fK 5/11 Heekerens

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen

Das Konzept von UNICEF

Von Hans-Peter Heekerens

Das auf der Kinderrechtskonvention basierende, seit einigen Jahren von UNICEF propagierte und in einigen international vergleichenden Studien umgesetzte (Mess-)Konzept des Child Well-Being, das faktisch die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen zu erfassen beansprucht, wird dargestellt und seine Stärken wie Schwächen werden beispielhaft beleuchtet.

In Erweiterung herkömmlicher (Mess-)Konzepte von Armut bei Kindern und Jugendlichen und in Überwindung der mit diesen einher gehenden theoretischen wie praktischen Begrenzungen propagiert UNICEF seit einem halben Jahrzehnt unter dem Begriff Child Well-Being ein (Mess-)Konzept, das faktisch keinen geringeren Anspruch erhebt als den, das optimale Instrument zur international vergleichenden Erfassung der Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen zu sein. Das Konzept versteht sich unter Verweis auf die Kinderrechtskonvention von 1989 als wertebasiert und wurde nicht zuletzt deshalb schon zu Mitte des Jahrzehnts von UNICEF propagiert (Ohling, Heekerens, 2005) und in der UNICEF-Kinderarmutsstudie von 2007 (UNICEF 2007) erstmals umgesetzt. Dieses multidimensionale Konzept umfasste damals folgende sechs (Grund-)Dimensionen: (1) materielles Wohlbefinden, (2) Gesundheit und Sicherheit, (3) (Aus-)Bildung, (4) Beziehungen zu Familie und Gleichaltrigen, (5) Verhaltensrisiken (Risikoverhalten) sowie (6) subjektives Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen.

Das (Mess-)Konzept im Gesamtüberblick
Die Bradshaw-Gruppe, die dieses Konzept entwickelt hatte (Bradshaw, Hoelscher, Richardson 2006), erweiterte es anschließend noch (Bradshaw, Hoelscher, Richardson 2007) in nachfolgend dargestellter Weise, in der sich die damalige Datenlage reflektiert.

Viele offene Fragen
Die Diskussion um methodische Fragen dieses (Mess-)Konzepts als auch hinsichtlich seiner Bedeutung für etwa die Armuts- und Kriminalitätsforschung oder die Soziale Arbeit hat erst vor Kurzem begonnen (Heekerens 2010a, 2010b; Heekerens, Ohling 2007, 2009; Ohling, Heekerens 2007) und bedarf noch der Ausweitung und Vertiefung. Das oben dargestellte Konzept lag der Analyse der Situation in den Mitgliedsländern der EU 25 zugrunde. Von den 54 Indikator-Variablen, die aus theoretischen Gründen für relevant angesehen wurden, konnten aber nur 51 einbezogen werden, da für die drei in Klammern angeführten Indikator-Variablen (absolute Kindereinkommensarmut, Dauerhaftigkeit von Kinderarmut und Armut im Erleben der Kinder) keine Daten vorlagen.

In welcher Breite und Tiefe das (Mess-)Konzept im konkreten Fall zur Anwendung kommt, hängt immer von der jeweiligen Datenlage ab. Umgekehrt aber fordert das Konzept Politik dazu auf, bestimmte relevante – vor allem bislang fehlende – Daten zu erheben. Welche Daten relevant sind, hat Wissenschaft zu definieren. Diese aber ist sich noch längst nicht einig darüber, was für das wissenschaftliche Konstrukt „Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen“ relevant ist. Die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen (wie etwa Medizin, Ökonomie, Psychologie und Soziologie), die dazu Beiträge liefern, haben zwar faktisch so etwas wie einen gemeinsamen Kernbestand geschaffen, aber es zeigen sich doch sowohl innerhalb der einzelnen Disziplinen als auch zwischen ihnen viele und große Unterschiede. Schließlich gibt es eine dritte Größe, die darauf einwirkt, wie das Konzept der „Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen“ in einem konkreten (Untersuchungs-)Fall gefasst ist: die mit der Analyse verbundenen Absicht. So wurden im OECD-Kinderbericht 2009 (OECD 2009) absichtlich nur solche Indikatoren verwendet, die politischer Einflussnahme mehr oder minder direkt zugänglich sind.

