fK 6/10 Hurrelmann

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Es geht darum, Jungen und junge Männer aus dem bisherigen Rollengefängnis zu befreien“

Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. em. Dr. Klaus Hurrelmann, Professor an der Universität Bielefeld und Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin

Maywald:Die Erwartungen an Männer und Väter wandeln sich derzeit stark. Welche Orientierungen können heutzutage für Männer gelten?

Hurrelmann: Sowohl bei Männern als auch bei Frauen legt die jeweilige genetische Anlage das Geschlecht in seinem Dispositionsraum fest, ermöglicht aber natürlich erhebliche Einflüsse durch Eigenaktivität und für Umwelt und Erziehungsimpulse. Obwohl die genetische Disposition sicherlich unverändert ist, wird sowohl Weiblichkeit als auch Männlichkeit in unseren heutigen Gesellschaften neu justiert. Ganz offensichtlich haben Jungen und Männer die Möglichkeiten, die in dieser Entwicklung stehen, noch nicht voll erkannt oder werden daran gehindert, sie auszuschöpfen. Die Mädchen und Frauen hingegen sind hier aktiver. Sie haben zu ihren traditionell angestammten Lebensbereichen „Küche, Kirche und Kinder“ schon lange den vierten Lebensbereich „Karriere“ hinzu erobert, also ihre drei traditionellen K’s um ein viertes erweitert, das bisher Domäne der Männer war. Jungen und junge Männer schauen dieser Entwicklung bei ihren Geschlechtsgenossinnen bisher fast wie gelähmt zu. Sie trauen sich nicht, in die traditionell weiblich besetzten Lebensbereiche von Küche, Kirche und Kinder vorzudringen, jedenfalls die meisten von ihnen. Genau diese Mehrfachorientierung, die eine anspruchsvolle Kombination von verschiedenartigen Herausforderungen und Lebensbereichen darstellt, scheint es zu sein, welche für moderne Lebensanforderungen besonders fit machen. Deswegen sollte eine solche Orientierung heute für Jungen und junge Männer gelten, verbunden mit einer Abwendung von der einseitigen Orientierung auf die Karriererolle, die noch am alten orientiert ist, der Mann und sonst keiner sei der Broterwerber einer ganzen Familie.

Maywald: Wer „neue Männer“ beziehungsweise „neue Väter“ will, muss früh anfangen, nämlich bei den Jungen. Brauchen wir eine pädagogische Jungenoffensive?

Hurrelmann: Es geht gewissermaßen darum, schon Jungen und junge Männer aus dem bisherigen soziologischen Rollengefängnis zu befreien und ihnen die Chancen aufzuzeigen, die durch den aktiven Umgang mit Kindern, mit Haushalten und mit Nachbarschafts- und Umweltgestaltung verbunden sind. Junge Männer müssen überzeugt werden, dass sie diese breitere Orientierung benötigen, um die in modernen Gesellschaften immer weiter voranschreitende enge Verzahnung von instrumentell orientiertem Berufsleben und emotional orientiertem Privatleben zu meistern und die Potentiale dieser Synthese auszuschöpfen. Bisher kamen die Männer mit ihrer traditionellen Rollenorientierung recht weit, weil im beruflichen Sektor alle Weichen für das konventionelle „Broterwerbermodell“ gestellt waren. Heute aber sind, auch im Zeichen von internationalem Wettbewerb und gestiegenen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit in den Berufssektoren, flexible Fähigkeiten der Lebensgestaltung und der Verbindung verschiedener Lebensbereiche eine Voraussetzung dafür, aktiv und produktiv zu sein. Die absolute Voraussetzung dafür ist heute eine Investition in den eigenen Bildungserfolg. Und hier fällt uns in allen internationalen Studien auf, wie stark die Jungen und die jungen Männer ins Hintertreffen geraten sind.

