fK 5/11 Meier-Gräwe

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinderarmut ist immer auch Familienarmut

Von Uta Meier-Gräwe

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren sehr eingehend mit den „gefühlten“ Abstiegsängsten von akademisch gebildeten Mittelschichtsangehörigen befasst und Statusverluste vorschnell zur sozialen Realität erklärt. Dabei wurde gründlich übersehen, dass das wirkliche Problem an einer ganz anderen Stelle liegt. Wie eine aktuelle Längsschnittuntersuchung aufzeigt, vollzog sich im Beobachtungszeitraum zwischen 1994 und 2009 eine zunehmende Verfestigung von Armutslagen am unteren Rand der deutschen Gesellschaft und soziale Abstiege betreffen fast ausschließlich die untere Mittelschicht, die aus prekären Lebenslagen in dauerhafte Armut abrutscht (Groh-Samberg 2010, S. 13). Demgegenüber kamen soziale Abstiege aus gesicherten Wohlstandslagen hierzulande so gut wie gar nicht vor.

Die obere Hälfte der Bevölkerung war innerhalb des Beobachtungszeitraums von 26 Jahren jedenfalls vom Anstieg der Armut nicht betroffen. „Nicht einmal temporär oder in einzelnen Lebensbereichen nehmen hier Anzeichen und Erfahrungen der Armut oder Prekarität zu“ (ebenda). Das heiße allerdings nicht, so Groh-Samberg, dass in dieser Bevölkerungsgruppe interne Ungleichheiten, etwa des Reichtums, nicht zugenommen haben können. Der von ihm gebildete Indikator „gesicherter Wohlstand“ sagt ausschließlich etwas über das Fehlen von Armut und Prekarität aus. Insofern entspricht die Aussage, dass Armut heute jede/jeden treffen könne, eben nicht der Realität. Armut und prekäre Lebenslagen betreffen allerdings die Entwicklungs- und Sozialisationskontexte von Kindern in besonders dramatischer Weise.

Mehrdimensionalität von Kinderarmut
In der öffentlichen Diskussion über Kinderarmut ist aus guten Gründen immer wieder auf das Phänomen der Mehrdimensionalität von Armutslagen im Kontext der Herkunftsfamilie verwiesen worden. Armut ist eben nicht nur finanzielle Armut, sondern geht häufig mit beengten Wohnverhältnissen, geringen Bildungsabschlüssen der Eltern, mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und mangelnder Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einher. Ein geringes finanzielles Budget engt die Handlungsmöglichkeiten der Eltern von vornherein erheblich ein. Diese Tatsache wird in Deutschland vergleichsweise selten wahrgenommen. Stattdessen überwiegen Medienberichte, die den Fokus auf spektakuläre Beispiele lenken, wo sich Eltern nachweislich nicht an den Bedürfnissen ihrer Kinder orientieren. Doch selbst in solchen tragischen Fällen bleibt festzuhalten, dass „Misshandlungen und Vernachlässigungen in den meisten Fällen Endpunkte einer von den Eltern nicht gewollten, verhängnisvollen Entwicklung sind, an deren Anfang vielfältige Überforderungen stehen“ (Kindler, Sann 2007).

Eine aktuelle Studie zur Lebenssituation von Familien mit geringem Einkommen im Braunschweiger Land bestätigt erneut, dass die wenigsten Eltern am Bedarf ihrer Kinder sparen (Diakonisches Werk Braunschweig 2011). Allerdings sind sie größtenteils nicht in der Lage, ihren Kindern auch nur annähernd die Standards der Mittelschichten, etwa bei den Bildungsmitteln zu ermöglichen. Der ADJI-Survey 2009 des Deutschen Jugendinstituts e.V. belegt nunmehr repräsentativ für Deutschland, dass es inzwischen einen „sozialen Gradienten“ im Zugang zu Freizeitangeboten von Geburt an gibt: Je geringer das bedarfsgewichtete Familieneinkommen ist, desto seltener nehmen Kinder schon in den ersten beiden Lebensjahren an Angeboten wie Babyschwimmen oder PEKiP-Kursen teil. Sie sind aber auch in deutlich geringerer Zahl wie Kinder aus einkommensstärkeren Familien in Krabbelgruppen zu finden (vgl. Abbildung 1). Dieser Zusammenhang setzt sich im weiteren Biographieverlauf der Kinder fort: Sie partizipieren vergleichsweise selten an musischen, künstlerischen und sportlichen Angeboten (Musikschule, Sportverein etc.).