Erste Stärke des Konzepts: Multidimensionalität
Schon jetzt aber sind gewisse Stärken des Konzepts unverkennbar. Eine erste liegt in seiner Multidimensionalität. In der Armutsforschung gab es natürlich schon (Mess-)Konzepte, die nicht nur auf den Indikator „relative Einkommensarmut“ oder „Sozialhilfebezug“ beschränkt waren, beispielsweise das (Mess-)Konzept, das in den AWO-ISS-Studien zur Anwendung kam (Holz 2008). Und faktisch liegt etwa dem Herausgeberwerk „Wege aus der Kinderarmut. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze“ (Lutz, Hammer 2010) ein Konzept von „Armut“ zu Grunde, das heran reicht an das breite und komplexe UNICEF-(Mess-)Konzept.

Für die Praxis der Sozialen Arbeit etwa hat dies zur Folge, dass sehr viel mehr, als dies beim Konzept der relativen Einkommensarmut oder jenem von Sozialhilfebezug der Fall ist, konkrete Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit markiert werden (für zahlreiche Beispiele vergleiche neben Lutz, Hammer 2010 auch Heekerens 2010a, 2010b; Heekerens, Ohling 2007, 2009; Ohling, Heekerens 2007). Für die Forschung führt das Konzept gegenüber früheren auf dem Feld der Armutsforschung etwa zu einer gewissen Vereinheitlichung. Die früheren Konzepte der Armutsmessung kann man auf vier verdichten: das Einkommens-, das Sozialhilfe-, das Unterversorgungs-/Lebenslage- und das Deprivationskonzept (Klocke 2000). Jedes dieser Konzepte hat verschiedene Eigenheiten und bei der empirischen Feststellung von Armut können diese vier Konzepte zu sehr unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Resultaten führen. Klocke (2000) hat bei Erhebung der Daten für den Familien- und Sozialbericht der Stadt Gütersloh 1997 die vier Konzepte bei derselben Stichprobe zur Anwendung gebracht und die Ergebnisse anschließend miteinander verglichen. Von den Resultaten interessieren im vorliegenden Zusammenhang folgende: Zum einen stellte sich heraus, dass die Armutsquote nach dem Unterversorgungs- und Einkommenskonzept mit 14,3 beziehungsweise 13,1 Prozent deutlich höher ausfällt als nach dem Deprivations- und Sozialhilfekonzept (9,5 beziehungsweise 8,8 Prozent). Zum zweiten zeigte sich, dass nur 2,9 Prozent aller Personen nach allen vier Ansätzen übereinstimmend als arm anzusehen sind, während andererseits nach zumindest einem einzigen Konzept 22,2 Prozent als arm beurteilt werden.

Zweite Stärke: Internationale Vergleiche auf breiter Basis
Eine zweite Stärke des Konzepts des „Kindlichen Wohlergehens“ liegt darin, dass es internationale Vergleiche auf breiter Basis ermöglicht. Keiner der in Berichten nach dem UNICEF-Konzept zu findenden Einzelvergleiche ist originär; die entsprechenden Berichte fußen durchweg auf bereits zuvor von anderer Seite erhobenen Daten. Originell aber ist, viele diese Einzelvergleiche zusammen zu fassen und zu verdichten. So entstehen recht prägnante Bilder – beispielsweise jenes aus dem OECD-Bericht 2009 (OECD 2009) zu gewinnende und Darstellung 2 zu entnehmende Bild.

