fK 6/09 Schmidt

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Grußwort

von Renate Schmidt, Bundesfamilienministerin a. D.

Sehr geehrte Damen und Herren,

so lange ich mich für Familienpolitik und Gleichstellungspolitik eingesetzt habe und dies begann als Politikerin vor drei Jahrzehnten, solange trete ich dafür ein, dass beides eigenständige Politikbereiche sind und weder Familien- Anhängsel von Gleichstellungspolitik noch umgedreht Gleichstellungspolitik Anhängsel von Familienpolitik ist.

Im Mittelpunkt von Gleichstellungspolitik steht die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, unabhängig davon, ob sie Mütter oder Väter sind oder nicht. Im Mittelpunkt von Familienpolitik stehen zuerst die Interessen von Kindern und an zweiter Stelle die ihrer Eltern. Natürlich gibt es Schnittmengen zwischen Familien- und Gleichstellungspolitik, aber die gibt es auch zwischen Familien- und Bildungs- oder Steuerpolitik und vielem mehr, ohne dass Familienpolitik auf irgendeines der genannten Themen reduziert werden dürfte. Deshalb bedanke ich mich als Familienpolitikerin ausdrücklich bei der Deutschen Liga für das Kind, dass sie die Interessen der Kinder in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. Ihr Slogan: „Für die Jüngsten das Beste“ sollte Maxime allen politischen und gesellschaftlichen Handelns sein.

Ist es aber leider nicht: Wir geben in Deutschland nicht nur zu wenig für Bildung aus, sondern das zu wenige auch noch falsch. Das meiste für die Oberstufen der Gymnasien, das wenigste für den frühkindlichen und vorschulischen Bereich. Auf den Anfang kommt es aber an, in den ersten Lebensjahren entscheidet sich welche Chancen Kinder später haben werden.

Deshalb bedeutet „Für die Jüngsten das Beste“ die bestmögliche Unterstützung der Eltern für die Bildung und Erziehung in der Familie, insbesondere in den ersten Lebensjahren. Deshalb bedeutet „Für die Jüngsten das Beste“ aber auch die bestmögliche Erziehung und Bildung außerhalb der und ergänzend zur Familie und manchmal, wenn letztere dazu nicht in der Lage ist, auch anstatt. Bisher war die Diskussion über außerfamiliäre Betreuung, Erziehung und Bildung beinahe ausschließlich von den Quantitäten, der Flexibilität von Öffnungszeiten, dem Rechtsanspruch auf einen Platz ab dem zweiten Lebensjahr dominiert.

Die ist alles wichtig und richtig, aber dies sind vor allem Fragen der besseren Vereinbarkeit von Kindern und Beruf und nicht in jedem Fall eine Politik für Kinder. Um eine Politik für Kinder und ihre Eltern zu gestalten, muss die Diskussion um Qualitäten hinzukommen:
– Die Ausbildung und Bezahlung von Erzieherinnen und Erziehern;
– Die Größe von Krippen- und Kitagruppen,
um nur zwei Punkte herauszugreifen.

Unterbleibt diese Diskussion und entsprechendes Handeln, wird die größte Ungerechtigkeit, die wir in Deutschland haben bestehen bleiben. Diese besteht nicht etwa in zu niedrigen ALG II-Sätzen, sondern darin, dass ein Kind aus einer benachteiligten, ärmeren, bildungsferneren Familie eine sechsmal geringere Chance hat Abitur zu machen, als ein Kind aus einer gut situierten, bildungsnahen Familie – und dies bei gleicher Intelligenz und Begabung.

Das bedeutet die Verfestigung von Armut über Generationen hinweg. Nun werden manche von Ihnen vielleicht sagen: „Die hat gut reden, die Schmidti! Warum, wenn sie das alles weiß, warum hat sie es als Ministerin nicht längst getan?“ Hätte sie gerne, aber unsere föderalen Strukturen machen vieles unmöglich. Im Tagesbetreuungsausbaugesetz musste ich z. B. jedweden Anschein, Kindertagesstätten seien auch Bildungseinrichtungen, vermeiden; Personalschlüssel, Qualifikation der Betreuenden und andere Qualitätsmerkmale können ebenfalls nicht bundeseinheitlich vorgeschrieben werden.