Sozialräumliche Segregation
In Deutschland vollzieht sich auf kommunaler Ebene seit Jahren eine soziale Entmischung von Stadtteilen, was sich auch im Anstieg von Wohnquartieren mit überproportional hoher Anzahl von Multiproblemfamilien niederschlägt. Solche sozialräumlichen Settings sind gleichbedeutend mit manifesten Sozialisationskontexten, die ihrerseits sozial strukturierend wirken (Häussermann 2010, S. 25). Sie generieren „spezifische Kontexteffekte“, die zu einer Verschlechterung der Bildungs- und Lebenschancen der dort lebenden Kinder führen. Wenig anregungsreiche Sozialräume mit einer Konzentration von Bewohner(inne)n in armen und prekären Lebenslagen können somit selbst soziale Exklusion erzeugen, wenn solche Wohnquartiere aus den städtischen Funktionszusammenhängen herausfallen bzw. nicht mehr anschlussfähig sind bzw. von der übrigen Stadtgesellschaft so eingeschätzt werden.

Dadurch verstärkt sich herkunftsbedingte Deprivation, indem diese sozialen Nahräume als Sozialisationsorte keine kompensatorischen und schützenden Wirkungen entfalten, sondern stattdessen zusätzliche Formen von sozialer Ausgrenzung von armen Kindern und ihren Eltern hervorbringen. Das kann der Fall sein bei symbolischer Ausgrenzung in Form von Stigmatisierung, wenn beispielsweise ein Wohnquartier als „sozialer Brennpunkt“ kommuniziert und wahrgenommen wird. Oder aber dadurch, dass durch die sozialräumliche Konzentration deprivierter Bevölkerungsgruppen in einem Stadtteil die Träger von relevanten Informationen und sozialen Netzwerken nicht mehr im Quartier leben und dadurch die Zugänge ortsansässiger benachteiligter Bewohner(innen) zu zentralen Handlungsfeldern wie dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt abgeschnitten oder zumindest stark eingeschränkt sind. Schließlich bedeutet der verstärkte Wegzug von integrierten Mittelschichtsangehörigen, dass auch die Ressourcen zur politischen Organisation und Repräsentanz abgezogen werden, was die Marginalisierung armer Bevölkerungskreise wiederum verstärkt (ebenda).

Tatsache ist, dass die sozialen Milieus in vernachlässigten und verarmten Problemquartieren in jedem Fall einen kontextuellen Sozialisations- und Erfahrungsraum für benachteiligte Kinder und Jugendliche bilden. In solchen Sozialräumen und Wohnquartieren werden zwar durchaus Kulturtechniken des Überlebens und damit milieuspezifische Kompetenzen erworben, um einen Alltag unter schwierigen Bedingungen zu bewältigen („Culture of Poverty“). Allerdings bieten solche Sozialisations- und Erfahrungsräume – wenn sie keine Aufwertung erfahren – wenig, um sich die Fähigkeiten und das Know How anzueignen, das für eine „normale Lebensführung“ in der Mitte einer Stadtgesellschaft erforderlich ist und ihnen „Anschlussfähigkeit“ ermöglichen würde.