Maywald: In Kindertageseinrichtungen und auch in der Grundschule treffen Jungen ganz überwiegend auf weibliches Personal. Inwieweit beeinflusst dies das Verhalten und die Identitätsbildung von Jungen?

Hurrelmann: Von der Erziehung in der Familie an sind sowohl Mädchen als auch Jungen tatsächlich ganz überwiegend von weiblichen Bezugspersonen abhängig und werden von ihnen geprägt. Einen direkten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit scheint das zwar nicht zu haben, aber ich bin mir sicher, wir haben einen indirekten, der über die sozialen Muster und das symbolische Vorbild läuft. Hier fehlen den Jungen die anschaulichen und im wahrsten Sinne des Wortes anfassbaren Beispiele im Erziehungsalltag. Das macht es ihnen wahrscheinlich so schwer, den Sprung in eine neue und flexible Rolle von Männlichkeit zu wagen. Sie beharren auf den historisch überlieferten traditionellen Mustern, weil sie keine direkten Modelle für neue Muster vor sich sehen. Das wirkt sich langfristig auf ihr Engagement im Bildungsbereich aus und beeinträchtigt auch ihre schulischen Leistungen und Bildungserfolge.

Maywald: Der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen ist sicherlich ein Erfolgsmodell. Macht es dennoch Sinn, unter dem generellen Dach der Koedukation bestimmte Angebote nur für Jungen oder Mädchen vorzuhalten?

Hurrelmann: In der pädagogischen Arbeit halte ich insbesondere transparente soziale Spielregeln und explizite Sanktionen für nötig. Nur dadurch können die im Erschließen und Decodieren von sozialen Umgangsformen schlecht aufgestellten Jungen erreicht werden. Außerdem muss ihrem Bedürfnis nach Bewegung und Raumergreifung Rechnung getragen werden, auch über verschiedenartige Formen von körperlicher Tätigkeit. Das geht meiner Ansicht nach so weit, dass auch stereotype männliche Formen von Aggressivität in ihrer Anfangsphase zugelassen werden müssen, so dass sie nicht unterdrückt werden und an anderer Stelle ausbrechen. Ganz wichtig ist auch eine realistische Rückmeldung des Leistungsstandes an die männlichen Schüler, den sie erliegen heute der Gefahr einer Überschätzung ihrer Fähigkeiten. Alles das kann in geschlechtsgemischten pädagogischen Gruppen erfolgen, stößt hier aber auch an Grenzen, vor allem dann, wenn es um die absoluten Schwachpunkte der Entwicklung von Jungen in ihrer formativen Phase der Persönlichkeitsentwicklung geht. Deswegen ist im Vorschul-, Grundschul- und auch weiterführenden Schulbereich unbedingt die Bildung von geschlechtshomogenen Gruppen zu befürworten. Im Schulbereich etwa gilt das besonders für die Förderung von Lese-, Schreib- und Sprachfähigkeiten, bei denen die Jungen in den letzten Jahren stark zurückgefallen sind. Sie sind zwar souveräner, schneller und behänder im Umgang mit elektronischen Medien, einschließlich der Technik von Computern, aber es fehlt ihnen an den analytischen Fähigkeiten, mit den Medieninhalten produktiv umzugehen. Hier sehe ich ein Feld, in dem eine gezielte vorübergehende geschlechtshomogene Arbeit ausprobiert und genau evaluiert werden sollte.

Maywald: In punkto Bildungserfolg werden Jungen zunehmend abgehängt. Die Mehrzahl der Abiturienten ist weiblich. In den Haupt- und Sonderschulen bilden die Jungen eine deutliche Mehrheit. Auch in ehemals männlich dominierten Studiengängen wie zum Beispiel Medizin haben die jungen Frauen inzwischen die Nase vorn. Werden Jungen strukturell benachteiligt?

