fK 1/10 Bührer

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Frühgeborene haben zwar einen schwierigen Start, aber es sind vollwertige Menschen“

Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. Dr. med. Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie der Charité in Berlin

Maywald: Nimmt die Zahl der Frühgeborenen in Deutschland zu?

Bührer: Ihre Zahl nimmt nicht zu, aber Frühgeborene rücken mehr in das öffentliche Bewusstsein. Sie sind aus der Schmuddelecke heraus. Früher galten diese Kinder als Versuchskaninchen der Medizin. Neonatologen wurden beschimpft, sie würden Krüppel produzieren. Heute weiß man, dass Frühgeborene zwar einen schwierigen Start haben und dass sie durch ihre Frühgeburtlichkeit unter Umständen lebenslang Einschränkungen haben können. Aber es sind vollwertige Menschen.

Maywald: Was sind die Gründe für Frühgeburtlichkeit?

Bührer: Ein häufiger Grund ist eine Infektion. Das Kind schwimmt im Fruchtwasser, irgendwie gelingt es einem Bakterium, dort hinein zu kommen. Das Fruchtwasser ist für Bakterien das Paradies auf Erden: Dort ist es warm, es gibt etwas zu essen und es gibt keine Abwehr. Dann vermehren sie sich – und für die Natur ist die einzige Möglichkeit, dieses Kind aus dem infizierten Fruchtwasser herauszubekommen, was ja auch für die Mutter bedrohlich sein kann, die frühe Geburt. Ein zweiter häufiger Grund sind Erkrankungen der Plazenta. Die dritte große Gruppe der Frühgeburten stellen Mehrlingsschwangerschaften dar. Die meisten Zwillinge kommen ein paar Wochen zu früh, Drillinge kommen immer zu früh und bei Vierlingen geht es gar nicht mehr anders als über eine Frühgeburt. Die vermehrten Mehrlingssschwangerschaften sind eine Folge der reproduktionsmedizinischen Aktivitäten. Deshalb hat die Zahl der Frühgeburten nicht abgenommen: Was an Fortschritt im Bereich der Infektionsbekämpfung erreicht wurde, wurde durch die vermehrten Mehrlingsschwangerschaften wieder aufgehoben.

Maywald: Ist Frühgeburtlichkeit verhinderbar?

Bührer: Nein, man kann Frühgeburtlichkeit nicht verhindern. Zwar gibt es Tokolytika, also Mittel, mit denen man vorzeitige Wehen bremsen kann, aber eben nur bremsen. Wenn eine Frau vorzeitige Wehen hat, steckt dahinter meistens ein biologischer Sinn. Man kann diese Wehen ein paar Tage hinauszögern. Das ist segensreich, weil es ermöglicht, die betroffenen Frauen in ein Perinatalzentrum zu bringen. Einer der größten Fortschritt in der Neonatologie ist die Regionalisierung. Hat eine Frau vorzeitige Wehen oder irgendeine Pathologie in der Schwangerschaft und es gelingt, die Wehen zu bremsen, gewinnt man Zeit, um diese Frau in ein Perinatalzentrum zu bringen. Besonders wichtig ist das bei Frühgeborenen unter 1.000 Gramm, den sog. Extremely low birth weight infants. Perinatalzentren sind dadurch gekennzeichnet, dass eine geburtsmedizinische Abteilung und eine neonatologische Abteilung mit einem 24-Stundenbetrieb von Spezialisten Tür an Tür nebeneinander arbeiten. In den Ländern, in denen das am weitesten fortgeschritten ist – das sind Schweden und Finnland – hat man die weltweit besten Ergebnisse. Und je schlechter dieser Prozess funktioniert, desto schlechter die Chancen für die betroffenen Kinder.

Maywald: Worin bestehen die besonderen Risiken von frühgeborenen Kindern im späteren Leben?

