fK 6/03 Ulich

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Sprachentwicklung von Migrantenkindern systematisch begleiten

SISMIK – ein Beobachtungsbogen für Erzieherinnen im Kindergarten

von Michaela Ulich und Toni Mayr

Sprachverständnis und die Fähigkeit, sich anderen Menschen sprachlich mitzuteilen, sind Schlüsselkompetenzen für den Bildungserfolg. Statistiken zeigen, dass Migrantenkinder im deutschen Bildungssystem deutlich benachteiligt sind. SISMIK ist der erste pädagogisch orientierte und empirisch abgesicherte Beobachtungsbogen, der prozessorientiert den Sprachstand von Migrantenkindern (in der deutschen Sprache) erfasst. Gleichzeitig bekommt die pädagogische Fachkraft konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle Förderung und für eine Reflexion des pädagogischen Angebots im Bereich Sprache. Ziel ist es, die Bildungschancen von Migrantenkindern durch eine früh einsetzende systematische Begleitung und Förderung der Sprachentwicklung langfristig zu verbessern.

Der von uns am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München entwickelte Beobachtungsbogen SISMIK deckt die Alters- und Entwicklungsspanne von circa dreieinhalb Jahren bis zum Schuleintritt ab. Pädagogische Fachkräfte können also schon relativ früh beginnen, die Sprachentwicklung von Migrantenkindern mit SISMIK zu beobachten und festzuhalten – und dies dann bis zum Schuleintritt weiterführen. Damit können sie gut dokumentierte Aussagen machen über Lernfortschritte von Kindern und auch über deren sprachbezogene Schulfähigkeit. Der Bogen wurde mit einer bundesweiten Stichprobe von über 2.000 Migrantenkindern und ca. 900 Erzieher(inne)n erprobt.

Konzept und Aufbau von SISMIK

Der Bogen heißt SISMIKSprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen. Bereits der Titel soll andeuten, wie vielschichtig Sprachlernprozesse und Sprachstanderfassung sind.

Der Bezug zum pädagogischen Angebot
Viele Fragen in dem Bogen beziehen sich sehr direkt auf sprachrelevante pädagogische Situationen. Das bedeutet, dass Fachkräfte durch die gezielte Beobachtung bereits konkrete Anhaltspunkte für eine pädagogische Förderung bekommen.

„Normale“ Sprachentwicklung
Es geht um die Begleitung und Dokumentation von „normaler“ Sprachentwicklung, von sprachlichen Bildungsprozessen in der Einrichtung. Dies ist bisher nicht selbstverständlich, häufig wird Sprache erst dann gezielt beobachtet, wenn sich eine Erzieherin oder eine Mutter fragt: „Hat dieses Kind vielleicht eine Sprachstörung?“

Motivation und Interesse des Kindes
Ein Aspekt, den wir besonders betonen, ist die Sprachlernmotivation des Kindes, sein Interesse an Sprache und an sprachbezogenen Angeboten. Leitfrage ist hier: Wie weit ist ein Kind bei sprachbezogenen Situationen und Angeboten aktiv beteiligt, wie weit engagiert es sich in solchen Situationen?. Denn, vor allem wenn Kinder sich für etwas interessieren, wenn sie aktiv beteiligt sind, z.B. an Gesprächen oder Erzählungen, dann machen sie Lernerfahrungen.

Sprachentwicklung und „Literacy“
Für die Beobachtung haben wir bewusst auch Situationen im Zusammenhang mit Bilderbüchern, Erzählen und Schriftkultur ausgewählt. Kindliche Erfahrungen rund ums Buch gehören zur so genannten Literacy-Erziehung. Diese Erfahrungen sind sehr wichtig für die sprachliche Bildung und Entwicklung eines Kindes im Vorschulalter, und sie haben darüber hinaus auch längerfristige Auswirkungen, z.B. auf die spätere Sprach- und Lesekompetenz.

Sprachliche Kompetenz (im engeren Sinne)
Neben diesen mehr auf kindliche Motivation und sprachliche Aktivität zielenden Fragen geht es in dem Bogen auch um sprachliche Kompetenzen (im Deutschen): Wie weit kann sich ein Kind im Gesprächskreis einbringen, eine Geschichte nacherzählen oder ein Gedicht aufsagen? Spricht es deutlich? Wie sind Wortschatz, Satzbau usw.?

Die Familiensprache und die Familie des Kindes
Mit diesem Bogen wird vor allem die Sprachentwicklung des Kindes in der deutschen Sprache erfasst, da SISMIK für deutschsprachige Erzieher(innen) konzipiert ist. Dennoch gibt es auch Fragen zur Familiensprache und zur Familie des Kindes. Beides ist nämlich für die Sprachentwicklung des Kindes sehr wichtig.