Die Werte Deutschlands bewegen sich sowohl im OECD- wie im EU-Vergleich für alle Dimensionen im Mittelbereich. Das gilt es in zweierlei Hinsicht zu präzisieren. Zum einen: Deutschland befindet sich hinsichtlich keiner einzigen Dimension unter den ersten bzw. letzten drei Staaten. Und zum anderen: Deutschland bewegt sich hinsichtlich fünf von sechs Dimensionen im (grau unterlegten) mittleren Drittel der Rangskala. Nur bei einer Dimension (bei „Wohnung/Wohnumgebung“) bricht es aus diesem engen Band nach unten aus. Dies aber scheint Folge eines methodischen Artefakts zu sein (Heekerens 2010a). Deutschland ist hinsichtlich der Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen mittelmäßig und hält das mittlere Maß.

Dies und eine geringe Schwankungsbreite über einzelne Dimensionen wie im OECD-Kinderbericht 2009 fanden sich auch schon im OECD-Bericht von 2007 (UNICEF 2007) und im EU-Report von 2007 (Bradshaw, Hoelscher, Richardson 2007) gleichermaßen und finden sich auch im jüngsten internationalen Vergleich „Zur Lage der Kinder in Deutschland 2010“ (Bertram, Kohl 2010). Deutschland neigt beim Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen nicht zu Extremen. Das gilt auch für Ausschläge zur negativen Seite hin. Das ist als positiv zu werden. Aber das genügt nicht, um Deutschland in Sachen Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen ein Zeugnis jenseits von „befriedigend“ auszustellen. Nur Mittelmaß zu zeigen, ist unter den Möglichkeiten eines Landes, das gemessen an seinen gesellschaftlichen Ressourcen sowohl in der OECD als auch in der EU im oberen Drittel liegt. Deutschland tut für seine Kinder und Jugendlichen weniger, als nötig wäre und es leisten könnte (vgl. Heekerens, Ohling 2005). Ein Teil der Minderleistung resultiert nach Auskunft des OECD-Kinderberichts 2009 aus einer Fehlverteilung von Mitteln für Kinder und Jugendliche: zu viel im letzten Drittel des Großwerdens, zu wenig im ersten.

Dritte Stärke: Kinder und Jugendliche kommen selbst zu Wort
Im OECD-Bericht 2009 waren aus den genannten Gründen Selbsteinschätzungen der Kinder und Jugendlichen nicht berücksichtigt worden. Es kann also vorkommen, dass konkrete Realisierungen des UNICEF-Konzepts ohne Selbstdarstellungen der Betroffenen auskommen. Und es ist andererseits so, dass solche Selbstdarstellungen kein Alleinstellungsmerkmal des UNICEF-Konzeptes sind. In ihm aber ist es, weil sich das Konzept auf die Kinderrechtskonvention beruft, wertemäßig so fest verankert, dass ein Fehlen eigens legitimiert werden muss. Zu welchen Erkenntnissen die Berücksichtigung der Selbstdarstellung der Betroffenen führen kann, sei an Hand der 2010 vom Deutschen Komitee für UNICEF vorgestellten jüngste internationale Vergleichsstudie zum Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen (Bertram, Kohl 2010) illustriert. Dabei werden im internationalen Vergleich, und nur ein solcher ermöglicht das, Anzeichen einer Grundstimmung deutscher Kinder und Jugendlicher sichtbar, die man als „pessimistisch“ – ein Abgleich dieser Resultate mit vergleichbaren der neusten Shell Jugendstudie (Deutsche Shell Holding GmbH 2010) ist ein Forschungsdesiderat – bezeichnen kann. Dazu nachfolgend drei Beispiele (weitere Heekeresn, 2010b).

So wird eine Diskrepanz sichtbar, wenn man, wie dies in Darstellung 3 geschieht, die Erwartungen an die berufliche Zukunft kontrastiert mit zwei weiteren – ebenfalls als Indikatoren der Dimension „Bildung und Ausbildung“ fungierenden – Realwerten: der Qualität der schulischen Bildung (beurteilt nach PISA-Ergebnissen) und dem Anteil der Jugendlichen in Voll-/Teilzeitausbildung. Dies geschieht in Darstellung 3 Deutschland vergleichend mit den drei Ländern, die bei der beruflichen Zukunftserwartung von Jugendlichen am besten abschnitten. Das zentrale Ergebnis lässt sich folgendermaßen in Worte fassen: Die deutschen Jugendlichen sind hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunftsmöglichkeiten weitaus pessimistischer als die aus den USA, Portugal und Griechenland, obwohl reale Indikatoren wie Qualität der schulischen Bildung und Quantität der Einbindung in (Aus-)Bildung das glatte Gegenteil erwarten ließen.

