fK 1/10 Brisch

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Bindung und Frühgeburt

von Karl Heinz Brisch

Immer mehr Eltern und ihre Kinder sind heute schon vor der geplanten Geburt damit konfrontiert, dass Schwangerschaft und Geburt keinen natürlichen Verlauf nehmen können. Das abrupte Ende einer Schwangerschaft durch die Geburt eines sehr kleinen Frühgeborenen, manchmal schon in der 24. Schwangerschaftswoche oder sogar noch früher, bedeutet für viele Eltern ein psychisches Trauma.

Die Eltern sind oft in einem Schockzustand, überwältigt von Schuld- und Versagensgefühlen, haben Selbstwertzweifel und leiden unter depressiven Verstimmungen. Diese werden durch auftretende Komplikationen während der neonatologischen Behandlungszeit noch verstärkt, wenn die Eltern um das Überleben ihres sehr kleinen Kindes bangen, das bei Geburt nicht selten weniger als 1.000 Gramm wiegt. Außerdem erleben sich die Eltern auch bei der großzügigen Rund-um-die-Uhr-Besuchszeit der Universitäts-Kinderklink von ihrem Kind oftmals getrennt, weil sie mit dem Kind im Inkubator oder auf ihrem Arm nicht so ungehindert Kontakt aufnehmen können, besonders wenn das Kind beatmet wird oder an neonatologischen Komplikationen erkrankt ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die gesamte Hightech-Atmosphäre der neonatalen Intensivstation auf die Eltern beängstigend wirkt und das Vertrauen in ihre elterlichen Kompetenzen erheblich erschüttert.

Bereits vor vielen Jahren haben Kliniker die dringend notwendige psychotherapeutische Betreuung dieser Eltern empfohlen. Diese Empfehlung wurde aber bis heute in der Neonatologie im deutschsprachigen Raum nicht ausreichend und umfassend realisiert. In den USA dagegen wurden seit ca. 1980 verschiedene Interventionsstudien mit unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen durchgeführt, die teilweise das Frühgeborene selbst, seine Eltern oder gleichzeitig sowohl Eltern als auch Frühgeborenes zum Ziel der Intervention hatten.

Lebenswichtige Bedürfnisse eines Säuglings
Es gibt einige grundlegende Bedürfnisse, die unbedingt erfüllt sein müssen, damit sich Säuglinge gut entwickeln können.

Physiologische Bedürfnisse
Damit Säuglinge gesund aufwachsen können, müssen einige physiologische Grundbedürfnisse befriedigt werden. Hierzu gehören ausreichend Nahrung und genug zum Trinken, aber auch ausreichend Schlaf, ein Dach über dem Kopf sowie frische Luft zum Atmen. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist so grundlegend, dass auf sie in gar keiner Weise verzichtet werden kann. Sobald die Luft zum Atmen fehlt oder die richtige Ernährung oder auch der Schlaf, geraten Säuglinge bzw. Menschen im Allgemeinen in einen zunehmend stressvolleren Erregungszustand, der schließlich zu entsprechenden Symptomen führt. Im schlimmsten Fall sterben wir Menschen, wenn wir diese physiologischen Bedürfnisse nicht in ausreichender Weise befriedigen können.

Das Bindungsbedürfnis
Von Geburt an bringt der Säugling ein genetisch bedingtes Bedürfnis mit, sich an eine Person zu binden, die größer, weiser, klüger ist und ihm Schutz und Sicherheit gewähren kann. Dieses Bedürfnis ist in der Evolutionsgeschichte offensichtlich schon sehr früh angelegt worden, denn wir finden es selbst bei Vögeln, sowie bei allen Säugetieren und natürlich auch bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Wichtig ist, dass dieses Bedürfnis ein grundlegendes Bedürfnis ist und dem Überleben dient. Das Bedürfnis selbst muss aber nicht durch die Elternpersonen befriedigt werden. Der Säugling orientiert sich nach der Geburt an anderen Menschen und sucht seine Bindungsperson, die ihm diesen Schutz zur Verfügung stellen kann. Diese müssen nicht seine biologisch mit ihm ver- wandten Eltern sein. In der Regel werden die Eltern zwar oft die Bindungsperson des Kindes, aber es könnten auch Pflegeeltern, Adoptiveltern oder Erzieherinnen in einer Heimeinrichtung sein.