Hurrelmann: Eine Möglichkeit der strukturellen Benachteiligung in den Bildungssystemen habe ich schon angesprochen. Es ist die implizite Regelsetzung und Sanktionspraxis. Jungen aber brauchen es wegen ihrer Schwächen beim Decodieren von sozialen Umgangsformen explizit. Auch ihre möglicherweise genetisch angelegte schwache Fähigkeit zur Übernahme der Rolle anderer Menschen und das geringe Ausmaß von Selbstkritik fallen auf. Den Bedarf an körperlicher Bewegung und Raumergreifung hatte ich bereits genannt. Werden diese Komponenten des stereotypen männlichen Verhaltens im pädagogischen Raum nicht beachtet, dann kann man von einer strukturellen sozialen Benachteiligung von Jungen und jungen Männern sprechen. Die genannten Komponenten können der Ausgangspunkt für eine pädagogische Beziehungs- und Arbeitskultur sein, die von ihrer ganzen Anlage her den stereotypen weiblichen Verhaltensmöglichkeiten der Netzwerkaktivität und Harmoniesuche entgegenkommt. Wir sollten also damit anfangen, in der Fort- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern und Lehrerinnen und Lehrern auf solche denkbaren strukturellen Benachteiligungen zu achten.

Maywald: Benachteiligungen von Jungen dürfen nicht vergessen machen, dass jedenfalls im Berufsleben weiterhin vor allem Frauen benachteiligt werden, von der schlechteren Bezahlung bis hin zu ihrem geringen Anteil an Führungspositionen. Wie kann eine geschlechtersensible Politik den Ansprüchen beider Geschlechter gerecht werden?

Hurrelmann: Sie sprechen damit den für mich entscheidenden Punkt an. Allem Anschein nach waren wir mit den in den 1970er Jahren eingeleiteten Mädchen- und Frauenförderung per saldo sehr erfolgreich. Vom Kindergarten an wurden die Angehörigen des weiblichen Geschlechtes darin bestärkt, ihre persönlichen Neigungen positiv anzunehmen und sich gleichzeitig aber ihnen fremde Lebensbereiche und Tätigkeiten zu erschließen. Im Bildungsbereich jedenfalls sind die Angehörigen des weiblichen Geschlechtes sehr weit gekommen. Beim Übergang in den Beruf und beim Aufbau einer beruflichen Karriere allerdings ist eine intensive, anhaltende Frauenförderung dringend erforderlich. Die Mädchen- und Frauenförderung muss also bestehen bleiben und intensiv weiterentwickelt werden. Aber parallel dazu brauchen wir eine ebenso starke und nachhaltige Jungen- und Männerförderung. Es ist ein historischer Irrtum, dass wir alle geglaubt haben, das männliche Geschlecht brauche eine geschlechtersensible Förderung nicht, es werde sich schon aus eigener Kraft überall durchsetzen. Heute sehen wir im Bildungsbereich, wie falsch diese Annahme war. Fazit: Zu einer geschlechtersensiblen Politik gehört die gezielte Förderung beider Geschlechter, und zwar jeweils in den Bereichen, in denen sie gegenüber dem anderen Geschlecht im Nachteil sind. Die beiden Förderansätze dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. „Gender mainstreaming“ bedeutet, beiden Geschlechtern in allen wichtigen Lebensbereichen die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen.

Maywald: Zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft gehört auch, dass sich mehr Männer als bisher für pflegerische und pädagogische Berufe entscheiden. Wie kann dies erreicht werden?

