugendliche profitieren dann von unserer Arbeit, wenn wir sie in einem von uns zu schließenden Kreis mehr denn je in den Mittelpunkt dieses Kreises stellen. Wir werden dabei lernen müssen, dass uns weit mehr Möglichkeiten der effektiven Hilfe offen stehen, wenn es uns gelingt, mehr Multiprofessionalität und Interdisziplinarität zu praktizieren. Wer zu solchen Kooperationen nicht bereit ist, wird die Zukunft für unsere Kinder und Jugendlichen weder präventiv noch kurativ gestalten können.“ (frühe kindheit 1/1999)“

Innerhalb der Kinder- und Jugendmedizin hat diese ärztlich geleitete, aber interdisziplinär angelegte Versorgung ihre größte Verbreitung in den mittlerweile 130 Sozialpädiatrischen Zentren in Deutschland gefunden, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber immer doch integriert multidisziplinär arbeiten. Sie machen ein Angebot an Kinder und Jugendliche mit bestehender oder drohender Behinderung, nach neuerer Terminologie solche mit bestehender oder drohender Teilhabestörung. Eine Entsprechung findet dieser Ansatz in der sozialpsychiatrischen Versorgung durch Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, wenn es um überwiegend seelische Erkrankungen und Behinderungen geht. Weiterhin weist von Voss als einer der ersten aus dem Bereich der Kinder- und Jugendmedizin auf die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit individuellen Familien, aber insbesondere auch mit Elternverbänden, Selbsthilfeorganisationen und anderen Anwälten für die Belange von Menschen mit Krankheit und Behinderung hin. In diesem Bereich sind zwischenzeitlich große Fortschritte gemacht worden, die ihren Ausdruck fanden in der Bündelung der Elternselbsthilfegruppen im Kindernetzwerk und in letzter Zeit auch in der Allianz für chronische und seltene Erkrankungen im Kindesalter (ACHSE), deren Schirmherrin Eva Luise Köhler auch die Schirmherrschaft für die Jubiläumstagung anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Liga für das Kind am 28./29.9.2007 in Berlin übernommen hatte.

Die Umsetzung der Forderung nach besserer Kooperation zwischen den Hilfesystemen geht mühsam voran, insbesondere weil die Gliederung des Versorgungssystems eine effektive Kooperation erschwert und eine gesicherte Finanzierung solcher Ansätze schwer zu erreichen ist. Insbesondere das Fehlen eines universellen, barrierefreien Zugangs zu Angeboten einer ganzheitlichen Gesundheitsversorgung, beginnend mit der Schwangerschaft der Mutter und der integrierten familienmedizinischen und psychosozialen Betreuung der Familie, trägt dazu bei, dass besonders vulnerable Gruppen nicht oder schlecht betreut werden. Neue Angebote werden typischerweise von denjenigen Gruppen am besten genutzt, die sie am wenigsten benötigen.

Die von von Voss geforderte Verknüpfung des individualmedizinischen Ansatzes sozialpädiatrischer Arbeit mit dem Bereich Public Health, vertreten durch den Öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienst der öffentlichen Hand, und der Bearbeitung der beschriebenen Probleme durch eine integrative Gesundheitswissenschaft für Kinder, Jugendliche und Familien konnte in der vergangenen Dekade kaum eingelöst werden. Die Hauptursachen dürften im Bereich des Öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in einer massiven Unterfinanzierung und in einem Stellenabbau in den vergangenen zehn Jahren liegen, aber auch in einer fehlenden Orientierung auf gemeindenahe, aktive Gesundheitsförderung und Gestaltung von Präventionsprojekten.

Im Bereich der Gesundheitswissenschaften dürfte die noch immer vorherrschende Orientierung an einem biomedizinischen Modell und der organbezogenen Organisation der Forschungsaktivitäten verhindert haben, dass sich gesundheitswissenschaftliche Forschung innerhalb der medizinischen Fakultäten durchsetzen konnte. Das Fehlen von Lehrstühlen im Bereich „Child Community Health“, „Child Public Health“, „Developmental and Behavioral Pediatrics“ oder „Ambulatory Pediatrics“, wie diese in den englischsprachigen, skandinavischen oder anderen europäischen Ländern genannt werden, macht auf diesen Entwicklungsrückstand in Deutschland aufmerksam. Interessanterweise findet sich die renommierteste Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Deutschland an der Universität in Bielefeld, die über keine Medizinische Fakultät verfügt. Klaus Hurrelmann hat in Bielefeld, wie auch Petermann aus der Psychologie in Bremen heraus Wesentliches geleistet und neben dem vom Robert-Koch-Institut durchgeführten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey erheblich zu dem heutigen Kenntnisstand über die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen beigetragen. Es ist bedauerlich, dass der Forschungsbeitrag aus der Kinder- und Jugendmedizin diesbezüglich eher gering ausfällt.