Der neugierige Erkundungsdrang
Säuglinge und Menschenkinder insgesamt sind von Natur aus sehr neugierig. Sie sind kleine Welterkunder. Ihr Interesse an den kleinen Dingen sowie an allem, was sie entdecken und beobachten können, ist schier unstillbar. Daher ist es absolut notwendig, dass die Bindungspersonen dem Säugling auch entsprechende Möglichkeiten zur Erkundung der Welt anbieten und ihn nicht in einem Raum ohne Anregungen einsperren oder ihn nur in sein Bettchen legen. Die Möglichkeiten zur Erkundung, zum Beispiel im Spiel – am liebsten gemeinsam mit den Bindungspersonen –, ist ein absolut überlebenswichtiges Bedürfnis des Kindes. Kinder können besonders gut erkunden und sich auf Neues einlassen, wenn sie sich in ihrem Bindungsbedürfnis sicher fühlen. Ohne sichere Bindungserfahrung ist die Fähigkeit zur Erkundung der Welt sehr eingeschränkt oder gar nicht möglich. Solange die Kinder Angst haben, weil sie keine Sicherheit und kein Urvertrauen entwickeln konnten, ist ihre Neugier gehemmt, obwohl sie grundlegend vorhanden ist.

Wahrnehmung mit allen Sinnesorganen
Säuglinge wollen fühlen, riechen, schmecken, hören, sehen, und zwar mit allen ihren Sinnen. Sie wollen die Welt möglichst umfassend erleben, deswegen müssen sie neue Spielzeuge sehen, sie betasten und sie sowohl beschnuppern als auch länger an ihnen riechen, sie belecken, in den Mund nehmen. Sie wollen auf ihnen herumbeißen, manchmal besteht die Gefahr, dass sie diese sogar hinunterschlucken wollen. Wenn Kinder älter werden, wollen sie auch Gefühle aus ihrer Innenwelt, die sie wahrnehmen, benennen; sie sprechen etwa über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und nehmen ihre Darmbewegungen wahr; schließlich können sie unterscheiden, wann sie einen solch großen Drang verspüren, dass sie zur Toilette gehen müssen. Kinder, die von solchen Wahrnehmungen abgeschnitten sind, können nicht gesund aufwachsen, ihre Sinne verkümmern in jeder Hinsicht. Für bestimmte Fertigkeiten wie etwa das Erlernen der Lautsprache und das spezifische Hören gibt es bestimmte kritische Zeitfenster, in denen diese ganz besonders angeregt werden müssen. Geschieht dies nicht innerhalb des Zeitfensters, entwickeln sich die entsprechenden Nervenzellen im Gehirn und deren Fähigkeit nicht ausreichend, verzögert oder gar nicht.

Selbstwirksamkeit
Alle Kinder möchten selbstwirksam sein. Dies bedeutet, dass sie Aktivitäten „alleine“, also selbständig, durchführen möchten. Dabei ist es ganz wichtig, dass sie das Gefühl erleben, etwas selbst bewirkt und auf den Weg gebracht zu haben. Den letzten Bauklotz beim Turmbau selbst an der Turmspitze hinzugefügt zu haben und voller Stolz auf das gelungene Werk zu schauen, den Stolz und das Strahlen im Glanz der Augen der Mutter oder des Vaters zu sehen, ist für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls von ganz großer Bedeutung.

