fK 6/11 Rupprecht

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Die Vielfältigkeit der Menschen ist die wirkliche Normalität“

Prof. Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Marlene Rupprecht MdB, Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages

 

Maywald: : Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat Deutschland sich verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen aufzubauen. Inwiefern können Kinder – mit und ohne Behinderung – von einer solchen Veränderung profitieren?

Rupprecht: : Ein inklusives Bildungssystem setzt an den Stärken der Kinder an: Es fragt zuerst danach, was sie können. Individuelle Förderung aller Kinder bedeutet dabei, die Fachleute zu den Kindern zu bringen und nicht mehr – wie derzeit noch üblich – die Kinder zu den Fachleuten zu transportieren. So kann auch an den Schwächen von Kindern viel intensiver gearbeitet werden, weil das Kind als Individuum betrachtet wird und nicht die Abweichung von der Norm im Mittelpunkt steht.

Maywald: Deutschland gehört zu denjenigen Ländern mit einem besonders selektiven Bildungssystem. Im Durchschnitt sind mehr als 80 Prozent aller Kinder mit Behinderung vom Regelschulsystem ausgeschlossen und werden in Förderschulen unterrichtet. Was sind die historischen und politischen Gründe für diese Entwicklung?

Rupprecht: Historisch hat es sicher damit zu tun, dass man Kinder im Hinblick auf ihre vermeintlichen Defizite gezielt fördern wollte. Es ist allerdings auch nicht von der Hand zu weisen, dass die Selektion in Deutschland auch immer ideologisch mitbegründet ist – am brutalsten zu beobachten am faschistischen Menschenbild mit all seinen schrecklichen Auswirkungen in Pädagogik und Medizin. Ungeachtet dessen gilt es aber auch festzustellen, dass wir bei der Förderung von behinderten Kindern eine hohe Fachlichkeit erworben haben. Allerdings haben wir dabei nicht beachtet, dass wir sie eigentlich damit ausgrenzen vom Aufwachsen mit allen anderen Kindern. Selektion bedeutet generell, dass damit eine Segregation verbunden ist, die die einen für besser oder leistungsfähiger hält als die anderen. Damit werden nachher Ungerechtigkeiten auch ideologisch gerechtfertigt. Es wird also eine Rangordnung nach Privileg oder nach dem gesellschaftlichen Status aufgestellt.

Maywald: Etwa die Hälfte aller Förderschülerinnen und -schüler sind Kinder mit so genannten Lernbehinderungen. Dahinter verbergen sich in der Regel Verhaltensauffälligkeiten wie zum Beispiel Konzentrationsschwächen, Hyperaktivität oder Schulmüdigkeit. Warum bietet unser Regelschulsystem diesen Kindern offensichtlich kein attraktives Angebot?

Rupprecht: Wenn das Verhalten von Kindern nicht der bildungsbürgerlichen Norm entspricht, hat das Regelschulsystem große Schwierigkeiten, angemessen und konstruktiv zu reagieren. Dies hängt damit zusammen, dass unsere Schule für diese Anforderungen nicht strukturiert ist und auch die Lehrkräfte hierfür oft nicht qualifiziert sind.

Maywald: Das deutsche Förderschulsystem ist vergleichsweise gut ausgestattet. Die dort tätigen Lehrkräfte, unterstützt durch sozialpädagogisches und therapeutisches Personal, verfügen über eine Vielzahl spezifischer Kenntnisse. Wie kann es gelingen, das vorhandene Know how für das allgemeine Regelschulsystem nutzbar zu machen?

Rupprecht:Ganz einfach: Indem man die Fachleute zu den Kindern kommen lässt und nicht die Kinder zu den Fachleuten! Man sollte Schule öffnen für das Wissen und Können der Menschen, die sich besondere Kenntnisse erworben haben.

Maywald:Nicht alle Eltern von Kindern mit Behinderungen begrüßen einhellig den Abbau von Sondereinrichtungen und die Einführung eines inklusiven Schulsystems. Viele haben Angst, dass sich dadurch die Qualität der Betreuung für ihre Kinder verschlechtert. Sind diese Sorgen berechtigt?

Rupprecht: Ich halte diese Sorgen für durchaus berechtigt. Jeder Umbau im Schulsystem kann immer auch dazu dienen, ein Sparprogramm daraus zu machen und keine Veränderung, die zuvorderst die Interessen und Belange der Kinder im Fokus hat. Dem kann nur begegnet werden, wenn die Politik klar und transparent zusichert, dass den Kindern, die bisher in einer Fördereinrichtung waren, die bisher gewährte Unterstützung auch zukünftig im Regelschulsystem erhalten wird. Wenn ich ein Kind mit einer bestimmten Schwäche hätte, hätte ich auch Angst, dass es im großen Betrieb untergeht. Dies muss verhindert werden.

Maywald: Auch manche Eltern von Kindern ohne Behinderung befürchten, dass ihre Kinder durch das gemeinsame Lernen Nachteile erleiden könnten, besonders was den Schulerfolg angeht. Was würden Sie diesen Eltern sagen?

Rupprecht: Diese Angst ist vor allem dort verbreitet, wo man davon ausgeht, zur bisherigen Bildungselite zu gehören. Sie ist jedoch unbegründet: Zahlreiche Untersuchungen belegen vielmehr, dass gerade die landläufig „leistungsstark“ genannten Kinder besonders vom gemeinsamen Lernen profitieren, denn heterogene Gruppen sind immer lernaktiver als homogene Gruppen. Auch das „Regelkind“ wird im inklusiven System gefördert werden, um seine Fähigkeiten und Potenziale optimal auszunutzen.