Wie wenig realitätsgebunden sich die 2006 geäußerten Befürchtungen der deutschen Jugendlichen hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft sind, zeigt das (vorläufige) Ergebnis des Stressjahres 2009: Die Weltfinanzkrise hat dem Arbeitsmarkt in Deutschland weniger zugesetzt als dem in den USA, und deutlich weniger als dem in Portugal und Griechenland.

Ein zweites Beispiel. In Darstellung 4 sind neben Deutschland, das bei der Lebenszufriedenheit unter 21 OECD-Staaten den 18. Rang einnimmt (darunter – in absteigender Reihenfolge – nur noch: Polen, Tschechien und Ungarn) die drei Länder aufgeführt, die bei Lebenszufriedenheit die drei besten Ränge belegen. Zusätzlich sind für diese vier Länder die in der UNICEF-Studie 2010 zu findenden Indikatoren für die Beziehung der Jugendlichen zu Eltern, Peers und Schule aufgeführt. Damit sind die „Kontexte“ oder „Systeme“ angesprochen, denen nach Auskunft der entwicklungspsychologischen Forschung im „Normalfall“ höchste Bedeutung zukommt. Danach gibt es allen Grund zur Vermutung, dass die Lebenszufriedenheit von Jugendlichen umso höher ausfällt je besser ihre Beziehung zu Eltern, Peers und Schule, gemeinsam betrachtet, ist. Angesichts dessen kann das schlechte Abschneiden der deutschen Kinder und Jugendlichen bei der Lebenszufriedenheit nur verwundern.

Nun könnte man das Ergebnis zur Lebenszufriedenheit von deutschen Jugendlichen als singulär abtun und/oder seine Bedeutung angesichts des absoluten Werts als wenig gewichtig einschätzen, gäbe es nicht andere Untersuchungsergebnisse, die als weitere Indikatoren für eine doch eher gedrückte Stimmung deutscher Jugendlicher zu bewerten sind. Solche sind zu finden in der PISA-Studie 2003 für 15-jährige Schüler (3. Beispiel). Dort waren im Fragenblock 27 einige Statements aufgeführt, denen zugestimmt bzw. die abgelehnt werden konnten. Nachfolgend sind für Deutschland die jeweiligen Prozentsätze und die damit verbundenen Rangplätze unter 21 OECD-Staaten hinsichtlich der drei hier interessierenden Statements wieder gegeben (nach Angaben von Bertram, Kohl 2010, S. 118, Abb. 6.3b, S. 119, Abb. 6.3c, S. 120, Abb. 6.3d):
– „Ich fühle mich wie ein Außenseiter und von bestimmten Dingen ausgeschlossen“: Zustimmung 6 Prozent, Rang 10
– „Ich fühle mich unbehaglich und fehl am Platz“: Zustimmung 11 Prozent, Rang 15
– „Ich fühle mich alleine“: Zustimmung 35 Prozent, Rang 16.

Stärke oder Schwäche? Die fehlende theoretische Einbindung
Das UNICEF-Konzept basiert nicht auf beliebig ausgewählten Indikatoren, die dann willkürlich (zu Bereichen, Gruppen oder Dimensionen) zusammengefasst werden. Dennoch stellen sich hinsichtlich der – von Vergleichsstudie zu Vergleichsstudie verschieden ausfallenden – Zusammenfassungen viele methodischen Fragen, und hinsichtlich der Indikatorenauswahl ist zu sagen, dass sie zwar wertebasiert (Kinderrechtskonvention) ist, nicht aber theoriegeleitet. Das letzte mag man als Mangel ansehen. Es sollte allerdings Zweierlei nicht übersehen werden. Zum einen hat theoriegeleitete Indikatorenauswahl faktisch immer die Tendenz, potentiell relevante Indikatoren auszuschließen, weil sie nicht zur Theorie (in einem bestimmten Entwicklungsstadium) passen: die Theorie bestimmt die Beobachtung, was die Gefahr der Gesichtsfeldverengung mit sich bringt.

