fK 5/11 Rock

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Vernachlässigte Fürsorge

Ein sozialpolitisches Lehrstück in drei Aufzügen

Von Joachim Rock

Die Bildungs- und Entwicklungsförderung von Kindern wurde in der deutschen Sozialpolitik zu lange vernachlässigt. Dieses Versäumnis aufzuholen darf jedoch nicht dazu führen, bestehende Bedarfe und langfristige Entwicklungsperspektiven aus dem Blickfeld zu verlieren.

Als „fürsorgliche Vernachlässigung“ charakterisierte der Berliner Historiker Paul Nolte 2005 eine Sozialpolitik, die sich vorwiegend über als großzügig empfundene Geldleistungen definiert. Seitdem ist die dem Stichworte zugrunde liegende Kritik an der Konstruktion des Sozialstaates und der Verfassung der Kinder- und Jugendhilfe in nicht wenigen Fällen zur Geschäftsgrundlage von Kürzungen der Sozial- und Jugendhilfeleistungen geworden. Eine solche Politik geht jedoch nicht weniger an den Bedürfnissen und Bedarfen Heranwachsender vorbei, wie eine auf die Höhe der Geldleistungen reduzierte Diskussion. Wer eine investive Sozial- und Bildungspolitik proklamiert, muss mehr als rhetorische Beiträge investieren.

Ein Beispiel: Im Sommer 2011 kündigt der Bezirk Neukölln, dessen Bürgermeister Heinz Buschkowsky sich mit drastischen Formulierungen zur Situation von Kindern und Jugendlichen eine regelmäßige Präsenz in den Medien erstritten hat, die Verträge mit 14 Schulstationen und 49 freien Trägern der präventiven Jugendarbeit. Die Kündigungen wurden inzwischen zurückgenommen. An der ihnen zugrunde liegenden Annahme, dass Fürsorge Teil des Problems – nicht Teil der Lösung – sei, hatte sich allerdings nichts geändert: „Insgesamt zeichnen sich Familien in prekären Lebenslagen oft durch Lebensuntüchtigkeit aus, die dann in Überforderung und Verweigerung mündet. (…) Ich bin kein Sozialpädagoge, aber nach meinem Menschenverstand kann es nicht die Aufgabe des Amtes sein, mit öffentlichen Mitteln eine Hilfe zu finanzieren, die bei Inaktivität durch Suchtverhalten die Wohnung aufräumt, einkaufen geht und den Kühlschrank auffüllt“, so Heinz Buschkowsky in einem Interview im August 2011. Mit diesem Zerrbild wird versucht, Verantwortung abzugeben. Die Politik darf ihre Mitverantwortung für die Lebensumstände in der Bevölkerung aber gerade nicht selektiv ausüben und im Problemfall an die Betroffenen zurückdelegieren.

Die These dieses Beitrags ist es, dass sowohl eine Fokussierung auf Geldleistungen verfehlt ist, als auch die Individualisierung der Verantwortlichkeit für das Streben nach persönlichem Wohlbefinden, ohne Rücksicht auf Lebenslagen und Bedarfe gerade heranwachsender Menschen. Die These soll in drei Aufzügen illustriert werden. In einem ersten Aufzug wird die grundlegende Systematik der Bedarfsbemessung der Regelsätze beschrieben und unter Einbeziehung tagesaktueller Analysen an ihrem Anspruch gemessen. In einem zweiten Aufzug werden die verteilungspolitischen Aspekte der Bedarfsdiskussion illustriert, während im Anschluss daran dargelegt wird, dass die Diskussion um die Bildungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen nicht unabhängig von deren gesellschaftlichen Perspektiven geführt werden kann.

Erster Aufzug: Geld ist nicht alles, aber…
Mit dem 2005 eingeführten Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld wurde von den spezifischen Bedarfen von Kindern und Jugendlichen bewusst abstrahiert. Heranwachsende galten schlicht als kleine Erwachsene. Besondere Bedarfe für Bildung, Gesundheit, kulturelle und sportliche Teilhabe oder gar Nachhilfeunterricht wurden ihnen nicht zuerkannt. Stattdessen bekamen sie einen nach einem bestimmten Prozentsatz gekürzten Bedarf eines Erwachsenen gewährt, der sich an vielem orientierte, nur nicht an der Lebenswirklichkeit junger Menschen.

Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Praxis am 9. Februar 2010 ein Ende bereitet. Bei aller richterlichen Zurückhaltung machte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze in ungewohnt harschen Formulierungen deutlich, dass es kein Verständnis für eine derartige Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums hat. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte die Verfassungswidrigkeit des bestehenden Verfahrens zur Bestimmung der Leistungsansprüche von Hartz-IV-Empfängern fest. Zwar seien die Regelsätze der Höhe nach nicht „evident unzureichend“. Die bisher vorgenommene Festlegung der Regelsätze sei jedoch „ins Blaue hinein“ erfolgt, „gegriffen“ oder beruhe auf „Schätzung“. Bezüglich notwendiger Bedarfe von Kindern kritisierte das Bundesverfassungsgericht einen „völligen Ermittlungsausfall“. Es betonte demgegenüber die Verantwortung des Bundes für die Sicherstellung des gesamten Existenzminimums. Ein Verweis auf die Verantwortung der Länder oder kostenlose Angebote reiche nicht aus, um die Verantwortung des Bundes für Leistungen zur Existenzsicherung zu relativieren. Das höchste deutsche Gericht erkannte damit ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ (Lenze 2010) an und ging damit deutlich über seine bisherige Rechtsprechung hinaus.

An der Höhe der Regelleistungen für Kinder und Jugendliche änderte sich mit diesem Richterspruch und dessen Umsetzung durch den Gesetzgeber wenig. Während Erwachsene seit 2011 fünf Euro mehr als zuvor – alleinstehende Erwachsene erhalten seit 2011 364 Euro monatlich, Menschen in Partnerschaften jeweils 328 Euro – bekommen, blieb die Regelleistung für Kinder auf dem bisherigen Niveau. Kinder von 0 bis 5 Jahren erhalten wie zuvor 215 Euro monatlich, Kinder bis 14 Jahre erhalten 251 Euro, solche im Alter von 15 bis 17 Jahren 287 Euro. Diese Beibehaltung wurde seitens des zuständigen Ministeriums dadurch begründet, dass eine Einbeziehung des Ausgabenverhaltens von Familien ergeben habe, dass die Ausgaben gegenüber den vorherigen Annahmen sogar hätten gekürzt werden müssen. Gewissermaßen aus Kulanz halte man demgegenüber an den ursprünglichen Leistungen fest. Reicht das? In der nachfolgenden Tabelle soll anhand einzelner Bedarfsgruppen, aus denen sich der Regelsatz zusammensetzt, dargestellt werden, was bei einzelnen Personengruppen derzeit als Bedarf anerkannt ist.

Dieses Ergebnis verweist auf fortbestehende Schwächen des Bemessungsverfahrens, die gerade Kinder und Jugendliche betreffen: Eine Statistik, die monatlich 6,93 Euro für Windeln ausweist oder Jugendlichen lediglich 70,44 Euro im ganzen Jahr für Schuhe zugesteht, kann nicht ohne Plausibilitätsprüfung übernommen werden. Man wird deshalb nicht umhin kommen, abseits der Statistik eine gesellschaftliche Definition über bedarfsgerechte Leistungen für Kinder zu führen und den Bundestag über deren Höhe entscheiden zu lassen. Das Parlament ist der Ort, an dem über eine derart zentrale Stellgröße entschieden werden muss.