Eine besondere Herausforderung stellt die ethnische Segregation in Kindertagesstätten dar (vgl. Abbildung 2). In Westdeutschland besuchte zuletzt fast jedes dritte Kind mit nichtdeutscher Familiensprache eine Einrichtung, in der die Mehrzahl der Kinder zu Hause ebenfalls kein deutsch spricht. Dadurch entstehen Settings, in denen Kinder mit Migrationshintergrund im Hinblick auf eine entsprechende Sprachförderung nicht mehr optimal und alltagsnah unterstützt werden können. Mit anderen Worten: Die Tagesbetreuung kann ihr Potenzial für die Förderung dieser Kinder nicht voll entfalten. So verwundert es auch nicht, wenn die Sprachfähigkeit der Kinder mit Migrationshintergrund zu Schulbeginn deutlich eingeschränkt ist, sofern sie eine stark segregierte Einrichtung besucht haben (vgl. Biedinger, Becker 2010). Vor allem eine Konzentration auf die eigene ethnische Gruppe wirkt sich nachteilig aus: Gerade jene Kinder, deren Bildungschancen am stärksten gefördert werden müssten, profitieren am wenigsten in der erhofften Weise.

Was können Kommunen und Landkreise für arme Kinder und ihre Eltern tun?>
Viele Städte und Gemeinden versuchen heute, der Armutsentwicklung von Kindern und ihren Eltern durch Kooperation und Vernetzung verschiedener lokaler Akteure und Angebote unter Einschluss von ehrenamtlichem Potential entgegenzutreten. Der demographische Wandel wirkt hier vielfach als Motor, denn es wird immer offensichtlicher, dass die nachwachsende junge Generation schon in wenigen Jahren begehrt sein wird – der Fachkräftemangel ist in vielen Regionen schon längst Realität und wird sich in den kommenden Jahren weiter verstärken. Außerdem werden Erkenntnisse aus der Resilienzforschung auf der kommunalen Ebene verstärkt rezipiert, d. h. individuelle und strukturelle Schutzfaktoren für ein gedeihliches Aufwachsen von Kindern trotz widriger Umstände erfahren verstärkt Beachtung und werden vor Ort berücksichtigt, denn anregungsreiche Sozialräume und zugewandte lokale Akteure können für benachteiligte Kinder so etwas wie eine „strukturell zweite Heimat“ (Lanfranchi 2006) sein. So wurden im Rahmen des KiTa-Preises „Dreikäsehoch 2006 – Jedes Kind mitnehmen“ sehr gute Best-Practice-Erfahrungen aus Einrichtungen in städtischen Problemquartieren, aber auch in belasteten ländlichen Räumen gewonnen, die es wert sind, auch andernorts genutzt zu werden.

So wurde in einem Landkreis ein Fahrdienst für alle Kinder eingerichtet, deren Eltern selbst wenig Struktur und Orientierung in den Alltag bringen (können). Viele dieser Kinder waren zuvor nur sporadisch oder gar nicht in die Kindertagesstätte gebracht worden, obwohl Plätze für diese Kinder – meist beitragsbefreit – vorhanden waren. Durch eine vertrauensvolle Kooperation mit dem ortsansässigen Arbeitsamt wurden arbeitslose Kraftfahrer eingestellt, so dass allen Kindern die Teilnahme am KiTa-Alltag mit einer breiten Angebotspalette fortan möglich war. Hervorzuheben ist auch, dass es einigen Einrichtungen, die zuvor als „Problem-Kita“ wahrgenommen wurden, durch eine hervorragende pädagogische Arbeit und eine Öffnung zum Sozialraum und zur Stadtgesellschaft, etwa mit Kooperationen zur Hochschule für Musik und Theater gelang, wieder verstärkt Anmeldungen von Kindern aus privilegierten Elternhäusern zu erreichen. Auf diesem Weg wurde ein intelligenter Umgang mit Differenz bereits in den ersten Lebensjahren der Kinder erreicht und zwar als ein wirksames Gegengewicht zu der ansonsten häufig anzutreffenden sozialen Segregation.