Zum anderen ist es ja nicht so, dass die durch das UNICEF-Konzept erfassten Indikatoren der Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen wenig fruchtbar, wenn nicht gar irrelevant wären für einschlägige theoretische Konzeptualisierungen. So wäre es beispielsweise eine große Herausforderung, die durch das UNICEF-Konzept in bisherigen Studien erfassten Indikatoren im Lichte des Capability Approach von Amartya Sen (zur Diskussion vgl. Clark, o. J.) zu betrachten. Dies würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Möglich aber ist, in der jüngsten UNICEF-Studie (Bertram, Kohl 2010) gefundene Indikatoren ins Auge zu fassen unter dem Gesichtspunkt der für bildungsrelevanten Ressourcen von Pierre Bourdieu (1983) getroffenen Unterscheidung in ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, wie das in Darstellung 5 geschieht. Die dort zu findenden Angaben basieren auf Untersuchungen, die in den Jahren 2005/2006, also nahe dem PISA 2006-Untersuchungszeitpunkt, durchgeführt wurden. PISA 2006 hatte zum wiederholten Male gezeigt, um wie viel besser in Sachen Bildung Finnland vor Deutschland steht (OECD 2007).

Die in Darstellung 5 zu findenden Ergebnisse sind nur in einem Punkte eindeutig: Beim ökonomischen Kapital (Ergebnisspalten 1-2) stehen deutsche Kinder und Jugendliche schlechter – und zwar ungleich schlechter – da als finnische. Beim sozialen (Ergebnisspalten 3-4) und kulturellen (Ergebnisspalten 5-6) Kapital hingegen ist das Bild jeweils gemischt. Bei der Interpretation des Gesamtergebnisses tauchen viele Fragen auf. Etwa die grundsätzliche, welche verschiedenen Variablen des familiären Hintergrunds denn – in welchem Land, zu welcher Zeit – diejenigen sind, die man als tatsächlich „bildungsrelevante Ressourcen“ anzusehen hat; hier herrscht Forschungsbedarf. Offen sind ferner viele Einzelfragen, etwa die, ob 20 zusätzliche Bücher bildungsrelevanter sind als ein PC oder die Beziehung zu den Eltern – in welchem Entwicklungsabschnitt – sich stärker positiv auf Bildung auswirkt als die zu Peers.

In einem Punkt aber sind die Ergebnisse in Tabelle 5 klar: Im Vergleich zu Finnland erleben Kinder und Jugendliche in Deutschland eher, dass die Familie von Sozialtransfers lebt, und seltener, dass zumindest ein Elternteil in Arbeit ist. Das hat zum einen Auswirkungen auf die Höhe der finanziellen Möglichkeiten einer Familie, die beispielsweise Nachhilfestunden ermöglichen oder aber nicht. Zum anderen darf man Auswirkungen via Modelllernen vermuten. Wer als Kind dauerhaft erlebt, dass sich von Sozialtransfers einigermaßen erträglich leben lässt, in dessen Kopf entsteht eher die Idee, „hartzen“ (deutsches Jugendwort 2009) sei eine mögliche Option fürs eigene spätere Leben. Und umgekehrt: Wer als Kind anhaltend erlebt, dass man von erarbeitetem Geld menschenwürdig leben kann, wird eher bereit sein, Anstrengungen in der schulischen Laufbahn, die zu einem berufsqualifizierenden Abschluss führen, einzugehen.