Hurrelmann: Ebenso wie Frauen heute darin unterstützt werden müssen, sich auch auf beruflichen Feldern zu bewerben, die noch fest in Männerhand sind, gilt das für Männer spiegelbildlich. Heute sind Erzieher- und Pädagogentätigkeiten fest in der Hand von Frauen. Das allein schreckt viele Männer ab, sich hier zu bewerben. Ich spreche mich deshalb schon seit vielen Jahren dafür aus, neben intensiven Aufklärungs- und Werbekampagnen mit handfesten Anreizen für Bildungseinrichtungen im Vorschulbereich und für Grundschulen zu arbeiten. Warum sollte nicht derjenige Kindergarten einen finanziellen Bonus bekommen, dem es gelingt, einen Mann als Erzieher anzuwerben und zu gewinnen? Ich hätte auch nichts dagegen, übergangsweise mit einer Männerquote nachzuhelfen, um wenigstens einen Anteil von 30 Prozent männlichem professionellem Personal in den Vorschuleinrichtungen und den Grundschulen zu erzielen. Bis dahin sollten von den einzelnen Bildungseinrichtungen in Eigeninitiative so viele männliche Lehrbeauftragte und Mentoren wie möglich auf der Basis von Werkverträgen und Honorarzahlungen eingestellt werden. Halten sich erst einmal wieder mehr Männer in den Bildungseinrichtungen auf, dann kommt Bewegung in die ganze Sache. Meiner Ansicht nach ist die viel zu geringe Bezahlung der Fachkräfte im Vorschulbereich, so ungerecht und unhaltbar sie auch ist, nicht der wirkliche Grund für die Zurückhaltung der Männer, wie oft angenommen wird.

Maywald: Das Elterngeld- und Elternzeitgesetz sieht vor, dass der Anspruch auf die volle Elternzeit von 14 Monaten nur dann besteht, wenn sich beide Eltern diese Zeit aufteilen. In der Praxis läuft dies in den meisten Fällen darauf hinaus, dass Väter die minimal notwendigen zwei Monate in Anspruch nehmen. Sollten diese so genannten „Vätermonate“ zeitlich ausgedehnt werden?

Hurrelmann: Ich war von Anfang an ein Skeptiker der Elterngeldregelung. Sie unterstützt das bei uns seit Jahrzehnten vorherrschende Modell, den Eltern Geld dafür zu geben, dass sie Kinder gebären und Kinder erziehen. Das Geld kommt aber nie gezielt bei den Kindern selbst an, und deswegen haben wir in Deutschland die starke Abhängigkeit des Kindeswohls vom Elternwohl. Die gut betuchten Mütter und Väter nehmen heute das Elterngeld sehr gerne mit, ohne dass sich dadurch viel an ihren Alltagsroutinen und Verhaltensweisen geändert hätte. Ich glaube nicht, dass die zwei Monate Elterngeld für Väter einen großen Mentalitätswandel ausgelöst haben. Deswegen fände ich es völlig falsch, noch mehr Geld in das „Elterngeld“ hineinzustecken. Hier gilt wie für alle anderen Transferleistungen, die heute an Eltern gezahlt werden: Schluss damit und Umleitung des Geldes in die öffentlichen Bildungseinrichtungen. Mehr männliche Erzieher in Kindergärten und mehr männliche Lehrer an Grundschulen, das wäre ein starkes Signal, das auch auf die Väter in den Familien zurückstrahlt.

Maywald: Um sich in modernen Gesellschaften zurechtzufinden, braucht es in hohem Maße Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Flexibilität und Ambiguitätstoleranz. Dies gelingt Mädchen und Frauen offenbar besser als Jungen und Männern. Stehen wir vor einer Geschlechterrevolution?

Hurrelmann: Ich bin ganz sicher: Wenn wir keine auch nur annähernd so ernsthafte, intensive und nachhaltige Förderung für Jungen und junge Männer im Bildungsbereich starten, dann werden sich die Vorsprünge der Mädchen und jungen Frauen hier weiterentwickeln. Es ist dann eine Frage der Zeit, bis nicht nur in den Hochschulen, sondern auch beim Berufseintritt die jungen Männer den Kürzeren ziehen. Das wäre in der Tat eine Geschlechterrevolution, eine Umkehr des ja wohl jahrhundertealten Trends der Dominanz von Männern im öffentlichen Leben von Wirtschaft und Politik.

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