Bührer: Das Hauptproblem ist die Einschränkung der zerebralen Leistungsfähigkeit, die hinter dem genetischen und sozialen Potential zurückbleibt. Ein Kind, das sonst Abitur gemacht hätte, schafft vielleicht nur die mittlere Reife. Alle anderen Probleme wie Lungen- oder Wachstumsprobleme spielen für das spätere Leben keine wirkliche Rolle, sie sind kompensierbar. Zwar werden aus ehemaligen extrem unreifen Frühgeborenen später keine Hochleistungssportler. Aber die Einschränkungen anderer Organsysteme sind im Alltag nicht wirklich kritisch. Andererseits ist die Einschränkung der zerebralen Leistungsfähigkeit jedoch bei Frühgeborenen weit weniger ausgeprägt, als dies normalerweise vermutet wird. Die Bevölkerung denkt bei diesen Kindern an Patienten mit einer schweren Zerebralparese, die nicht laufen und nicht kommunizieren können – das entspricht eher dem klinischen Bild einer schweren Asphyxie, also eines Sauerstoffmangels bei der Geburt. Das ist bei Frühgeborenen jedoch nicht der Fall. Frühgeborene können unter einer permanenten Einschränkung ihrer zerebralen Leistungsfähigkeit leiden, die man nur entdeckt, wenn man sie systematisch mit Entwicklungstests untersucht. Wir haben dafür Entwicklungspsychologen, deren Hauptaufgabe in der Durchführung solcher Entwicklungstests besteht. Und dann stellt man fest, dass es bestimmte Bereiche gibt, die erstaunlich widerstandsfähig sind. Zum Beispiel läuft die Spracherwerb bei diesen Kindern nach anderen Mustern ab, kommt aber letztlich zum selben Ergebnis.

Maywald: Sind von diesen zerebralen Einschränkungen alle frühgeborenen Kinder betroffen?

Bührer: Je unreifer das Kind ist, desto ausgeprägter sind diese Einschränkungen. Jungen sind stärker betroffen als Mädchen. Die Differenz zwischen einem Jungen und einem Mädchen entspricht etwa einer Gestationswoche. Mädchen überleben besser. Und es ist abhängig davon, welche Komplikationen in der intensivmedizinischen Behandlungsphase auftreten. Die stärksten Prädiktoren sind der Grad der Unreife, das Geschlecht sowie Komplikationen während des stationären Aufenthaltes.

Maywald: Wie gehen Eltern mit der Tatsache der Frühgeburt um und welche Unterstützung benötigen sie?

Bührer: Viele Mütter haben Schuldgefühle, weil sie nicht in der Lage waren, ihrem Kind neun Monate lang eine sichere Heimstatt zu bieten. Die Mütter können aber überhaupt nichts dafür. Wir Neonatologen sind auf unseren Stationen immer mehr zu Familienärzten geworden. Wir investieren zeitlich inzwischen fast mehr in die Eltern als in die Kinder. Elternarbeit beginnt bereits vor der Geburt. Wir bilden mit den Eltern eine Art Arbeitsbündnis, denn wenn ein Kind drei Monate zu früh zur Welt kommt, dann sind wir drei Monate lang nicht nur mit diesem Kind zusammen, sondern auch mit seiner Familie. Auf unseren Stationen gehen die Eltern ein und aus. Sie kommen jeden Tag dorthin, sie kennen alles. Und wenn sie nicht jeden Tag da sind, dann sind es wir, die nervös werden. Die Familienarbeit lohnt sich, denn wenn man sie gut macht, ist die Entlassung nach Hause viel einfacher.

Maywald: Auf welche Weise kann das Bonding, also der Bindungsaufbau direkt nach der Geburt, ermöglicht werden?

Bührer: Das ist eine ganz wichtige Sache. Ein Frühgeborenes ist noch ganz hilflos, braucht Schläuche und Überwachungsgeräte. Sobald die physiologische Stabilität es erlaubt, wird das Kind den Eltern auf die Brust gegeben, das sogenannte Känguruhen. Damit dies alles gut funktioniert, braucht man viel Erfahrung, ausreichend Personal und gute Überwachungsgeräte. Wir sind sehr aktiv darin, Eltern zu ermutigen, das auch zu machen. Manche Eltern haben Angst und wagen kaum das Kind anzufassen. Der erste, der auf die Station kommt, ist übrigens meistens der Vater, weil die Mutter ja oft einen Kaiserschnitt hatte. Wir ermutigen den Vater, sein Kind anzufassen. Er ist dann oft derjenige, der ein Foto von seinem Kind macht und es der Mutter bringt. Und der Vater kann helfen, die Mutter nach ihrem Kaiserschnitt in einem Rollstuhl auf die Station zu bringen, solange sie noch nicht laufen kann.

Maywald: Auf welche Weise kann das Bonding, also der Bindungsaufbau direkt nach der Geburt, ermöglicht werden?