Vermeidung von unangenehmen Reizen
Schon ungeborene Babys in der Gebärmutter schützen sich gegen unangenehme Reize, etwa gegen große Lautstärken oder auch unangenehme Geschmacksstoffe, die man ihnen experimentell anbietet. Sind Säuglinge erst einmal geboren, so wird dies zu einem ganz wichtigen Schutz- und Lebensprinzip. Unangenehme Reize wie Geräusche, Kälte, aber auch zu große Wärme oder jegliche Art von Schmerz führen zu heftigen Abwehrbewegungen, indem Kinder sich wegwenden, weglaufen, weinen, protestieren, laut demonstrativ toben oder auch nur einfach sehr klar den Kopf abwenden, sich die Ohren zuhalten oder den Körper wegdrehen, um sich zu schützen. Manchmal können Schmerzreize, wie etwa der Nadelpieks beim Impfen, nicht verhindert werden, weil die Eltern ihr Kind etwa zum Schutz vor Kinderkrankheiten impfen lassen. Unter diesen Umständen ist es notwendig, dass eine Mutter bzw. eine Bindungsperson da ist, die das Kind mit Körperkontakt über seinen Schmerz hinwegtröstet und ihm hilft, den Schmerz zu bewältigen.

Dies trifft auch dann zu, wenn Kinder unbeabsichtigt Schmerzen erleiden, wenn sie etwa hinfallen, sich den Kopf anschlagen. Auch in solchen Situationen braucht es eine Bindungsperson, die das Kind mit Körperkontakt tröstet, weil eine solche Erfahrung von Schmerz sehr unangenehm ist und einen großen Stress für das Kind darstellt.

Voraussetzungen für ein gutes Leben
Alle diese grundlegenden, überlebenswichtigen Bedürfnisse sind für die Entwicklung von Säuglingen ganz entscheidend. Sie sind so grundlegend, dass ihre Erfüllung für Menschen aller Altersstufen überlebenswichtig ist. Die gleichen Prinzipien gelten also genauso für die Eltern. Dabei sind die physiologischen Bedürfnisse und auch Bindung und Erkundung grundlegend. Auf sie bzw. darauf, dass sie erfüllt werden, kann man nicht sehr lange verzichten, ohne Stress- bzw. verschiedene Krankheitssymptome zu entwickeln.

Eine zeitlich begrenzte Einschränkung der Selbstwirksamkeit und auch von sensorischen Reizen ist eher zu verkraften, führt auf lange Sicht aber ebenso zu Symptomen, wie wir bei Kindern, die unter Vernachlässigung aufwachsen, sehr deutlich sehen. Alle diese überlebenswichtigen Bedürfnisse – und dass sie befriedigt werden – sind auch die Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich in Beziehungen auf andere einzulassen, mit anderen zusammenzuleben und sich mit ihnen zu verständigen. Wenn die Erfüllung dieser grundlegenden Bedürfnisse einem Säugling sehr früh versagt wird, entwickelt er die Fähigkeit, sich auf Beziehung einzulassen, nicht in ausreichendem Maße. Er wird zeitlebens große Schwierigkeiten haben im Kontakt sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit späteren Lebenspartnern und auch dabei, diese überlebenswichtigen Bedürfnisse bei eigenen Kindern gut zu erkennen und zu befriedigen.

Viele dieser Voraussetzungen für die gesunde Entwicklung eines Säuglings sind bei sehr kleinen Frühgeborenen so nicht gegeben. Aus diesem Grund benötigen die Eltern eine Unterstützung schon während der Zeit, wenn ihr Kind noch in der Neonatologie versorgt wird. Ein solches Pogramm wird im Folgenden vorgestellt.

Präventives psychotherapeutisches Angebot
An der Universität Ulm wurde von uns mit Vätern und Müttern gezielt eine psychotherapeutische Kriseninterventionen durchgeführt, noch während ihre Kinder in der Intensivstation behandelt wurden. Es zeigte sich, dass durch das Erlebnis der Frühgeburt unverarbeitete Trennungs- und Verlusttraumata aus der Lebensgeschichte der Eltern reaktiviert werden können und die Eltern bei der Verarbeitung dieser Konflikte dringend eine psychotherapeutische Hilfestellung benötigen. Andernfalls kann nach unserer Erfahrung der Aufbau einer befriedigenden Eltern-Kind-Interaktion und Bindung langfristig beeinträchtigt werden.