In der Dekade seit der ersten Ausgabe der Zeitschrift frühe Kindheit sind verschiedene Themen verstärkt in die Kinder- und Jugendmedizin hineingetragen und thematisiert worden, wobei Pioniere dieser Themen bereits seit den 1980er Jahren versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Insbesondere fünf Themen sind hier zu nennen.

(1) Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
Zunächst geht es um das Thema der körperlichen, sexuellen und seelischen Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Dabei hat die Kinder- und Jugendmedizin einen langsamen aber stetigen Entwicklungsprozess genommen, der zu vermehrter Aufmerksamkeit, anwachsender medizinischer Literatur zu Diagnostik und Intervention und zunehmender Bereitschaft, der Aufmerksamkeit auch Taten folgen zu lassen, geführt hat. Auch wenn manchen dieser Prozess ungenügend und zu zögerlich erschien, hat er doch den Vorteil geboten, der Thematik unaufgeregt und maßvoll zu begegnen. Anders als manchen Protagonisten des Kinderschutzes, insbesondere im Bereich des sexuellen Missbrauchs, und den gewaltverliebten Medien ist es gelungen, einen kontinuierlichen Weiterbildungsprozess anzuregen, der sich nicht von einzelnen spektakulären Fällen zu Wellen von Aufmerksamkeit und Nicht-Beachtung verleiten lässt.

Kinder- und Jugendärzte gehen prinzipiell von der Prämisse aus, dass Eltern nahezu immer im besten Interesse des Kindes handeln möchten, auch wenn sie dies nicht immer können. In aller Regel können sie im Gespräch mit den Eltern deren Verantwortung so stärken, dass (zumindest ausreichend) gut für Kinder gesorgt wird. Sie wissen auch um die Veränderlichkeit dessen, was als Kindesmisshandlung wahrgenommen wird, d. h. das es auch von gesellschaftlichen Definitionen abhängt, die das Handeln leiten. Sie haben aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Kindern in Pflegestellen und Heimen die Erfahrung gemacht, dass die Suche nach außerfamiliären Alternativen nicht immer von guten Ergebnissen gekrönt wird. In diesem Sinne hat sich eine wachsende Sensibilität und Kompetenz im Umgang mit dem Thema herausgebildet.

Die Kooperation mit anderen Diensten wird nach wie vor als schwierig erlebt. Im Willen, Kindern und Familien zu helfen, aber auch in ihrem Vertrauen auf Freiwilligkeit und den Nutzen einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung, erleben sie die neue Gesetzgebung in zahlreichen Bundesländern zur Verpflichtung von Eltern, am Früherkennungsprogramm für Kinder teilzunehmen, mit einer gewissen Ambivalenz. Diese wird dadurch gestärkt, dass vielerorts nur Mittel zur Früherkennung bereitgestellt werden, die Mittel und Maßnahmen für frühe präventive Hilfen aber weder quantitativ ausreichend noch flächendeckend sind und in ihrer Qualität kaum evaluiert wurden. Kinder- und Jugendärzte sind vertraut mit Screeningmaßnahmen und wissen deshalb, dass Screeningprogramme („Frühwarnsysteme“) eigentlich nur vertretbar sind, wenn eine evidenzbasierte und ausreichend zur Verfügung stehende Therapie bereitgehalten wird. Sie haben Recht, wenn sie nach mehr gesellschaftlichen und auch finanziellen Mitteln verlangen, dies umzusetzen.

(2) Neue Morbidität
Ein weiteres Thema ist das der so genannten neuen Morbidität im Kindes- und Jugendalter. Mit diesem Begriff ist eine Vielzahl von komplexen, zum Teil unscharf begrenzten, nosologisch und ätiologisch unklaren Entwicklungsstörungen gemeint, die häufig eine Kombination von körperlichen und seelischen Auffälligkeiten beinhalten. Beispielsweise ist die Epidemie der Adipositas in Kombination mit körperlichen Folgen wie frühe orthopädische Probleme, Insulinresistenz und frühzeitiges Einsetzen eines Diabetes Typ II, latenter Bluthochdruck in Kombination mit psychosozialen Defiziten, sozialer Stigmatisierung, Lern- und Verhaltensstörungen gemeint. Epidemiologische Studien zeigen: „Das Krankheitsspektrum wird bei Kindern heute durch die chronischen Krankheiten beherrscht, die nicht wirklich heilbar sind, sondern fast wie eine Behinderung wirken. Die chronischen Erkrankungen können viele Jahre lang in mehr oder weniger bedrohlicher Weise das Handeln und Empfinden eines Kindes beeinflussen. Je ernsthafter die körperliche Störung ist, desto größer ist in der Regel auch das begleitende Ausmaß von psychischen Störungen“ (Hurrelmann, frühe Kindheit 4/2003).