Zusätzlich zu den Regelleistungen wurden mit dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket im März 2011 rückwirkend ab 1. Januar 2011 bestehende und neue Leistungen für Kinder aus einkommensarmen Familien präsentiert, die die Kritikpunkte des Bundesverfassungsgerichts ausräumen sollten. Sie sind für Kinder und Jugendliche aus den Rechtskreisen SGB II und XII sowie aus Familien, die Wohngeld und Kinderzuschlag erhalten, verfügbar. Das Paket besteht aus sechs zum Teil schon vorher bestehenden Leistungsformen, die besonderen Bildungs- und Teilhabebedarfen junger Menschen gerecht werden sollen. Die Leistungen beinhalten (1) notwendige Lernförderung, (2) einen Mittagessenszuschuss von 26 Euro monatlich, soweit Schule und Hort ein Mittagessen anbieten, (3) die Übernahme der Kosten für Schulausflüge und Klassenfahrten, (4) unter bestimmten Herausforderungen die Schülerbeförderung sowie (5)) ein in der Regel als Geldleistung erbrachtes Schulbasispaket in Höhe von pauschal 100 Euro pro Schuljahr, aufgeteilt in zwei Tranchen von 70 bzw. 30 Euro zum Halbjahresbeginn und (6) ein „Teilhabebudget“ von bis zum 120 Euro im Jahr für die Teilnahme an sportlichen oder kulturellen Aktivitäten.

Die Erfahrungen aus über einem halben Jahr der praktischen Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes belegen, dass viele der im Vorfeld von Praktikern aus der Sozial- und Jugendhilfe kritisierten Defizite der Neuregelungen bis heute nicht überwunden werden konnten. So wurden nach einer Umfrage des Deutschen Städtetages Mitte September 2011 lediglich für 36 Prozent der anspruchsberechtigten Kinder Anträge auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket gestellt.

Die Ursachen der Nichtinanspruchnahme sind vielfältig: Auch ein halbes Jahr nachdem die Neuregelungen am 29. März 2011 beschlossen wurden, ist der Informationsstand bei den Betroffenen ebenso unterschiedlich wie das Interesse der Verwaltungen, offensiv für die Inanspruchnahme der neuen Leistungen zu werben. Oft scheuen Eltern den Gang zum Amt, weil sie die mit der Beantragung verbundene, häufig vermeidbare Bürokratie scheuen. Und obwohl es für ein Kind nichts Stigmatisierenderes gibt, als aus finanziellen Gründen von einer Leistung ausgeschlossen zu sein, gibt es doch gerade unter den Wohngeld- und Kinderzuschlagsempfängern viele Betroffene, die aus Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung vor einer Antragstellung zurückschrecken. In anderen Fällen gibt es aufgrund der fehlenden Gewährleistungsverantwortung für Teilhabeleistungen – gerade im ländlichen Raum – gar keine Angebote, die einen sinnvollen Einsatz der Teilhabeleistungen ermöglichen. Dass die Neuregelungen die unterschiedlichen Bedarfslagen nicht hinreichend berücksichtigen und damit in mehreren Punkten hinter den Vorgaben des Bundesverfassungsgericht zurückbleiben, ist auch das Ergebnis zweier Gutachten von Irene Becker und Johannes Münder, die im September 2011 im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung vorgelegt und in der Fachzeitschrift „Soziale Sicherheit“ umfassend dokumentiert wurden. Die Fürsorge wird vernachlässigt.

Zweiter Aufzug: Verteilungsfragen
Man hätte meinen können, dass das Schicksal von über 2,5 Millionen Kindern aus einkommensarmen Familien der Politik unabhängig vom Urteil der Verfassungsrichter ein andauernder Ansporn zum Handeln gewesen wäre. Das Gegenteil war der Fall: wenige Politikfelder waren in den vergangenen Jahren von einem derart krassen Missverhältnis zwischen Handlungsbedarf und Handeln gekennzeichnet, wie das der Armutsbekämpfung sowie der Aufstiegs- und Entwicklungsförderung.

Noch in der Finanzkrise investierte die Bundesregierung mit der so genannten „Abwrackprämie“ scheinbar selbstverständlich fünf Milliarden Euro in die Entsorgung von 2,5 Millionen alten Autos, während die soziale Lage von 2,5 Millionen armen Kindern gleichzeitig unbehandelt blieb. Zum Vergleich: Anstelle der für 2012 beschlossenen Anhebung der so genannten Eckregelsätze von 364 auf 374 Euro hätten die seinerzeit verausgabten fünf Milliarden Euro den jährlichen Kosten einer bedarfsgerechten Anpassung der Regelsätze entsprochen. Nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (vgl. Martens 2011) würde ein den gesetzlichen Vorgaben gerecht werdender Regelsatz 2012 für Einpersonenhaushalte 416 Euro plus weiteren 26 Euro an einmaligen Leistungen umfassen. Die Kosten dafür liegen deutlich unter der für die Abwrackprämie aufgewandten Kosten, und die mit der Prämie intendierte Beförderung der Binnennachfrage wäre angesichts der nachvollziehbar niedrigen Sparquote der Leistungsempfänger nicht geringer gewesen.