Bührer: Das ist eine ganz wichtige Sache. Ein Frühgeborenes ist noch ganz hilflos, braucht Schläuche und Überwachungsgeräte. Sobald die physiologische Stabilität es erlaubt, wird das Kind den Eltern auf die Brust gegeben, das sogenannte Känguruhen. Damit dies alles gut funktioniert, braucht man viel Erfahrung, ausreichend Personal und gute Überwachungsgeräte. Wir sind sehr aktiv darin, Eltern zu ermutigen, das auch zu machen. Manche Eltern haben Angst und wagen kaum das Kind anzufassen. Der erste, der auf die Station kommt, ist übrigens meistens der Vater, weil die Mutter ja oft einen Kaiserschnitt hatte. Wir ermutigen den Vater, sein Kind anzufassen. Er ist dann oft derjenige, der ein Foto von seinem Kind macht und es der Mutter bringt. Und der Vater kann helfen, die Mutter nach ihrem Kaiserschnitt in einem Rollstuhl auf die Station zu bringen, solange sie noch nicht laufen kann.

Maywald: Es ist nahe liegend, dass die Eltern weitere Unterstützung benötigen, wenn das Kind nach Hause entlassen wird. Welche Möglichkeiten gibt es hier?

Bührer: Das Wichtigste ist, dass die Eltern während des stationären Aufenthaltes all das gelernt haben, was sie hinterher brauchen. Wir haben die Möglichkeit des Rooming-in, das heißt die Eltern sind mit auf der Station. Sie versorgen ihr Kind oder sind bei der Versorgung ihres Kindes dabei und wachsen in diese Aufgabe hinein. Frühgeburt bedeutet ja auch, dass nicht nur dem Kind zwei bis drei Monate Vorbereitungszeit fehlen, sondern auch den Eltern. Gerade wenn es das erste Kind ist, sind zwei bis drei Monate Zeit ziemlich viel. In den letzten drei Monaten der Schwangerschaft passiert bei den Eltern auch seelisch sehr viel. Und das muss man nachholen. Das machen sie mit uns an ihrer Seite. Die Eltern sind sehr dankbar dafür, dass sie von den Kinderkrankenschwestern viele Tricks lernen können. Es gibt die Möglichkeit, diese Hilfe über den Entlassungszeitpunkt hinaus fortzusetzen. Die Rahmenbedingungen sind in § 43 SGB V festgelegt, der eine familienzentrierte Nachsorge erlaubt. Wir und viele andere versuchen das aufzubauen. Es macht Sinn, dass die Nachsorge von demjenigen angeboten wird, der auch das Kind im Krankenhaus versorgt. Denn das Wichtigste ist, Brüche zu vermeiden. Weiterhin gibt es den gesetzlichen Auftrag zur Nachuntersuchung dieser Kinder. Das machen unsere Kollegen im sozialpädiatrischen Zentrum. Wir versuchen, dies alles als ein Kontinuum anzubieten.

Maywald: Auch wenn Frühgeburten nicht verhindert werden können, gibt es gewisse Möglichkeiten, sie hinauszuzögern. Wäre es nicht sinnvoll, hier mehr zu investieren?

Bührer: Das gelingt ja bereits. Es gelingt, die Wehen zu bremsen und die zu frühe Geburt zumindest um zwei, drei Tage hinauszuzögern. Das ist genau die Zeit, die benötigt wird, um eine Mutter in ein Perinatalzentrum zu bringen. Aber wenn die Plazenta ihren Job nicht mehr erfüllen kann, dann muss man das Kind holen, sonst stirbt das Kinder und vielleicht auch die Mutter. Wenn eine Infektion wütet, kann man diese zwar supprimieren, indem die Mutter Antibiotika bekommt, aber nicht eradizieren. Jahrzehntelang hat man geglaubt, man könne die Frühgeburtlichkeit verhindern. Mittlerweile weiß man, dass das nicht geht und dass das auch gar nicht sinnvoll ist, weil hinter den Frühgeburtlichkeitsbestrebungen eine Pathologie steckt wie zum Beispiel eine Infektion oder eine Plazentainsuffizienz. Diese Pathologie muss man angehen.

Maywald: Nicht immer gelingt es, ein Frühgeborenes in ein langes Leben zu begleiten. Manche Kinder sterben vor oder bald nach ihrer Geburt. Nach geltender Gesetzeslage besteht jedoch erst bei Kindern mit einem Geburtsgewicht ab 500 Gramm die Möglichkeit der Registrierung in den Personenstandsregistern. Eine von Eltern gegründete Initiative fordert nun in einer Petition den Gesetzgeber auf, diese Frist aufzuheben, um alle geborenen Kinder in das Personenstandsregister einzutragen. Damit verbunden wäre das Recht der Eltern, ihre Kinder in einem eigenen Grab bestatten zu lassen, um auf diese Weise den Trauerprozess zu erleichtern. Unterstützen Sie diese Initiative?