Beobachtung in sprachrelevanten Situationen: Wie sind die Lernchancen des Kindes in der Einrichtung?
Viele Fragen in dem Bogen beziehen sich auf Situationen, die besonders stark an sprachlichen Austausch gebunden sind und die für den Spracherwerb sehr wichtig sind, z.B. am Frühstückstisch, Gesprächsrunden, Einzelgespräch mit pädagogischen Bezugspersonen, Rollenspiele, Bilderbuchbetrachtung, freier Umgang des Kindes mit Bilderbüchern, Vorlesen/Erzählen, Begegnungen mit Schrift, Reime und Sprachspiele oder Begegnungen mit anderen Sprachen. All dies sind Situationen, die wir als Chance für Kommunikation und Sprachlernprozesse sehen. Das heißt: Wir wollen mit dieser Auswahl von Beobachtungssituationen bereits eine Brücke bauen zwischen Beobachtung und Förderung. Zur Veranschaulichung im Folgenden einige Situationen mit den entsprechenden Fragen bzw. Items dazu. Jede Frage ist mit einer sechsstufigen Skala von „sehr oft“ bis „nie“ versehen.

am Frühstückstisch

  • Kind schweigt
  • hört aufmerksam zu bei deutschsprachigen Gesprächen
  • geht auf deutschsprachige Fragen und Aufforderungen von Kindern ein
  • beteiligt sich aktiv an Gesprächen in deutscher Sprache
  • erzählt verständlich von etwas, das der Gesprächspartner nicht kennt oder sieht (von zu Hause usw.)

(falls es Kinder mit derselben Familiensprache gibt:)

  • sitzt vor allem bei Kindern derselben Familiensprache
  • hört aufmerksam zu bei Gesprächen in der Familiensprache
  • beteiligt sich aktiv an Gesprächen in der Familiensprache

Hier wird deutlich: Wir haben versucht, jeweils unterschiedliche Aspekte von Sprache bzw. Sprachverhalten zu beleuchten: Schüchternheit, zuhören, verstehen, sprachliche Aktivität – möglichst in beiden Sprachen – und die Frage nach dem nicht-situativ gebundenen Sprachgebrauch (wenn Kinder von „Fernem“ erzählen). Das Verständnis und die Produktion von nicht-situativ gebundener Sprache – d.h. von Äußerungen, die sich nicht auf den unmittelbaren Kontext beziehen – bereitet sozial und sprachlich benachteiligten Kindern häufig Probleme. Diese Kompetenz ist jedoch sehr wichtig für den Schriftspracherwerb. Manche dieser Fragen tauchen auch bei anderen Situationen auf. Denn es ist wichtig zu beobachten, dass ein Kind beispielsweise mit anderen Kindern (beim Frühstück, beim Rollenspiel) frei und flüssig spricht und erzählt, dafür aber beim Gesprächskreis sehr zurückhaltend ist.

Etwas anders gestaltet sind die Fragen zu den Literacy-bezogenen Tätigkeiten (Aktivitäten rund um Buch-, Erzähl- und Schriftkultur). Ein Beispiel:

Bilderbuchbetrachtung als pädagogisches Angebot in einer Kleingruppe

  • Kind hört aufmerksam zu und schaut sich die Bilder an
  • benennt einzelne Dinge auf der Bilderbuchseite (auf Deutsch)
  • versucht (auf Deutsch) einen Zusammenhang zwischen Bildern herzustellen, wird zum „Erzähler“
  • ist sich des Unterschieds zwischen Bild und Text bewusst, fragt z.B. nach, was „da steht“, was da geschrieben ist

Vorlesen/Erzählen als pädagogisches Angebot in einer Kleingruppe

  • hört aufmerksam zu bei einer kurzen Erzählung, die nicht durch Bilder/Gestik/Gegenstände veranschaulicht wird
  • beteiligt sich am Gespräch über eine kurze Erzählung, die nicht durch Bilder/Gestik/Gegenstände veranschaulicht wird
  • merkt sich eine einfache Geschichte und kann sie nacherzählen (auf Deutsch)

Sprachkompetenz im engeren Sinn (im Deutschen)

In einem zweiten, wesentlich kürzeren Teil geht es um die Einschätzung des Sprachvermögens im engeren Sinne (also weniger um die sprachliche Motivation und Aktivität des Kindes). Hier gibt es Fragen zum Sprachverständnis, zur Artikulation, zum Wortschatz, zu Satzbau bzw. Grammatik. Dazu zwei kurze Beispiele:

Wenn das Kind etwas erzählen oder tun möchte, bildet es Sätze, indem es Wörter hintereinander reiht,

z. B. Toilette gehen, …Mario Garten, …Saft haben, …ich Haus

◊ vorwiegend ◊ manchmal ◊ selten

Wie geht das Kind mit dem Verb um? Wird das Verb gebeugt,

wenn es z.B. sagen will: ich spieleoder du spielstoder sie spielen

◊ das Kind verwendet meist nur eine feststehende Form wie spiel oder spiele oder spielen

◊ das Kind verwendet manchmal korrekte Formen

◊ das Kind verwendet meistens korrekte Formen (muss nicht immer sein)

Erzieher(innen) berichteten, dass dieser Teil zunächst ungewohnt war, aber dass sie angeregt wurden, genauer hinzuhorchen: Wie spricht das Kind eigentlich? Wie geht es mit dem Verb oder dem Artikel um? Hat das Kind eine große Sprechfreude (Worte und Satzteile sprudeln nur so) und im Verhältnis dazu eine relativ geringe „grammatikalische“ Kontrolle über das Gesagte?