Gleichwohl wirkt sich die dramatische Haushaltslage vieler Kommunen, gepaart mit einem immer offensichtlicheren Arbeitskräftemangel in den Gesundheits- und Erziehungsberufen, besonders nachteilig vor allem für arme Kinder aus, deren Eltern auf eine gute öffentliche Förderung und Bildung ihrer Kinder angewiesen sind. Etliche Jugendämter können infolge fehlender Stellen oder eines akuten Fachkräftemangels nur noch einen Notbetrieb aufrechterhalten, so dass präventive Maßnahmen vertagt werden müssen. Eine Folge dieser Misere besteht zudem darin, dass der Betreuungsschlüssel gerade in vielen städtischen Kitas völlig unzureichend ist, wo der höchste Förderbedarf bei den Kindern besteht: Tatsache ist, dass Fachkräfte durch eine bessere Bezahlung von privaten Anbietern oder freien Trägern inzwischen immer häufiger abgeworben werden. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die Stadt Frankfurt am Main war in diesem Jahr erstmals nicht in Lage, die gesetzlich vorgeschriebenen Schuleingangsuntersuchungen (SEU) bei allen Schulanfänger(inne)n durchzuführen. Drei von acht Ärzte-Stellen im Frankfurter Gesundheitsamt sind derzeit vakant, so dass etwa 550 Erstklässler die SEU erst nachträglich durchlaufen können (FAZ, 11.8.2011). Ein Grund: Die im Vergleich zu Kliniken schlechte Bezahlung in der städtischen Verwaltung.

Auf den Anfang kommt es an – Frühe Hilfen und Frühe Förderung forcieren
Bundesweit entwickeln Städte wie zum Beispiel Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz oder Dormagen in Nordrhein-Westfalen neue Konzepte Früher Hilfen, die vorhandene professionelle Ressourcen der Gesundheits- und Jugendhilfe rund um die Geburt vernetzen, um vor allem Risikofamilien zeitnah und wirkungsvoll zu unterstützen. Die Gesundheitsdienste arbeiten an der Verfeinerung von Screeningverfahren, um Diagnosen und konkrete Unterstützungsbedarfe von Mutter und Kind im Übergang zur Elternschaft noch differenzierter als bisher ermitteln zu können und erforderliche Maßnahmen einzuleiten, die nach Entlassung aus der Geburtsklinik verlässlich und begleitend fortgeführt werden. In jedem Fall ist es notwendig, für eine dem jeweiligen sozialräumlichen Bedarf angemessene personelle Ausstattung und Finanzierung der aufsuchenden Hilfen in Gestalt der Familienhebammen nach Entlassung der Mütter aus der Geburtsklinik zu sorgen. Darüber hinaus ist eine Vernetzung dieses Gesundheitsdienstes mit Angeboten des Allgemeinen Sozialen Dienstes und der Jugendhilfe im Wohnumfeld vonnöten. Derzeit jedoch übersteigt nach Aussagen von Expert(inn)en im Schnittstellenbereich von Gesundheitsdiensten, Allgemeinem Sozialen Dienst und Jugendämtern vielerorts der vorhandene Bedarf einer nachsorgenden Begleitung und fachübergreifenden, zeitnahen Kooperation das vorhandene Angebot in belasteten Sozialräumen bei weitem. Wie Kosten-Nutzen-Analysen Früher Hilfen nachgewiesen haben, sind Investitionen in solche Kooperationsstrukturen „rund um die Geburt“ jedoch besser als jede später einsetzende Maßnahme geeignet, Überforderungssituationen von jungen Eltern in belasteten Lebenslagen von Anfang an wirksam zu vermeiden und diversen Formen von Kindeswohlgefährdung und psychischen Folgeerkrankungen vorzubeugen (Meier-Gräwe, Wagenknecht 2011).

Zudem kristallisieren sich vielfältige Unterstützungsbedarfe für Eltern und Kinder nicht nur bei den Risikofamilien (d. h. den „roten“ Fällen) heraus, sondern liegen auch bei Familien vor, die von ihrem Hilfebedarf her im „rot-gelben“ und „gelben“ Bereich eingestuft werden. Auch diese Familien mit oft prekären Lebenslagen bedürfen nach Rückkehr von Mutter und Kind aus der Geburtsklinik im Interesse guter Entwicklungs- und Bildungschancen ihrer Kinder sowie der Stabilisierung des häuslichen Alltagssettings passgenauer Informationen und niedrigschwelliger Angebote in ihrem Wohnumfeld.