Obwohl das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Frage der Rechtmäßigkeit der Regelsatzberechnung bereits bei Abschluss der Koalitionsvereinbarung kurz vor der Urteilsverkündung stand und bereits da kein Zweifel daran bestehen konnte, dass des Bundesverfassungsgericht das bestehende Verfahren für verfassungswidrig erklären würde, findet sich in der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien nur ein abstrakter, unverbindlicher Programmsatz, der die Bekämpfung von Kinderarmut als Ziel formulierte. Von vorauseilender Sorge für zumindest verfassungsgemäße Regelsätze war nichts zu spüren. Politischer Ehrgeiz, aus eigenem Antrieb bedarfsgerechte Leistungen zu konstruieren und entwicklungsfördernde Dienstleistungen einzurichten, fehlte. Im Gegenteil: Während das Bundesverfassungsgericht beriet, beschloss die Bundesregierung eine Erhöhung des Steuerfreibetrages für Kinder auf 8.004 Euro und eine Erhöhung des Kindergeldes auf 184 Euro. Die verteilungspolitischen Konsequenzen dieser Gesetzgebung sind eine Steuerersparnis von 443 Euro für Spitzenverdiener, ein Kindergeldzuwachs von 240 Euro/Jahr für Normalverdiener – und ein Effekt von Null bei hilfebedürftigen Familien, deren Kindergelderhöhung vollständig mit den Leistungen zum Lebensunterhalt verrechnet wird.

Dass die Regierung angesichts dieser Prioritätensetzung erst durch das Bundesverfassungsgericht belehrt werden musste, dass Kinder besondere Bedarfe haben und gerade keine kleinen Erwachsenen sind, ist ein Armutszeugnis für die Politik.

Ist diese Form der Verteilungspolitik Sachzwängen geschuldet? Die zusätzlichen Ausgaben für das Bildungs- und Teilhabepaket wurden im Gesetzgebungsverfahren mit etwa 600 Millionen Euro im Jahr beziffert. Tatsächlich werden die Mehrkosten aufgrund der leider sehr geringen Inanspruchnahme insbesondere der Teilhabeleistungen deutlich geringer sein. Trotzdem bleiben vordergründig erhebliche Leistungsverbesserungen, die zu würdigen sind. Das ändert allerdings nichts daran, dass der Trend zur Umfinanzierung familienbezogener Leistungen zu Lasten einkommensschwacher Familien bei gleichzeitig erheblichem Ausbau der Leistungen für einkommensstärkere Familien fortgesetzt wird.

So wurde mit der Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes der Grundbetrag des Elterngeldes für auf Leistungen der Sozialgesetzbücher II und XII angewiesene Familien angerechnet. Die betroffenen Familien verlieren dadurch monatlich 300 Euro. Insgesamt wurden Leistungen für diese Gruppe um 400 Millionen Euro jährlich reduziert. Weitere 200 Millionen Euro wurden mit dem Wegfall des Übergangszuschlages eingespart, durch den bisher der Übergang vom Arbeitslosengeld in das Arbeitslosengeld II mit monatlich zusätzlich bis zu 160 Euro im ersten Bezugsjahr und bis zu 80 Euro im zweiten Bezugsjahr erleichtert wurde. Das so genannte Arbeitslosengeld II wurde dadurch zu einer reinen Fürsorgeleistung, seine Bezeichnung vollends zum Etikettenschwindel. Allein mit diesen beiden Maßnahmen wurden die zusätzlichen Leistungen des Bildungspaketes durch Kürzungen bei ähnlichen Betroffenen vollständig gegenfinanziert.