Bührer: Wir erleben häufig, dass Eltern, deren Kind vor vielen Jahren im Zusammenhang mit einer Frühgeburt verstorben ist und dann anonym bestattet wurde, uns fragen: Wie kann ich herausbekommen, wo mein Kind bestattet ist? Ein Kind, auch wenn es vor der Geburt verstorben ist, lebt in der Seele seiner Mutter und wahrscheinlich auch in der Seele seines Vaters weiter, so lange diese Person lebt. Wir haben ja auch Frühgeborene, die 350 oder 400 Gramm wiegen und überleben. Und wenn ein Kind im Prinzip überleben kann, dann muss man auch akzeptieren, dass dies ein Mensch ist, der eine Bedeutung hat. Ich finde es sehr wichtig, dass eine Option besteht, diese Kinder einzutragen. Wenn ein so kleines Kind auf die Welt kommt und dann stirbt, gibt es manchmal Mütter, die sagen, ich will das Kind gar nicht sehen. Wir nötigen sie geradezu dazu, das Kind zu sehen, es zu spüren, es in den Arm zu nehmen und in Ruhe von diesem Kind Abschied zu nehmen. Das Kind ist kein Monster. Das ist ein Mensch, der aus irgendeinem Grund zu früh auf die Welt kam und so klein war, dass er nicht längere Zeit leben konnte.

Maywald: Die intensivmedizinische Versorgung von Frühgeborenen erfordert viel spezielles Know-how und Erfahrung. Zahlreiche Ärzte und Teile der Politik fordern nun, so genannte Mindestmengen einzuführen. Dies würde bedeuten, dass ein Krankenhaus nur dann Frühgeborene versorgen darf, wenn eine bestimmte jährliche Mindestfallzahl erreicht wird. Dagegen wird argumentiert, dass eine solche Konzentration auf große Perinatalzentren eine flächendeckende Versorgung gefährden würde und für viele Eltern mit langen Anfahrtswegen verbunden wäre. Was ist Ihre Meinung in dieser Frage?

Bührer: Hier hilft ein Blick nach Finnland oder Schweden. Finnland ist ein Land mit der Fläche Deutschlands, aber mit nur fünf Millionen Einwohnern. Dort gibt es fünf Perinatalzentren. Obwohl dieses Land so riesengroß ist, kommen fast alle kleinen Frühgeborenen in diesen fünf Perinatalzentren zur Welt. Es gibt kein Land, das so gute Zahlen hat wie Finnland. Die kritische Phase im Leben von Frühgeborenen ist die erste Woche. In dieser Woche kann es zu Hirnblutungen kommen, oder eben auch nicht. Damit ein Team im Training ist, sollte eigentlich jede Woche ein solches Frühchen bei ihnen auf Station sein. Bei 52 Wochen im Jahr kommt man dann auf eine Zahl von etwas mehr als 50 Frühgeborenen unter 1.500 Gramm pro Jahr, die ein solches Team betreuen sollte. In Deutschland kommen jährlich ca 7.000 Frühgeborene unter 1.500 Gramm zur Welt. Wenn man bei uns ein solches System flächendeckend durchsetzen würde, könnten etwa 100 Frühgeborene pro Jahr mehr überleben. Der Grund, warum es Widerstand gibt, diese Regeln zu implementieren, besteht darin, dass diese Kinder, wenn sie erst einmal auf Station sind, natürlich dort lange sind und ein Krankenhaus für ein Frühgeborenes relativ viel Geld bekommt. Die Versuchung ist riesengroß, darüber andere defizitäre Bereiche der Kindermedizin zu subventionieren.

Maywald: Dagegen wird argumentiert, dass sich durch eine Konzentration auf wenige Perinatalzentren die Anfahrtswege für die Eltern verlängern.

Bührer: Die Anfahrtswege würden sich im Durchschnitt um sechs Kilometer verlängern. Das fällt nicht ins Gewicht. Dabei geht es um so viel. Es geht darum, wie diese Kinder überleben.

Maywald: Welche Botschaft ergibt sich hieraus an die Politik?

Bührer: Die Botschaft an die Politik ist, ernst zu machen mit den Mindestmengen. Das würde nicht nur vielen Frühgeborenen das Leben retten, sondern auch dafür sorgen, dass diese Kinder besser überleben. Es ist ganz klar zu erkennen, dass alle Argumente gegen Mindestmengen einen ökonomischen Grund haben und nicht vom Kind her begründet sind. Man sollte sich nicht scheuen, Lehren aus anderen Ländern zu ziehen. Denn was die neonatale Sterblichkeit angeht, sind wir im OECD-Vergleich richtig schlecht. Wir gehören zum letzten Drittel.

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