Hier ist eine stadtteil- und zielgruppenbezogene Ausdifferenzierung von aufsuchenden Angeboten unter Einbezug von Semi-Professionellen und Laien ebenfalls geboten. Wie Erfahrungen bundesweit zeigen, sind Eltern für die Nutzung solcher Angebote über die persönliche Ansprache durch Ärztinnen und Ärzte, Erzieher(innen) in Kitas und Familienzentren oder auch durch Nachbarn und Vertrauenspersonen aus dem eigenen Kulturkreis viel eher zu gewinnen als durch Flyer oder durch die Presse (Sann, Thrum 2004). Auch die Erreichbarkeit von Angeboten spielt für die Inanspruchnahme eine nicht zu unterschätzende Rolle: Bei Bedarf müssen Anteile von Komm-Strukturen in Geh-Strukturen umgewandelt werden, indem z. B. Sprechstunden von Frühförderstellen regelmäßig in Kindertagesstätten oder Familienzentren angeboten werden, damit diese von den bedürftigen Familien auch tatsächlich wahrgenommen werden.

Verbindliche Kooperationsbezüge zwischen Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen herstellen
Eine sinnvolle Unterstützung für arme und häufig erschöpfte Familien kann auch dadurch erreicht werden, dass ein regelmäßiges Angebot der kommunalen Erziehungsberatung in allen Kindertagesstätten mit einem überdurchschnittlichen Anteil an armen Kindern durch verbindliche Leistungsvereinbarungen sichergestellt wird. Derzeit bestehen solche regelhaften Kooperationsstrukturen vorzugsweise bei den Kitas in konfessioneller Trägerschaft. Wissenschaftliche Studien unterstreichen schon seit mehreren Jahren die Notwendigkeit einer Neujustierung der Kooperation zwischen Erziehungsberatungsstelle und Kindertageseinrichtungen in diesem Sinne: „Erzieher(innen) versuchen, selbst mit auffälligen Kindern fertig zu werden und Eltern mit Problemen zu beraten (und) fühlen sich durch die vielen auffälligen Kinder überfordert und überlastet. Die Mitarbeiter(innen) der psychosozialen Dienste warten in ihren Sprechzimmern auf Klienten und werden meist mit „schweren“ Fällen konfrontiert. So arbeiten zwei „stark voneinander abgegrenzte Systeme“ defensiv nebeneinander her und tun sich schwer mit ihrem Auftrag, effektiv und rechtzeitig auf Behinderungen, Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern zu reagieren“ (Pellander et al. 2003, S.37).

In den Kanon der familienunterstützenden Dienste gehören schließlich die vielfältigen Angebote der Familienbildung. Hier profitieren erschöpfte Familien von Angeboten in den bundesweit entstehenden Familienzentren. Als besonders hilfreich hat sich zum Beispiel in einem Frankfurter Kinder- und Familienzentrum eine Doppelspitze aus Sozialpädagogin und Familienbildnerin erwiesen, um integrierte Angebote zu entwickeln und in der Einrichtung zielgruppenbezogen vorzuhalten.

Integrationslotsen und Stadtteilmütter einsetzen
In belasteten Stadtteilen und Wohnquartieren bewährt sich bundesweit der Einsatz von Integrationslotsen und/oder Stadtteilmüttern mit und ohne Migrationshintergrund. Sie informieren über Angebote in Kindertagesstätten und Familienzentren, finden oft Zugänge zu vermeintlich „schwer erreichbaren“ Eltern, bauen Vertrauensbeziehungen zu ihnen auf und ermutigen zudem Eltern, deren Kinder bisher noch keine Kindertagesstätte besuchen, zur Inanspruchnahme von offenen Angeboten in Kinder- und Familienzentren. Weitere Einsatzgebiete dieser Elternlotsen erstrecken sich auf die Alltagsbegleitung und Sprachförderung, die Förderung des Schulerfolgs von Kindern, Hilfen bei der Ausbildungsorientierung, der Arbeitsplatzsuche, Gesundheitsförderung oder auf die Vermittlung von Regeldiensten.

