fK 5/11von der Leyen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Für die Kinder führt der sicherste Weg aus der Armut über Bildung“

Prof. Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales

Maywald: : Wie viele Kinder in Deutschland als arm gelten müssen, ist umstritten und hängt stark von der Definition von Armut ab. Welchen Armutsbegriff legen Sie Ihren Berechnungen zugrunde und wie hoch ist demnach die Anzahl der hierzulande in Armut lebenden Kinder?

von der Leyen: : Die große Mehrheit der Kinder wächst in Deutschland in stabilen Verhältnissen auf. Auch in punkto Einkommensarmut ist die Situation bei uns besser als in den meisten anderen OECD-Ländern. Angesichts von sehr guten Konjunktur- und Arbeitsmarkdaten haben wir Grund zu hoffen, dass sich die Lage auch in diesem Bereich weiter bessert. Denn Kinder sind in der Regel arm, weil ihre Eltern keine Arbeit haben. Trotzdem müssen wir alles dafür tun, dass möglichst alle Kinder eine gute Perspektive haben. Gerade Kinder mit schlechten Startchancen sind besonders auf Anregungen von außen angewiesen.

Maywald: Armut kennt viele Gesichter. Materielle Armut gehört ebenso dazu wie Bildungsarmut und mangelnde Teilhabemöglichkeiten zum Beispiel im kulturellen oder sportlichen Bereich. Wo bestehen mit Bezug zu Kindern in Deutschland die größten Herausforderungen?

von der Leyen: Kinder müssen die Perspektive erhalten, später auf eigenen Beinen zu stehen. Den fatalen Teufelskreis, dass sich Abhängigkeit vom Staat von einer auf die nächste Generation vererbt, den müssen wir durchbrechen. Die größte Herausforderung dabei ist die Bekämpfung der Bildungsarmut. Hier setzen wir auf verschiedene Maßnahmen. Zum einen müssen wir vorbeugen und Anreize und Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit der Eltern schaffen, zum anderen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken. Wir müssen aber auch die Infrastruktur in Bildung und Betreuung durch Ausbau von Kinderbetreuung und Ganztagsschulen verbessern und schließlich hilfebedürftige Kinder durch Sach- und Dienstleistungen im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes gezielt fördern.

Maywald: Seit Anfang 2011 gibt es das Bildungspaket, das auf Ihre Initiative zurückgeht. Was sind die Ziele dieses Pakets und inwiefern werden die angestrebten Verbesserungen tatsächlich erreicht?

von der Leyen: Mit dem Bildungspaket wollen wir die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen von Langzeitarbeitslosen verbessern. Seit Jahresbeginn haben bedürftige Kinder deshalb einen Anspruch darauf, an Ausflügen und dem Mittagessen in der Schule teilnehmen zu können. Zum Schuljahresbeginn gibt es 70 Euro für Schulmaterial, zum Halbjahr noch mal 30 Euro. Außerdem sollen sie Lernförderung erhalten, wenn es erforderlich ist und bei den Aktivitäten, denen andere Kinder nach der Schule nachgehen – ich denke da an Sport im Verein, Kurse an der Musikschule – auch mitmachen können. Auch Kinder, deren Eltern den Kinderzuschlag oder Wohngeld erhalten, profitieren davon. Im Gesetzesverfahren wurde beschlossen, dass das Bildungspaket von den Kommunen erbracht werden soll. Das funktioniert mittlerweile in vielen Regionen schon sehr gut, in anderen hakt es noch. Anfang November, beim dritten Runden Tisch zum Bildungspaket, werden wir erneut Bilanz ziehen. Noch ist es für eine abschließende Bestandsaufnahme zu früh. Wir haben mit dem Bildungspaket neue Wege beschritten, die Hilfen erstmals direkt zu den Kindern gebracht, anstatt einfach nur mehr Geld auszuzahlen. Das braucht seine Zeit, um sich durchzusetzen – wie jede neue Leistung.

Maywald: Gemäß Artikel 4 der UN-Kinderrechtskonvention haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Kinder „unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel“ zu verwirklichen. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard gemäß Artikel 27 der Konvention gehört zweifellos zu diesen wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Wird Deutschland dem Anspruch gerecht, seine verfügbaren Mittel zur Bekämpfung der Kinderarmut tatsächlich auszuschöpfen?

von der Leyen:Bedürftige Kinder sollen in Deutschland die gleichen Chancen haben, ihre Fähigkeiten zu erschließen und auszubauen wie die Kinder aus Familien mit kleinem Einkommen. Das war der Kern des Verfassungsgerichtsurteils. Dafür nimmt das Land Milliardensummen in die Hand – trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung. Ich bin aber sicher, dass dieses Geld gut investiert ist.

Maywald:In letzter Zeit ist vermehrt von einer in naher Zukunft zu erwartenden Altersarmut in Deutschland die Rede. Zugleich ist die Armut von Kindern weiterhin ein dringliches Problem. Welche Schwerpunkte sollte die Politik hier im Sinne von Generationengerechtigkeit legen?

von der Leyen: Geht man nach den Zahlen, spielt Altersarmut heute noch keine große Rolle, nur 2,4 Prozent der Menschen über 65 beziehen Grundsicherung im Alter. Das heißt, mehr als 97 Prozent der Menschen im Rentenalter kommen mit ihrer eigenen Rente zurecht. Unser Rentensystem ist stabil, auch weil wir frühzeitig notwendige Schritte eingeleitet haben. Denn es ist klar: Wenn wir immer länger leben, müssen wir auch länger arbeiten. Und die junge Generation darf nicht über Gebühr belastet werden. Gleichzeitig gibt es Punkte, an denen wir besser werden müssen – aus Gerechtigkeitsgründen. Hier setzt die geplante Zuschuss-Rente an: Wer jahrzehntelang gearbeitet und eingezahlt hat, wer erzogen und gepflegt und dabei zusätzlich privat vorgesorgt hat, der soll eine Rente bekommen, die über der Grundsicherung liegt, nämlich bei 850 Euro im Monat. Dieses Modell diskutieren wir derzeit im Regierungsdialog Rente.

Maywald: Welche weiteren Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die Armut von Kindern in Deutschland Schritt für Schritt zurückzudrängen?

von der Leyen: Kinder sind vor allem dann armutsgefährdet, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. In Haushalten, in denen kein Elternteil arbeitet, liegt die Armutsrisikoquote der Kinder bei 57 Prozent. Wo beide Eltern arbeiten – auch Teilzeit und Vollzeit kombiniert – liegt die Armutsrisikoquote dagegen nur zwischen vier und sechs Prozent. Arbeit ist also der Schlüssel. Jetzt, wo die Lage am Arbeitsmarkt so gut ist, müssen wir alles daran setzen, auch die in Jobs zu bringen, die früher von den Arbeitgebern nicht in die engere Wahl gezogen wurden. Und wir müssen familienfreundliche Strukturen bieten, die zum Beispiel auch Alleinerziehenden Vollzeitjobs ermöglichen. Der Einsatz lohnt sich: Es gibt schon eine ganze Reihe von Jobcentern, die gezielt Alleinerziehende unterstützen – mit sehr vorzeigbaren Ergebnissen. Für die Kinder selbst führt der sicherste Weg aus der Armut über Bildung. Mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, der Einrichtung von Ganztagsschulen und dem Bildungspaket sind wir auf dem richtigen Weg, müssen aber noch ordentlich Strecke machen.

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