Sehr wohl dagegen, ist es möglich bauliche Vorschriften detailliert auch für Kitas vorzuschreiben. Das zeigt einmal mehr einen sich überall auftuenden Zwiespalt in unserer Gesellschaft auf: Alles, was mit Dingen, mit Hardware zu tun hat ist wichtiger und mehr wert, als das, was mit Menschen zu tun hat, angefangen mit der Betreuung von Kindern, bis hin zur Pflege von Alten.

Ich fordere auch die Deutsche Liga für das Kind auf eine offensive Diskussion über diese „Werthaltigkeit“ zu führen. Aber zurück zu den Möglichkeiten einer Bundesministerin: Durch die Föderalismusreform I wurden die Möglichkeiten des Bundes bei diesen Fragen nochmals verschlechtert. Deshalb habe ich ihr auch nicht zugestimmt, weil ich der festen Überzeugung bin, dass wir uns gerade auch in Zeiten der Globalisierung eine derartige bildungspolitische Kleinstaaterei, auch im Interesse unserer Kinder, längst nicht mehr leisten dürfen.

Aber es geht nicht nur um Veränderungen in den Kindertagesstättengesetzen der Länder oder im Kinder- und Jugendhilferecht, es geht auch nicht nur um Programme, um die Erziehungskompetenz der Eltern zu fördern, um Eltern stark zu machen. Es geht auch darum – in einer Gesellschaft des langen Lebens, der immer größeren Gruppe der Älteren und der wenigen Kinder – Kindern Verfassungsrang einzuräumen. Es geht also darum Kinderrechte als Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen. Dies würde Auswirkungen auf die Rechtssprechung haben, würde verhindern, dass z. B. die Mittel für die Kinder- und Jugendhilfe als Steinbruch für Haushaltssanierungen betrachtet werden.

Eine der logischen Konsequenzen der Aufnahme von Kindergrundrechten in unsere Verfassung wäre das Wahlrecht von Geburt an. Ich halte diese Beseitigung der letzten Wahlungleichheit in unserem Wahlrecht für dringend geboten. Denn in einer Demokratie zählen die Stimmen. Wenn diese Stimmen zunehmend von Älteren, die schon lange nicht mehr für Kinder sorgen müssen oder von Kinderlosen kommen, besteht die Gefahr, dass im Konflikt von Forderungen nach Rentenerhöhungen oder kleineren Gruppen in Kinderkrippen, letzteres zu häufig den Kürzeren zieht. Wir müssen der Zukunft eine Stimme geben.

Kindergrundrechte und das Prinzip der Generationengerechtigkeit in die Verfassung, ein Wahlrecht von Geburt an, all das würde Mentalitäten verändern und Gleichgültigkeit beseitigen. Eine Gleichgültigkeit, die es derzeit hinnimmt, dass die Zahl von 125.000 Kindern, die in den 1960er Jahren von Sozialhilfe leben mussten bis heute auf über zwei Millionen angestiegen ist. Mentalitäten, die bewirken, dass ein Paar in Begleitung einer mannshohen Dogge leichter eine Wohnung findet, als ein Paar mit zwei kleinen Kindern, die Mutter schwanger. Mentalitäten, die zur Folge haben, dass Verkehrslärm als unvermeidlich hingenommen wird, das Lachen und Toben von Kindern gerichtlich verfolgt. Letzeres versuchen wir durch eine Gesetzesänderung zu verhindern.

In unserer Gesellschaft werden Kinder nicht mehr vermisst. Es ist auch kein Wunder, denn über Kinder wird im Regelfall als Mittel zum Zweck, der Rentenfinanzierung, der Pflege, der Demografie berichtet oder Kinder werden ausschließlich unter dem Thema Verwahrlosung, Jugendkriminalität, Drogenkonsum, bestenfalls unter Mühsal, Sorge und Plage subsummiert. Kein junger Mensch wird sich aber wegen der Rente, des Ehegattensplittings oder der Wiederbevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns für Kinder entscheiden.

Natürlich können Kinder auch Mühsal, Sorge und Plage sein. An erster Stelle sind sie aber Glück und die Gewissheit, dass etwas von uns bleibt. Deshalb sollten wir alle, denen Kinder am Herzen liegen häufiger über dieses Glück reden.

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