Doch damit nicht genug: Die Streichung der Rentenbeiträge für Menschen im Rechtskreis des SGB II in Höhe von 40,80 Euro monatlich summiert sich bei den Betroffenen auf eine Leistungskürzung im Umfang von 1,8 Milliarden Euro. Darüber hinaus wurden die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem SGB II zum Jahresbeginn auf etwa 5 Milliarden Euro gekürzt. Die Liste lässt sich fortsetzen. Insgesamt überstiegen Kürzungen im Bereich des SGB II die materiellen Verbesserungen für Empfänger von Leistungen des gleichen Sozialgesetzbuches um das Fünffache. Von einer politischen Förderung einer „Dekommodifizierung“ kann vor diesem Hintergrund keine Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. Fürsorgliche Vernachlässigung? Mitnichten.

Dritter Aufzug: Bildung und Perspektiven
Bildung ist das einzige Rezept, was mit großer Wahrscheinlichkeit Sicherheit vor gesellschaftlicher Exklusion bietet. Bildung baut jedoch auf dem Fundament auf, dass grundlegende soziokulturelle Bedarfe befriedigt sind und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugleich die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs zulassen und befördern. Zu den Widersprüchen unserer Zeit zählt, dass Anspruch und Wirklichkeit im Bereich der Bildungsförderung erheblich auseinanderklaffen. An guten Worten mangelt es nicht, für Taten wird im föderalen System dagegen gerne auf die Zuständigkeit anderer verwiesen. Und zu den Widersprüchen zählt auch, dass in einem der am häufigsten verkauften Bücher der vergangenen Monate die Potentiale von Bildungsförderung gegenüber biologischen Bedingungen relativiert werden. Das ist fatal: Nicht einmal der homo oeconimicus der Wirtschaftstheorie lässt sich für Bildung begeistern, wenn die Perspektiven keinen Aufstieg möglich scheinen lassen.

Entwicklung heißt deshalb auch, Perspektiven zu schaffen. Daran mangelt es: Gerade für Kinder und Jugendliche bietet des Hartz IV-System denkbar schlechte Aussichten: „Die Bildungsoffensive der 70er Jahre, als die Kinder kleiner Leute zu Hunderttausenden auf der Strickleiter nach oben kletterten, die ihnen das BAföG knüpfte, diese Strickleiter ist gerissen. Das Projekt sozialer Aufstieg funktioniert nicht mehr. Die deutsche Gesellschaft verändert sich wieder hin zu einer Klassengesellschaft. Das System ist semipermeabel geworden, das heißt, durchlässig nur noch in eine Richtung, nämlich nach unten“, konstatierte der Journalist Heribert Prantl 2008 bitter.

Bedarfen und Bedürfnissen von Heranwachsenden wird nur die Sozial- und Bildungspolitik gerecht, die eine umfassende Verbesserung der Lebenssituation der betroffenen Familien gewährleistet. Allein mit Ganztagsangeboten wird man diesem hohen Anspruch nicht gerecht werden, und es ist irreführend, wenn einzelne Politiker allein durch mehr staatliche Einflussnahme auf die Erziehung nachhaltige Verbesserungen der Lebenssituation der von Armut betroffenen Menschen erwarten.

Selbst wohlmeinende Politikerinnen und Politiker begründen ihre Verteidigung der Ausgaben der Jugendhilfe häufig damit, dass es preiswerter sei, präventiv Jugendhilfe zu fördern als später an die gesellschaftlichen Folgekosten unterlassener Entwicklungsinvestitionen – vom Fachkräftemangel bis zur Jugendkriminalität – finanzieren zu müssen. So richtig das Argument ist, so wenig wird es dem Anspruch des Kindes auf eine Perspektive außerhalb des Fürsorgesystems gerecht.