Neben diesen auf das Deutsche beschränkten Fragen gibt es dann im dritten und vierten Teil des Bogens auch Fragen zum Umgang Kindes mit der Familiensprache (soweit für eine deutsche Erzieherin beobachtbar) und zur sprachlichen Situation in der Familie.

Anhaltspunkte für die Förderung

Differenzierte Beobachtungen sind eine wesentliche Voraussetzung für differenzierte Förderung. Dies ist eine allgemein akzeptierte Meinung – in der Praxis und in der Wissenschaft. Wir haben versucht, diese Beziehung zwischen Beobachtung und Förderung unmittelbarer und konkreter zu gestalten und zwar auf verschiedenen Ebenen:

Schwerpunkte der Sprachförderung: die verschiedenen Situationen
Wir haben Beobachtungssituationen ausgewählt, die alle sehr wichtig für die Sprachentwicklung sind: das Gespräch (mit Kindern, mit der Erzieherin), die Bilderbuchbetrachtung, das Erzählen von Geschichten, Sprach- und Reimspiele, oder auch die Wertschätzung der Familiensprache des Kindes. So wird mit dieser Auswahl (in der sich unser Konzept von Sprachförderung spiegelt) bereits eine entsprechende Schwerpunktbildung bei der Sprachförderung angeregt – dies berichten auch Fachkräfte, die den Bogen ausprobiert haben.

Konkrete Entwicklungs- und Erziehungsziele im Bereich Sprache
In dem Bogen werden verschiedene Aspekte und Niveaus von positiver sprachlicher Entwicklung angesprochen. Das heißt, die Fragen sind nicht nur Beobachtungshinweise, sondern auch Anhaltspunkte für konkrete Erziehungsziele im Bereich der Sprachförderung: z.B. aktives Zuhören, Fragen stellen, von Fernem erzählen, ein Gedicht aufsagen, Freude an einer fremden Sprache.

Wie kommt das Angebot bei Kindern an? Wie engagiert sind sie?

Wenn ich als Erzieherin ein Kind z.B. bei Reimspielen beobachte und feststelle, dass es kaum auf das Angebot reagiert, dass es sich nicht engagiert, dann sagt mir das zum einen etwas über das Kind, zum anderen aber auch etwas über das pädagogische Angebot. Denn es stellt sich ganz konkret die Frage: Wie könnte ich dieses Angebot so verändern, dass das Kind sich aktiv beteiligt?

Diese Rückmeldung zum Angebot kann sich auch auf mehrere Kinder beziehen. Ich nehme mir als Fachkraft beispielsweise die Bilderbuchsituation vor und merke: Vor allem die jüngeren Migrantenkinder sind bei der Bilderbuchbetrachtung eher wenig beteiligt. Dann kann ich überlegen, ob ich die Kleingruppe anders zusammensetze, das Bilderbuch häufiger wiederhole, die Geschichte auch auf Tonkassette oder als Puppenspiel anbiete usw.

Das Begleitheft zu Sismik
Zu dem Bogen gehört ein Begleitheft. Dieses umfasst:

Kurzbeschreibung von Konzeption und Aufbau des Bogens

praktische Hinweise für das Vorgehen bei der Beobachtung

verschiedene Ebenen der Nutzung (z. B. Reflexion des pädagogischen Angebots, Zusammenarbeit im Team)

Anleitung für die Auswertung des Bogens (a) auf die einzelnen Fragen und Situationen bezogen (mit Fallbeispielen) und (b) quantitativ (auf der Grundlage von „Skalenbildung“) – mit Blick auf einen Vergleich mit anderen Kindern

Hinweise für die Förderung

Das Begleitheft hilft pädagogischen Fachkräften, mit dem Bogen zu arbeiten und die Beobachtungen selbst auszuwerten. Gleichzeitig ist es eine gute Grundlage für Kolleg(inn)en, die SISMIK in der Aus- und Fortbildung einsetzen.

Weiterführende Literaturhinweise der Autorin zum Thema Sprachförderung sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Michaela Ulich ist wissenschaftliche Referentin am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München

Michaela Ulich und Toni Mayr
SISMIK (Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen). Ein Beobachtungsbogen
Herder Verlag, Freiburg 2003

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