Vor diesem klinischen Hintergrund entwickelte die Arbeitsgruppe ein Programm der psychotherapeutischen Betreuung für diese Eltern. Aus Präventionsgründen wurde allen Eltern unmittelbar nach der Frühgeburt eines sehr kleinen Kindes unsere Hilfestellung angeboten. Wir warteten nicht, bis wir zur Krisenbehandlung von den Neonatologen bei drohender oder bereits erfolgter psychischer Dekompensation der Eltern gerufen werden.

Es war das Ziel, die Mütter und auch Väter von sehr kleinen Frühgeborenen (= 1.500 Gramm) in ihren Bewältigungsprozessen zu unterstützen und den Aufbau einer Eltern-Kind-Bindung positiv zu beeinflussen, um auf diese Weise langfristig die körperliche, kognitive sowie emotionale Entwicklung der Risikokinder zu verbessern.

Das Ulmer Modell der Elternbetreuung umfasste die Teilnahme der Eltern an einer psychotherapeutisch geleiteten Elterngruppe, einsichtsorientierte Einzelgespräche und einen Hausbesuch bei den Familien unmittelbar nach der Entlassung des Kindes sowie die Durchführung eines Video-Feinfühligkeitstrainings für die Mutter/Vater-Kind-Interaktion.

Psychotherapeutisch geleitete Elterngruppe
An der Elterngruppe nahmen die Eltern der Interventionsgruppe, ein/e Psychotherapeut/in und eine Kinderkrankenschwester der Neonatologiestation teil. Der Fokus der Gruppenintervention lag auf den Bewältigungsprozessen der Eltern. Hier hatten diese die Möglichkeit, sich in der akuten Krisensituation emotional zu entlasten und mit anderen Eltern auszutauschen. Die gruppenpsychotherapeutische Bearbeitung der Themen fand mit Schwerpunkt im „Hier und Jetzt” statt, d. h. es wurden aktuelle Probleme wie z. B. Tod eines Zwillings, bevorstehende Operationen, Entlassung realitätsnah besprochen.

Einzelpsychotherapie
In der Einzelpsychotherapie mit der Mutter bzw. dem Vater wurden Erinnerungen der Eltern aus ihrer eigenen Biographie bearbeitet, die durch die Frühgeburt mit vielen Gefühlen wieder auftauchten. Durch die individuelle Psychotherapie, speziell von reaktivierten Trennungs- und Verlusterlebnissen, soll die Reflexionsfähigkeit der Eltern über diese Erlebnisse und ihre aktuelle Bedeutung für die Beziehungsaufnahme zu ihrem Frühgeborenen verbessert werden. Auf diese Weise sollte die Projektion von reaktivierten Gefühlen und verzerrten Wahrnehmungen auf das Frühgeborene bewusst und einer psychotherapeutischen Verarbeitung zugänglich werden, da diese Projektionen zu einer Störung in der Beziehung der Mutter zu ihrem Frühgeborenen führen können. Die Eltern nahmen an der Gruppe und den Einzelgesprächen in der Regel vom Zeitpunkt nach der Frühgeburt bis zur Entlassung ihres Kindes aus der Klinik teil.

Hausbesuch
Da die Frühgeborenen in die häusliche Pflege entlassen werden, sobald dies ihr Gesundheitszustand erlaubt, sind erfahrungsgemäß die ersten Wochen für die Eltern allein zu Hause erneut sehr belastend. Die Kinder wurden teilweise mit Sauerstoffversorgung und Überwachung den Eltern nach entsprechender Anleitung zur weiteren Pflege übergeben. Zur Förderung der Eltern-Kind-Bindung war eine frühe Entlassung sehr zu begrüßen, bedeutet jedoch für die Eltern auch eine große Verantwortung. Aus diesem Grunde wurde die Familie in den ersten zwei Wochen nach der Entlassung zu Hause von einer Projektmitarbeiterin und einer Intensivkinderkrankenschwester besucht. Während dieses Hausbesuchs konnten nochmals Informationen über die eventuell zur Entlassung mitgegebenen medizinischen Geräte vermittelt werden. Ein weiteres Ziel dieser Intervention war die Verbesserung der elterlichen Selbstkompetenz und die Stärkung ihres Selbstvertrauens gerade in dieser Situation, wenn die Eltern alle Verantwortung für ihr Kind erstmals allein trugen. Es konnte erneut auch auf Ängste und Fragen zur Pflege und zum Umgang mit dem Frühgeborenen eingegangen werden.