Kommunikation, Kooperation und Vernetzung sind die zentralen fachlichen Merkmale in diesem Prozess. In ihrer Lotsenfunktion sind sie Vermittler(innen) und Multiplikator(inn)en für gelingende Bildungspartnerschaften zwischen Elternhaus und öffentlichen Kindertagesstätten bzw. Familienzentren. Sie profitieren aber auch persönlich von der Aus- und Fortbildung zur Stadtteilmutter oder zum Elternlotsen, indem sie wertvolle Erfahrungen ihrer Integration einbringen können und eine Selbstwertstärkung erfahren (Gögercin 2008). Ehrenamtliches Engagement setzt allerdings durchgängig eine strukturelle Anbindung an professionelle Strukturen voraus. Deshalb wird auf Seiten des Fachpersonals ein gewisser zeitlicher und personeller Anteil vom Overhead benötigt, um Ehrenamtliche einzubinden, um ihnen Feedback zu geben, Aufgaben ihrer Supervision zu übernehmen etc.

Kinderbetreuungsangebote zügig ausbauen
Obwohl der Ausbau von Krippen und Tagespflege in den vergangenen Jahren in Westdeutschland deutlich intensiviert wurde, gibt es nach wie vor einen keineswegs gedeckten Bedarf, gerade auch bei herkunftsbenachteiligten Kindern. Es ist erforderlich, zeitnah verlässliche Biografie begleitende Strukturen zu etablieren, damit gerade diese Kinder von Anfang an eine gute familienergänzende Unterstützung erfahren unter Einschluss einer zugewandten Elternarbeit mit möglichst konstanten Bezugspersonen. Inzwischen gelingt es in vielen Kinder- und Familienzentren zwar durchaus, Eltern mit sehr jungen Kindern zu erreichen, etwa durch Rückbildungskurse, die dort angeboten werden. Diese Kontakte und aufgebauten Vertrauensbeziehungen können aber aufgrund der wenigen Plätze in der Krabbelstube, die derzeit meistens restlos ausgebucht sind (Wartelisten), nicht verstetigt werden: Eltern und Kinder gehen deshalb „wieder verloren“. Es fehlt an Kontinuität und es fehlt auch bei den vorhandenen Kita-Plätzen an Ganztagsangeboten und Randzeitenbetreuung, was für einen Teil der Eltern, die im Dienstleistungsbereich (Handel, Gastronomie) arbeiten, aber dringend notwendig wäre.

Hier ist in jedem Fall zunächst eine detaillierte Bedarfsanalyse in allen belasteten Stadtteilen und Wohnquartieren zu empfehlen, um den Platzbedarf kleinräumig zu ermitteln. Wichtig ist es, dass Städte und Gemeinden in jedem Fall für die Priorisierung einer unkomplizierten, zügigen Platzvergabe zur Gewährleistung von Betreuungskontinuität vor Ort (zumindest für Risikokinder) sorgen, aber möglichst auch für Kinder, die von ihrem Unterstützungsbedarf gemäß Screeningverfahren im „rot-gelben“ bzw. „gelben“ Bereich liegen. Unter dieser Perspektive wären die derzeit geltenden Vergaberichtlinien zu überprüfen und gegebenenfalls Quotenregelungen für Härtefälle (Kontingentierung von Plätzen) zu schaffen. Zudem ergibt sich gerade mit Blick auf die erhöhten professionellen Anforderungen beim Umgang mit Kindern und Eltern aus belasteten Milieus ein zusätzlicher Weiterbildungsbedarf für Erzieher(innen) mit Blick auf aktuelle neurowissenschaftliche Befunde, den interkulturellen Kompetenzerwerb, Wissen über Armutsfolgen, Zugangswege zu verschiedenen Armutstypen etc. Städte und Gemeinden müssen aber auch auf den steigenden Personalbedarf in den familienbezogenen Dienstleistungsberufen in den nächsten Jahren reagieren und Lösungen suchen.