Andere Beispiele sind die hohen Raten von Sprachentwicklungsverzögerung bei unzureichendem Spracherwerb in Kombination mit extraversiven Verhaltensstörungen bei Schulanfängern, die überproportional häufig bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vorkommen. Zu diesem Thema hat die Leiterin des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes Brandenburg, Gabriele Elsässer, bereits in frühe Kindheit 2/1998 Stellung genommen und auf die Auswirkungen der negativen Kontextfaktoren hingewiesen.

(3) Neurobiologische Forschung
Verknüpfendes Element der beiden Problembereiche „Gewalt- oder Vernachlässigung“ und „neue Morbidität“ bietet ansatzweise die moderne neurobiologische Forschung, die ebenfalls bereits im zweiten Heft frühe Kindheit (2/1998) übersichtsartig dargestellt wird. Mitte der 1980er Jahre nahmen Neurowissenschaftler noch an, dass die Gehirnstrukturen und die Entwicklung genetisch determiniert seien, weitere Forschungserkenntnisse lieferten Beweise dafür, dass Erfahrungen in der frühen Kindheit dramatische und präzise Auswirkungen haben, indem sie physisch bestimmen, wie die komplizierten neuronalen Schaltkreise des Gehirns verdrahtet werden. In der enormen Plastizität des menschlichen Gehirns liegen die großen Chancen, aber auch die Risiken für die Entwicklung der kognitiven und emotional-sozialen Intelligenz. Wenn die Organisation des Gehirns beispielsweise unter ständig wiederholten Erfahrungen von Traumatisierung und Stress erfolgt, werden die neurochemischen Antworten aus Angst und Stress zu den wichtigsten Baumeistern des Gehirns. (frühe Kindheit 2/1998). Diese Erkenntnisse ergänzten die bereits vorhandenen und weiter wachsenden psychologischen Forschungen der frühen Eltern-Kind-Bindung, einschließlich der seit Anfang des 20. Jahrhunderts beschriebenen Auswirkungen von Deprivationserfahrungen.

In diesem Sinne ist die durchgreifendste Veränderung auch im kinder- und jugendärztlichen Bereich – zumindest dort, wo die Entwicklung von Kindern beobachtet und begleitet wird – das Verständnis für die Bedeutung der Entwicklung in den ersten Lebensjahren, insbesondere aber auch im Säuglingsalter. Beiträge aus dem kinder- und jugendmedizinischen Bereich in frühe Kindheit zeigen diese Neuorientierung an: Themen wie Stillen und Ernährung in Heft 2/2002, Regulationsstörungen in Heft 1/2001 oder Schlafen in Heft 4/2004 werden immer als komplexes Verhaltensmuster von Säuglingen gesehen, die auch als Reaktion auf Bindungsprobleme zu sehen sind bzw. zur Bindung zwischen Mutter (Vater) und Kind beitragen können.

(4) Einfluss von Kontextfaktoren
Das Verständnis in der Kinder- und Jugendmedizin bezüglich der Auswirkungen von positiven wie negativen Kontextfaktoren hat sich sehr geändert. Hans-Georg Schlack beschreibt in Heft 6/2004 die Datenlage zum sozialen Gradienten bei Gesundheits- und Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter. Dies betrifft eine höhere Mortalität im Neugeborenen- und Säuglingsalter ebenso wie die höhere Auftretenswahrscheinlichkeit von Plötzlichem Kindstod, Karies, Sprachstörungen, vielen akuten Krankheiten ebenso wie Lern- und seelischen Entwicklungsstörungen. Diese negativen Kontextfaktoren, d. h. belastende und ausgrenzende Lebensumstände der betroffenen Familien, erhöhen einerseits die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der neuen Morbidität, andererseits erschweren sie auch massiv den Zugang zu diesen Gruppen und erhöhen die Anforderungen an Qualität und Umfang von Interventionsprogrammen. Auch seelische Entwicklungsstörungen scheinen eine Zunahme, zumindest eine vermehrte Aufmerksamkeit zu erfahren. Mindestens zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen zeigen klinisch relevante Verhaltens- und Entwicklungsstörungen, die zu Schulschwierigkeiten oder Schulversagen, familiären Krisen oder persönlicher Fehlentwicklung führen.