Feinfühligkeitstraining
Vielen Eltern fiel es schwer, die Signale ihres Kindes zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren, da Frühgeborene z. B. langsamer reagieren als Reifgeborene und die Interpretation ihres Verhaltens den Eltern besondere Schwierigkeiten bereiten kann. Die Eltern müssen daher immer wieder angeleitet werden, sich mit ihrem Frühgeborenen viel Zeit zu lassen. Die Bedeutung des feinfühligen Erkennens der kindlichen Signale durch die Eltern für eine sichere emotionale Bindungsentwicklung von Reifgeborenen ist bekannt. Aus diesem Grunde wurde den Eltern ein spezielles Feinfühligkeitstraining angeboten. Wenn die Kinder drei Monate alt waren (um die Frühgeburtlichkeit korrigiert), wurde eine Wickel- und Spielsituation mit der Mutter auf Video aufgezeichnet. Diese Aufnahme wurde anschließend im Sinne eines „Video-Feedbacks” mit der Mutter bzw. mit dem Vater gemeinsam besprochen. Auf diese Weise sollte die elterliche Wahrnehmung für die kindlichen Signale verbessert werden, um eine bessere Feinabstimmung in der Interaktion zwischen Eltern und Frühgeborenen zu erreichen.

Effekt der Intervention
Die als besonders unterstützend erlebten Bereiche für die Mütter waren:
– Auseinandersetzung mit der Ungewissheit zur Zeit der stationären Behandlung des Kindes;
– Verbesserung der Beziehung zum Ärzte- und Pflegeteam;
– Vertrauen in die Entwicklung des Kindes;
– Beschäftigung mit der emotionalen Belastung durch die Frühgeburt.

Für die Väter fanden sich ähnliche Angaben, allerdings mit einem zusätzlichen Schwerpunkt auf der Partnerbeziehung (siehe dritter Punkt):
– Auseinandersetzung mit der Ungewissheit zur Zeit der stationären Behandlung des Kindes;
– Verbesserung der Beziehung zum Ärzte- und Pflegeteam;
– Unterstützung des Partners in der Bewältigung der Frühgeburt;
– Vertrauen in die Entwicklung des Kindes.

Die Intervention hatte zum Ziel, gerade die Väter dahingehend zu entlasten und zu unterstützen, dass sie in die Lage versetzt werden, ihre Partner emotional zu begleiten und sich aufgrund der erlebten Forderung und Überforderung nicht aus der Partnerschaft zurückzuziehen. In der Pilotphase wurde von den Müttern immer wieder berichtet, dass die Väter sich zwar einerseits primär sehr engagiert um ihr Frühgeborenes sorgen und viel Zeit am Inkubator mit dem Kind verbringen würden, andererseits aber die Mütter sich von ihren Partnern vernachlässigt fühlten, obwohl sie selbst manchmal auch noch in einem lebensbedrohlichen Zustand auf der Intensivstation behandelt wurden.

Das Ergebnis, dass die Väter sich an dritter Stelle durch die Intervention entlastet fühlten, um ihrem Partner bei der Bewältigung der Frühgeburt eine Unterstützung anzubieten, deutet in die Richtung, dass dieses Ziel für die Väter auch erreicht wurde. Dieses Ergebnis korrespondiert mit der klinischen Beobachtung, dass besonders die Väter als erste Bezugspersonen noch vor den Müttern mit ihren sehr kleinen Frühgeborenen Kontakt aufnehmen. Sie sind in der Beziehungsgestaltung sehr aktiv und unterstützen oft die Mütter sowohl in der Bewältigung des Geburtstraumas als auch konkret in der Kontaktaufnahme mit dem Frühgeborenen. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, den Vätern für präventive Angebote unsere besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da sie manchmal sowohl um das Leben ihres Kindes als auch um das Überleben der Mutter und Partnerin bangen müssen.