Mobile Dienste aufbauen
Viele Städte und Gemeinden sind derzeit bundesweit mit der Entwicklung eines Inklusionskonzepts für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder befasst. So hat die Landeshauptstadt Wiesbaden einen Mobilen Dienst für Eingliederungshilfen in Kindertagesstätten eingeführt, dafür qualifiziertes Integrationspersonal eingestellt und die systematische Kooperation der Arbeit des Mobilen Dienstes mit den Erzieher(inne)n der jeweiligen Kita, die das Kind besucht, entsprechend budgetiert. Hierbei handelt es sich um ein intelligentes, flexibles und kostengünstiges Instrument, was differenzierter und passgenauer auf die individuellen Bedarfe von Kindern und ihren Eltern reagieren kann als herkömmliche Strukturen. Die gängige Praxis der Frühförder- und Frühberatungsstelle als Komm-Struktur muss vermieden werden: diese führt etwa bei zweimaliger Nichteinhaltung von Terminen durch die Eltern zur Abmeldung des Kindes/der Familie. Es stellt sich dann nämlich die Frage, wie es um die Perspektiven dieser Kinder mit Blick auf ihre Gesundheit und ihre Bildungsbiographien bestellt ist und ab wann und in welcher Höhe Folgekosten nicht eingeleiteter Frühförderung für Kommune und Land entstehen, die sich im weiteren Biographieverlauf kumulieren.

Kita, Schule und Sozialräume gesundheitsförderlich gestalten
In den Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich immer wieder, dass Kinder aus benachteiligten Herkunftsmilieus einen vergleichsweise auffallend schlechten Gesundheits- und Entwicklungsstand aufweisen. Solche Ergebnisse werfen die Frage auf, wie auf den Gesundheitszustand dieser Kinder bereits im Krippen- und Kindergartenalter nachhaltig Einfluss genommen werden kann. Zu empfehlen ist, in belasteten Stadtteilen am Ende des vierten Lebensjahres der Kinder einen Gesundheitscheck in den Kitas und Familienzentren nach dem Dormagener Modell durchzuführen. Aus den Ergebnissen sollten in Absprache mit den Erzieher(inne)n individuelle und passgenaue Förderkonzepte entwickelt werden. Diese wären einerseits im Kita-Alltag zu integrieren und andererseits in Kooperation mit den Eltern umzusetzen.

Hilfreich wäre es allerdings, wenn gesundheitspräventive Angebote schon für jüngere Kinder direkt in den Kindertagesstätten und Familienzentren vorgehalten werden. Das entlastet und unterstützt Erzieher(innen), eröffnet ihnen Kontakte und Zugangswege zu Gesundheitsdiensten, um z. B. chronische gesundheitliche Beeinträchtigungen von Kindern, die in der Kita festgestellt werden, in Kooperation mit den Fachärzten abmildern zu können. So könnten Städte und Gemeinden in Analogie zum Konzept „Gesunde Schule“ ein Konzept „Gesunde Kita“ entwickeln und ein Zertifizierungsverfahren einführen mit dem Ziel, dass sich möglichst viele Kitas auf eine entsprechende Selbstverpflichtung einlassen. Dadurch würde das Thema Gesundheit als ein internes Qualitätsmerkmal in Kitas und Familienzentren verankert. Darüber hinaus sind Kindern und ihren Eltern bei Bedarf zeitnah niedrigschwellige Zugänge zu sozialpädiatrischen und anderen therapeutischen Angeboten der Früh- und Gesundheitsförderung zu eröffnen, deren Inanspruchnahme begleitet und in ihrer Wirksamkeit fallbezogen überprüft werden müsste. Städte und Gemeinden sollten aber auch verstärkt die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen nutzen, um ein Ranking der Gesundheits- und Bildungsrisiken an den Grundschulen aller Stadtteile einer Kommune zu bilden und auf dieser Basis eine Priorisierung bei der kommunalen Mittelvergabe vorzunehmen.

Bildungsmittel umverteilen
Die Vielfalt der Herausforderungen zur bestmöglichen Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher aus armen Familien in Sozialräumen mit besonderem Entwicklungsbedarf macht es erforderlich, nicht nur die vorhandenen kommunalen Angebotsstrukturen und Dienste zu professionalisieren und besser zu vernetzen. Zunächst geht es darum, diesen Sozialräumen eine angemessene Grundausstattung (Bildung, Gesundheit, Förderung) zu gewährleisten. Daraus ergeben sich vielfältige Anforderungen für die Sozial-, Gesundheits- und Bildungsplanung, um zu ermitteln und zu begründen, welche Grundausstattung ein Stadtteil in Relation zu den dort vorhandenen Problemlagen benötigt.