Maywald: Was muss der Gesetzgeber tun, um den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems voranzubringen? Brauchen wir einen individuellen Rechtsanspruch für jedes Kind auf den Besuch einer Regelschule?

Rupprecht: Dieser Rechtsanspruch ist mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention schon gegeben. Da die Bildung der Ländergesetzgebung unterliegt, müssen die Länder diesen Rechtsanspruch auch in der Praxis sicher stellen. Um diesen Anspruch aber auch zu realisieren, ist noch viel Umsetzungsarbeit notwendig: Hier bedarf es noch erheblicher Veränderungen im Denken und in der Mentalität.

Maywald: Ist der schrittweise Umbau unseres Bildungssystems in Richtung Inklusion kostenneutral zu erreichen oder muss hier mit möglicherweise erheblichen Mehrkosten gerechnet werden? Wie sieht eine Kosten-Nutzen-Rechnung in der Gesamtbetrachtung aus?

Rupprecht: Das kann man auf Anhieb nicht sagen. Wenn ich allerdings berücksichtige, was wir allein an Beförderungskosten zu den Fördereinrichtungen und an Bau- und Unterhaltungskosten für unsere „Sonderschulen“ haben, dann ist hier ein erhebliches Einsparungspotenzial vorhanden. Hinzu kommt, dass die große Masse der Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten ohne Probleme oder weitere Umbauten etc. in eine Regelbeschulung inkludiert werden kann, wenn die Fachleute dazugeholt werden. Damit würden einige schulische Angebote sogar günstiger werden, wenn man dies gut und systematisch plant.

Maywald: Bildung ist in Deutschland Sache der Länder. Dies hat zur Folge, dass manche Bundesländer sich aktiv für Inklusion einsetzen, während andere zögerlich sind oder sogar bremsen. Wirkt sich der Bildungsföderalismus Ihrer Ansicht nach als Hemmschuh aus oder spornt die Konkurrenz zwischen den Ländern die Entwicklung sogar an?

Rupprecht: Beide Varianten sind möglich. Der Föderalismus wird einerseits einen „Flickenteppich“ erzeugen, innerhalb dessen einige Länder zunächst mit sehr viel Hemmungen an die Umsetzung der Inklusion herangehen. Es kann aber auch ein Wettbewerb entstehen, wenn Eltern bewusst darauf achten, wo eine inklusive Regelbeschuldung mit guten Fördermöglichkeiten für ihre Kinder angeboten wird. Vor allem, wenn die Inklusion erfolgreich ist, wird früher oder später der Trend dahin gehen, dass die Eltern hier bewusst entscheiden. Dann müssen auch die zögerlichen Länder mitziehen.

Maywald: Inklusion bezieht sich nicht allein auf das Merkmal einer Behinderung. Auch der Einbezug von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion gehört dazu. Bei so viel Heterogenität braucht es einen verbindlichen Kitt, der die Gesellschaft zusammen hält. Welche Werte und Normen können das sein?

Rupprecht: Grundlegend ist zunächst die Wertschätzung für den anderen oder die andere auf der Basis derselben unteilbaren Menschenrechte für alle. Deshalb hat auch jedes Kind Menschenrechte und Grundrechte. Auf dieser Basis sind wir alle gleich und dem Respekt gegenüber den anderen verpflichtet – so kann man auch Unterschiede gut aushalten. Sofern wir diesen Lernprozess erfolgreich absolvieren, können wir Vielfalt und Anderssein auch als Bereicherung einer Gesellschaft empfinden.

Maywald: Die Bereitschaft zur Inklusion erfordert ein Umdenken in der gesamten Gesellschaft. Wie können Menschen davon überzeugt werden, Vielfalt als Stärke zu sehen und Unterschiede auch im eigenen Interesse als Bereicherung zu erfahren?

Rupprecht: Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Mehrheit der Menschen quasi in ihrer ganzen Ausstattung identisch oder zumindest gleich ist. Das ist ja schon in einer Familie nicht der Fall. Wenn jeder Mensch die Talente entwickeln kann, die er besitzt, führt das zu einer deutlichen Bereicherung, weil dadurch auch die gesellschaftlichen Aufgaben mit mehr Vielfalt besser zu bewältigen sind. Nicht zuletzt führt gegenseitige Akzeptanz auch zu mehr Zufriedenheit: Wer glücklich ist, braucht weder Diffamierung noch Aggression, um die eigene Identität von anderen abzugrenzen.

Maywald: Wenn Sie einmal eine Zwischenbilanz ziehen, was hat Deutschland in punkto Inklusion bereits erreicht und worin bestehen in den kommenden Jahren die größten Herausforderungen?

Rupprecht: Alleine der intensive Einstieg in den Diskussionsprozess über das sperrige Thema Inklusion ist schon ein Erfolg. Die unterschiedlichen Akteure sind inzwischen ins Spiel gekommen, von den Parlamenten und Ministerien über Lehrerverbände bis hin zur Wirtschaft und zur Kommunalpolitik. Wir diskutieren derzeit darüber, welche Bereiche die Inklusion betrifft. Die meisten glauben heuten noch, es betreffe nur den Bereich der Behindertenpolitik und die Menschen mit Behinderung. In der Tat geht es aber die ganze Gesellschaft an. Wenn man begriffen hat, dass die Vielfältigkeit der Menschen die wirkliche Normalität ist, können wir auch an eine entsprechende Weiterentwicklung der Menschenrechte gehen, der uns ein hervorragender Ansatz sein wird – und zwar für gegenseitigen Respekt und gegenseitige Akzeptanz in einer globalisierten Welt.

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