Frühgeburt und Bindung
Selbst Mütter und Väter mit einer sicheren Bindungsrepräsentation und einer feinfühligen Verhaltensweise ihrem Frühgeborenen gegenüber sind durch die Belastungen der Entwicklungsverzögerungen und in etwa 30 Prozent der Fälle auch durch beeinträchtigende Behinderungen ihres Kindes überfordert und können offenbar eine sichere Bindungsentwicklung nicht herbeiführen. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass eine Beeinträchtigung in der neurologischen Entwicklung mit Behinderung signifikant häufiger mit einer unsicheren Bindungsentwicklung des Kindes zusammenhängt, dagegen Kinder mit einer gesunden neurologischen Entwicklung eher eine sichere Bindungsentwicklung zeigen. Dieses Ergebnis könnte dafür sprechen, dass bei Risikokindern die Bindungsentwicklung nicht nur oder nicht vorrangig durch die Feinfühligkeit der Eltern beeinflusst wird, sondern gerade die neurologischen zerebralen Faktoren eine Rolle spielen. Weiterhin wäre es denkbar, dass auch Eltern mit einer sicheren Bindungsrepräsentation ihr Potential an feinfühligen Verhaltensweisen gegenüber ihrem Kind nicht so voll entfalten könnten, weil sie durch die Frühgeburt und die nachfolgenden Belastungen wegen der drohenden Entwicklungsdefizite traumatisiert sind.

Es kann erwartet werden, dass auch durch feinfühlige, individuelle Pflege des Frühgeborenen, wie sie etwa in dem Programm NIDCAP von Heideliese Als verwirklicht werden, sowohl die körperliche, als auch die psychische Entwicklung der Frühgeborenen besser gelingt. Leider wird dieses Programm trotz der nachgewiesenen Effekte für eine bessere körperliche Entwicklung der Frühgeborenen nur in einzelnen Kliniken eingesetzt. Mehr Kliniken haben aber einzelne Grundprinzipien von NIDCAP schon aufgegriffen und setzen diese als „entwicklungsfördernde Pflege“ ein.

Ausblick: Notwendigkeit einer Psycho-Neonatologie
Die Erfolge der Neonatologie im Hinblick auf die Mortalität und Morbidität immer kleinerer Frühgeborener sind beeindruckend. In Zukunft wird es dringend notwendig sein, durch psychotherapeutische Interventionen auch die Entwicklungschancen dieser sehr kleinen Frühgeborenen im Hinblick auf die Eltern-Kind-Beziehung und ihre emotionale Entwicklung schon ganz am Anfang ihres Lebens auch mit psychotherapeutischer Intensivbetreuung zu verbessern.

Es ist heute per Gesetz festgelegt, dass keine Station in der Kinder-Onkolologie ohne ein ausreichend großes psychosoziales Team eröffnet werden darf, das im Sinne der Psychoonkologie arbeitet. Eine ähnlich gesetzlich verankerte Form der Betreuung als Psycho-Neonatologie wäre dringend notwendig. Dann würde es nicht mehr von Sponsoren, Elternverbänden oder den individuellen Entscheidungen von Kliniken oder Stationen abhängen, ob Eltern unmittelbar in der schwierigsten Zeit nach einer Frühgeburt eine entsprechende Hilfe bekämen, sie hätten vielmehr einen gesetzlichen Anspruch hierauf. Dies wäre kein Luxus, sondern würde letztendlich eine emotional sichere Eltern-Kind-Bindung und damit die gesamte gesunde Entwicklung des Frühgeborenen fördern.

PD Dr. Karl Heinz Brisch ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie, Psychosomatische Medizin sowie Nervenarzt und Psychoanalytiker. Er leitet als Oberarzt die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Ludwig-Maximilians-Universität, in München. Er ist Vorsitzender für Deutschland der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit (GAIMH – German-Speaking Association for Infant Mental Health).

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