Kinder aus einkommensschwachen Familien lassen sich nicht unabhängig von ihren Familien fördern. Jede Förderung in Ganztagsangeboten und Projekten ist sinnvoll, sie verliert jedoch an Wert, wenn die Kinder daheim Perspektivlosigkeit und Pessimismus vorfinden. Einmal mehr gilt: Armut ist ein vielschichtiges Problem, das man nicht mit isolierten Ansätzen lösen kann. Das gilt umso mehr für Kinder, die in einkommensarmen Familien aufwachsen. „Die subjektive Vorwegnahme künftiger Optionen durch das Kind ist ständiger Antrieb und Motor von Entwicklung. Wer Kindern jedoch den Glauben an die Perspektive und die Freude auf das Morgen nimmt, der lässt die Energie versiechen, raubt dem Kind die Kindheit und nimmt dem Pädagogen jede Chance zur Bildung und Erziehung“ (Schneider 2010, S. 176). Politik kann und muss mehr für Familien leisten. Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Situation betroffener gibt es viele, nicht selten würde ihre Umsetzung ohne Mehrkosten zu haben sein.

Möglichkeiten
Alle auf Folgenbeseitigung gerichteten sozialstaatlichen Maßnahmen lassen sich ebenso präventiv wenden. Dazu müssen mehrere Voraussetzungen gegeben sein. Zum einen muss in letzter Instanz der Staat gewährleisten, dass der Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen – wie Essen, Gesundheit, Wohnen, Bildung und gesellschaftlicher Teilnahme – garantiert ist. Dazu zählt ein einklagbarer Rechtsanspruch auf Förderung und Teilhabe. Dies könnte erreicht werden, indem § 11 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) als individueller Rechtsanspruch gestaltet wird. Der Paritätische hat dazu im vergangenen Jahr einen detaillierten Vorschlag unterbreitet.

Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass der Einzelne nicht zum Objekt sozialstaatlicher Intervention wird, sondern gestaltend an der weiteren Entwicklung mitwirken kann. Aus diesem Grund ist es auch richtig, dass Wohlfahrtsverbände – wie der Paritätische – begonnen haben, die klassische Grenzziehung zwischen Sozial- und Bildungspolitik zu überwinden. Wenn Kindertagesstätten freier Träger längst zu Bildungseinrichtungen, die ein hohes Maß von Partizipation ermöglichen, geworden sind, warum soll dieses Bemühen um Integration an der Grenze zum Schulalter aufhören? Warum soll es nicht möglich sein, die Vielfalt pädagogischer Ansätze, wie wir sie aus der freien Jugendhilfe kennen, auch für das Schulsystem möglich zu machen? Die Planung von integrativen Bürgerschulen in freier Trägerschaft ist eine Möglichkeit, die überkommene Trennung zwischen Sozial- und Bildungspolitik überwinden zu helfen und mehr Partizipation zu ermöglichen.

Schließlich müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen und erleichtern. Ohne eine solche Perspektive bleibt jedes Bildungsversprechen leer, bleibt jedes sozialpolitische Versprechen grundlos.

Die Onlinefassung des Beitrages enthält keine Tabellen

Dr. Joachim Rock ist Abteilungsleiter Arbeit, Soziales und Europa beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband – Gesamtverband in Berlin.

Literatur
Becker, I. (2011): Bewertung der Neuregelungen des SGB II. In: Soziale Sicherheit. Sonderheft September 2011, S. 9-64.

Buschkowsky, H. (2011): „Die Träger bewilligen sich das Geld selbst“. Interview mit dem TAGESSPIEGEL, Der Tagesspiegel vom 22.8.2011. www.tagesspiegel.de/berlin/die-traeger-bewilligen-sich-das-geld-selbst/4528106.html (Abruf 4.10.2011).

Lenze, A. (2010): Hartz IV Regelsätze und gesellschaftliche Teilhabe. Das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 und seine Folgen. Friedrich Ebert Stiftung. Bonn.

Münder, J. (2011): Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 – BGBl. I S. 453. In: Soziale Sicherheit. Sonderheft September 2011, S. 65 ff.

Nolte, P. (2005): Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik. Beck Verlag. München.

Paritätischer Gesamtverband (2011): PARITÄTISCHE Bewertung des „Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“ vom 25.2.2011 vor dem Hintergrund der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010, Berlin, 11.3.2011.

Schneider, U. (2010): Armes Deutschland: Neue Perspektiven für einen anderen Wohlstand. Westend Verlag, Frankfurt am Main.

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