Sonst überwiegend individualmedizinisch orientiert, hat der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland und andere Fachgesellschaften in den letzten zwei Jahren mehrfach und dringlich auf den Zusammenhang zwischen Armut und schlechter Kindergesundheit hingewiesen und die Forderung nach besserer Absicherung der Lebenswelten von Familien mit Kindern erhoben. Der Zusammenhang betrifft nicht nur die Prävalenz der neuen Morbidität und die subjektive Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, wie ausführlich in frühe Kindheit 3/2001 von Wissenschaftler(inne)n des Robert Koch Instituts dargestellt, sondern auch die erhöhte Rate von Kinderunfällen bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien und bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten (frühe Kindheit 2/2003), ebenso wie der schlechtere Krankheitsverlauf bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen.

Zu den negativen Kontextfaktoren gehören neben den gesellschaftlichen und sozialen auch intrafamiliäre Faktoren, wie begrenzte Ressourcen bei Eltern mit chronischen körperlichen, insbesondere aber seelischen Erkrankungen und Behinderungen. Immer häufiger wird auf den Zusammenhang von Bewegungsmangel und verschiedenen Lernstörungen, wie schlechterem räumlichem und mathematischem Vorstellungsvermögen, Adipositas, orthopädischen Problemen und psychischer Entwicklung hingewiesen. Diesem Problembereich war in frühe Kindheit ein ganzes Heft (4/2003) gewidmet. „Der Mangel an öffentlichen, gestaltbaren Flächen und Räumen wirkt sich auf die Entwicklung von Kindern ungünstig aus. Sie brauchen Räume, die sie sich aneignen, besetzen, gestalten und verändern können. Nur hierdurch kann die Stimulation der Sinne, das Erleben von öffentlichem Handeln mit der Erfahrung von Unbekanntem und Fremdsein aufgebaut werden. Im sozialen Bereich Kompetenzen aufbauen heißt auch, Ängste zu überwinden, sich zu präsentieren, also eine Form der Behauptung und der Selbstbehauptung einzuüben. In einem öffentlichen Raum sind immer fremde und unbekannte Menschen, es stellen sich neuartige und irritierende Situationen ein. Zugleich kann hier Zugehörigkeit und Ortsverbundenheit erfahren werden. Deswegen dürfen die Räume nicht perfekt sein, sondern müssen die Einflüsse von Kindern ermöglichen“ (Hurrelmann, frühe Kindheit 4/2003).

(5) Verhaltens- und Verhältnisprävention
In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Prävention nicht allein als Verhaltensprävention, sondern auch als Verhältnisprävention gedacht werden muss. Nicht nur das Individuum und die Familie muss das Gesundheitsverhalten verändern, sondern es bedarf gesellschaftlicher Anstrengungen, Lebenswelten so zu gestalten, dass Kinder sich ungehindert entwickeln und ihr Potential entfalten können. Eine wesentliche Motivation für die Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen liegt volkswirtschaftlich sicher in der Prävention von chronischen Gesundheitsstörungen und Arbeitsunfähigkeit im Erwachsenenalter. Bärbel Kurth (Robert Koch-Institut) schreibt in frühe Kindheit 3/2001: „Das Kindes- und Jugendalter verdient größte gesundheitspolitische Aufmerksamkeit nicht nur, damit dessen gesundheitliche Situation verbessert wird, sondern vor allem auch, weil der Grundstein für die Gesundheit des späteren Lebens in der Kindheit und Jugend gelegt wird und weil viele Gesundheitsprobleme der Erwachsenen, etwa die Zivilisationskrankheiten, ihren Ursprung im Kindes- und Jugendalter haben. In dieser Zeit wird der spätere Lebensstil wesentlich und nachhaltig vorgeprägt.“