Weil die Handlungsbedarfe in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf jedoch so vielschichtig, also auch personal- und kostenintensiv sind, geht es darüber hinaus darum, zivilgesellschaftliche Elemente wie Ehrenamt und Stiftungsgelder wirksam im Sinne von „brückenbildendem Kapital“ gerade in den Sozialräumen verstärkt einzubringen, wo überproportional viele benachteiligte Kinder, Jugendliche und Familien leben. Es ist in diesem Zusammenhang auch notwendig, intelligente Konzepte für eine gerechtere Verteilungsstruktur der Mittel von ortsansässigen Stiftungen zu entwickeln.

Ausblick
Deutschland braucht einen bundesweiten Masterplan, der aus Gründen von Chancen- und Bildungsgerechtigkeit sozial benachteiligter Kinder, aber eben auch mit Blick auf den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands dringend in Angriff genommen werden muss. Das hat – neben vielen Fachleuten – bereits vor drei Jahren auch Ilse Wehrmann, heute Beraterin für frühkindliche Bildung und Leiterin des Krippenaufbauprogramms für die Unternehmen Daimler und RWE, gefordert und begründet (Wehrmann 2008). Ihr war seinerzeit bundesweit viel Zustimmung gewiss, auch von Seiten führender Vertreter der deutschen Wirtschaft. An einer entschiedenen Umsetzung mangelt es allerdings bis heute.

Exportgewinne eben auch für Strategien und Maßnahmen für die Verringerung prekärer Wohlstands- und Armutslagen von Kindern und ihren Eltern einzusetzen und in anregungsreiche Sozialisationsbedingungen von Kindern von Anfang an großzügig zu investieren, sollte für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland aus Gründen von Chancengerechtigkeit und ökonomischer Vernunft eigentlich gleichermaßen selbstverständlich sein. Ansonsten besteht in der Tat die Gefahr, dass sich Deutschland „zum ersten westlichen Schwellenland“ entwickelt, wie der Leiter der Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes es kürzlich prognostiziert hat (Martens 2011, S. 16). Auch die Argumentation, dass „im Interesse unserer Kinder und Kindeskinder“ die öffentlichen Haushalte „ohne Wenn und Aber“ auf einen rigorosen Sparkurs festgelegt werden müssten, erweist sich vor dem Hintergrund der vorliegenden wissenschaftlichen Befunde als eine fatale Strategie.

Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe ist Leiterin des Lehrstuhls Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und 1. Vizepräsidentin der Deutschen Liga für das Kind.

Literatur
Bertelsmann Stiftung (2006): KiTa- Preis Dreikäsehoch 2006 „Jedes Kind mitnehmen“. Bildungschancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Gütersloh.

Biedinger, Becker (2010): Frühe ethnische Bildungsungleichheit. Der Einfluss des Kindergartenbesuchs auf die deutsche Sprachfähigkeit und die allgemeine Entwicklung. In: B. Becker, D. Reimer (Hrsg.): Vom Kindergarten bis zur Hochschule. Wiesbaden, S. 49-79.

Diakonisches Werk Braunschweig (2011): Wirksame Wege für Familien mit geringem Einkommen im Braunschweiger Land gestalten. Braunschweig.

Groh-Samberg, O. (2010): Armut verfestigt sich-ein missachteter Trend. In: APuZ 51-52/2010, S. 9-15.

Kindler, H., Sann, A. (2007): Frühe Hilfen zur Prävention von Kindeswohlgefährdung. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, H. 2, S. 42-45.

Lanfranchi, A. (2006): Resilienzförderung von Kindern bei Migration und Flucht. In: Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (Hrsg.): Resilienz-Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg.

Meier-Gräwe, U., Wagenknecht, I. (2011): Kosten-Nutzen Früher Hilfen. Studie im Auftrag des Nationalen Zentrums Früher Hilfen. Köln.

Wehrmann, I. (2008): Deutschlands Zukunft: Bildung von Anfang an. Weimar, Berlin.

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