fK 6/05 Resch

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinder haben keine politischen Grenzen

Einführung in die Jahrestagung „Kinder im erweiterten Europa” am 28./29.10.2005 in Frankfurt (Oder)

von Franz Resch

Kinder kennen keine Grenzbalken, wenn sie zur Welt kommen, aber sie bekommen die Grenzen und Beschränkungen der Erwachsenen bald zu spüren.

Die schlimmsten Grenzen kleiner Kinder sind die Einsamkeit – das Alleingelassensein und das mangelnde Echo auf ihr Rufen in die Welt – oder das allein Ausgeliefertsein gegenüber der Gewalt von Erwachsenen.

Kinder gehen gegen Grenzen an. Sie suchen das Unbekannte jenseits der Mauern, das Dickicht hinter den Zäunen. Die Sprache der Kinder ist universell, ihre Mimik, ihre Gestik, ihr Wollen und ihre Gefühle sind weltweit verstehbar. Das Lachen von Kindern und ihre Tränen bewegen Menschen zu beiden Seiten der Stacheldrähte und unter den Wachtürmen.

Viele von uns haben die politischen Grenzwälle und eisernen Vorhänge noch selbst als Kind erlebt und sich davor gefürchtet. Bange Reisen mit ihren Eltern hinter die Grenzen gemacht. Heute sind die eisernen Vorhänge in Europa gefallen. Das ist ein großer politischer Erfolg. Die Länder öffnen sich füreinander, geben sich einander mehr und mehr zu erkennen. Europa wächst zusammen. Das ist unsere Hoffnung.

Aber neue Grenzen werden sichtbar. Grenzen der Vorurteile und der Dummheit, Grenzen der Habgier und der Verachtung, Grenzen der Gleichgültigkeit und Unmenschlichkeit. Die äußere Öffnung der Welt in Richtung Globalisierung lässt unsere inneren Grenzen umso mehr zu Tage treten.

Auch rund ein Jahr nach der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten in die Europäische Union und sechzehn Jahre nach der Öffnung des eisernen Vorhangs ist die Lage der jungen Generation in Europa besorgniserregend. Trotz wirtschaftlichen Aufschwungs in vielen Ländern werden die Bedürfnisse und Rechte eines großen Teils der Kinder missachtet. Die Deutsche Liga für das Kind fordert Initiativen und verstärkte länderübergreifende Zusammenarbeit, um die Situation der Kinder spürbar zu verbessern. Die europäische Einigung darf nicht an den Kindern vorbeisehen. Kinder und Familien müssen ein wichtiges Thema des Einigungsprozesses sein und bleiben.

Die Deutsche Liga für das Kind ist ein bundesweites Netzwerk von rund 250 Organisationen und Verbänden. Ziel ist es, die seelische Gesundheit von Kindern zu fördern und die kindlichen Rechte und Entwicklungschancen in allen Lebensbereichen zu verbessern.

Der Abbau der Grenzen beginnt im Inneren. Dazu bedarf es einer Selbsterkenntnis, die nicht vor den eigenen Ängsten und Abgründen Halt macht. Es gilt nicht nur die Sprachen in den einzelnen Wissensdomänen zu beherrschen, es geht nicht nur um die Beherrschung der äußeren Natur, es geht um das Erkennen, Benennen und Regulieren von Gefühlen. Es geht um Selbstverständnis und Einfühlung in den anderen – um gelingende Kommunikation. Dazu bedarf es der frühen Interventionen, des emotionalen Dialogs zwischen Bezugspersonen und Kind. Dazu bedarf es der frühen Erziehung und Bildung. Unsere Aufgabe als Gesellschaft ist es, Eltern in diesen Bemühungen – angemessen und nicht abfertigend – materiell und ideell zu unterstützen. Wenn es nicht gelingt, die Situation der Kinder spürbar zu verbessern, läuft Europa Gefahr, seine eigene Zukunft ökonomisch und sozial zu verspielen.

Prof. Dr. Franz Resch ist Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Heidelberg und Präsident der Deutschen Liga für das Kind.

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