Die Argumentation der Liga für das Kind bezog sich neben dieser Argumentation jedoch immer auch auf eine rechtlich-ethische Orientierung, die die Menschenrechte explizit für Kinder und Jugendliche meint und ihren Ausdruck in der UN-Kinderrechtskonvention fand. Der Wert eines Menschen darf nicht nach Zwecken außerhalb seiner selbst definiert werden und insofern hat das Kind, unabhängig von potentiellem Nutzen oder Schaden für die Gesellschaft, ein eigenständiges Recht auf Schutz, Förderung seiner Gesundheit und Entwicklung und auf maximale, altersangemessene Partizipation. Nur durch diese Orientierung ist das Recht auch von chronischen kranken, körperlich, geistig oder seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen auf die Verwirklichung ihrer Potentiale und damit das Recht ihrer Eltern auf Unterstützung durch die Gesellschaft begründbar. Diese Thematik wird in frühe Kindheit 2/2006 besonders beleuchtet und von dem unablässigen Engagement der juristischen Fachkolleginnen in der Liga für das Kind um die Stärkung der Kinderrechte in der Gesetzgebung unterstützt. Gerade für vulnerable Gruppen bedeuten eigene Kinderrechte im Grundgesetz besonderen Schutz. Diese Argumentation könnte Kinder- und Jugendärzten jenseits einer persönlichen ethisch oder religiös motivierten Grundhaltung eine Hilfe sein, einer utilitaristischen Orientierung bezüglich des Umgangs mit Krankheit und Behinderung entgegen zu treten.

Resümee
Der Paradigmenwechsel von einem biomedizinischen Modell im Verständnis von Krankheit zu einem bio-psycho-sozialen Modell des Verständnisses von Gesundheit vollzieht sich langsam auch in der Kinder- und Jugendmedizin. Dabei liegt kein Widerspruch zwischen der zunehmenden organorientierten Spezialisierung des Faches und einem umfassenden sozialpädiatrischen und gemeinwesenorientierten Versorgungsansatz. Kinder und Jugendliche haben ebenso wie Erwachsene einen Anspruch auf medizinische Versorgung auf höchstem Niveau. Eine qualitativ hochwertige Versorgung ist nur erreichbar, wenn sich hoch spezialisierte Fachleute um umrissene, zum Teil sehr seltene Erkrankungen bemühen. Diese Entwicklung hat ihren Ausdruck gefunden in der Zulassung von zahlreichen Schwerpunkt- und Zusatzbezeichnungen innerhalb der Kinder- und Jugendmedizin. Dazu zählen die Schwerpunkte Neonatologie, Kinderkardiologie, Neuropädiatrie, Kinderonkologie und die Zusatzbezeichnungen Kinder-Pneumonologie, -Nephrologie, -Endokrinologie und Diabetologie, -Gastroenterologie, -Rheumatologie, und -Orthopädie.

Unerlässlich für die ganzheitliche Betreuung gerade von Kindern und Jugendlichen mit schweren oder chronischen Erkrankungen ist jedoch die zusätzliche familienorientierte, entwicklungsbegleitende und lebensqualitätorientierte Begleitung durch den Haus- oder Kinderarzt oder – wenn dies nicht ausreicht – einem sozialpädiatrischen Zentrum, oft im Verbund mit pflegerischer Unterstützung, Case-Management und Schulungsmaßnahmen. Diese Betreuung kann gelingen, wenn die Zusammenarbeit aller helfenden medizinischen Professionen und die Koordination mit psychologischen, psychotherapeutischen, sozialen und pädagogischen Hilfen gelingen.

Die Verbindung zwischen der Bewältigung psychosozialer Risiken, Erleben von Krankheit und Behinderung und dem Bewältigen von Entwicklungsaufgaben bedeutet ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, die in der Betreuung bedacht werden müssen. Der Kinderarzt und Entwicklungsneurologe Hans Schlack äußert sich in frühe Kindheit 6/2004 zu diesen Herausforderungen: „Bei allem Engagement müssen ideologische Überfrachtungen und allzu schlichte Vereinfachungen vermieden werden. Dazu passt das Motto, das kürzlich über einer amerikanischen Publikation stand: ‚Auf jede komplexe Frage gibt es eine einfache Antwort. Und die ist falsch’.“ In diesem Sinne ist es erfreulich, dass der interdisziplinäre Diskurs zu den bedeutenden Themen der Kinder- und Jugendmedizin im Konzert mit anderen Fachgebieten in frühe Kindheit mit Bedacht, Engagement aber auch intellektueller Redlichkeit geführt wurde. Die Liga für das Kind war in den relevantesten Themen der Kinder- und Jugendmedizin ein oft sehr früher Spiegel neuer Denkansätze und hat die Orientierung hin auf eine moderne Kinder- und Jugendmedizin nachhaltig befördert.

Prof. Dr. Ute Thyen ist stellvertretende Direktorin und Leiterin des Bereichs Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, und Mitglied im Vorstand der Deutschen Liga für das Kind.

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