Beschränkungen des Konzepts
Das Konzept ist auf internationalen Vergleich ausgelegt, also auf den Vergleich zwischen Ländern/Staaten. Wie fruchtbar ein solch internationales Vergleichen ist, hat nicht zuletzt PISA gezeigt. Aber die PISA-Forschung lehrt auch, dass dem internationalen Vergleich ein Binnenvergleich zur Seite zu treten hat. So finden sich etwa nach Ergebnissen der PISA-Forschung hinsichtlich der Dimension „Bildung“ gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern: Sowohl hinsichtlich der PISA-Gesamtleistung als auch beim Anteil der Schüler mit unter 400 PISA-Punkten (Schwellenwert für Nichtqualifikation) und nicht zuletzt im diese beiden Größen beeinflussenden familiären Hintergrund sowie der Stärke dieses Einflusses (ausführlich Heekerens, im Druck). Diese Unterschiede erreichen in manchem Fall eine Größenordnung, die an jene zwischen Deutschland insgesamt und Finnland heranreicht. Binnendifferenzierung nach Regionen ist das Eine, um das man das UNICEF-Konzept fallweise erweitern muss.

Eine zweite ergänzende Binnendifferenzierung muss nach der Dimension „Sozialschicht“ vorgenommen werden. Die Notwendigkeit dafür könnte man ebenfalls am Beispiel der Dimension „Bildung“ demonstrieren. Sie soll hier aber am Beispiel der Dimension „Gesundheit“ illustriert werden, und zwar an Hand der Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts (ausführlich Heekerens, Ohling 2009). Von den Auswertungen der Daten, die 2003 bis 2006 erhoben worden waren, seien hier beispielhaft diejenigen referiert, die für kriminologische Fragestellungen von unmittelbarem Interesse sind. So fielen Kinder und Jugendliche aus der unteren Sozialschicht im Vergleich mit denen aus den mittleren und oberen Sozialschichten dadurch auf, dass sie häufiger sowohl Täter als auch Opfer bei Gewalthandlungen (11- bis 17-Jährige) waren und im Vergleich mit solchen aus der oberen Sozialschicht sowohl häufiger Verhaltensprobleme (Hinweise auf dissoziales und deviantes Verhalten) zeigten als auch häufiger als Täter bei Gewalthandlungen in Erscheinung traten.

Schlussbemerkungen
Das (Mess-)Konzept Child Well-Being ist für ganz unterschiedliche Professionen und Disziplinen sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht reich an Anregungen. In Deutschland wurde dies bislang hauptsächlich für die Soziale Arbeit gezeigt. Das Konzept bedarf der Weiterentwicklung, und alle Disziplinen und Professionen, die mit der (Erfassung und Verbesserung der) Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen befasst sind, können dazu beitragen, indem sie neben Stärken und Chancen auf Schwächen und Risiken hinweisen. Dazu gehört auch das Markieren bestimmter Lücken. So fehlt in den bislang realisierten Umsetzungen des Konzepts die Dokumentation sowohl von psychischen und Verhaltensstörungen als auch von delinquenten bzw. kriminellen Handlungen.

Das erste dürfte, da internationale Klassifikationssysteme (ICD-10 und DSM-IV) etabliert sind, nicht allzu schwer fallen, während sich das zweite angesichts des Fehlens eines internationalen einheitlichen „Klassifikationssystems“ schwierig gestalten dürfte. Aller Schwierigkeiten eingedenk, erscheint aber gerade unter kriminologischen Gesichtspunkten die Erfassung von dissozialem Verhalten – und dies bereits im Kindesalter – eine dringende Notwendigkeit, wie zwei neuere deutschsprachige Übersichtsarbeiten (Beelmann, Raabe 2007, Remschmidt, Walter 2009) eindrücklich gezeigt haben.

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines gleichnamigen Artikels, erschienen in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 2011, 22(1), 34-40. Wir danken der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. für die Genehmigung.

Die vollständige Literaturliste ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Die Onlinefassung dieses Beitrages enthält keine Tabellen.

Prof. em. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens war bis 2010 Hochschullehrer an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München.

Literatur
Bertram, H., Kohl, S. (2010): Zur Lage der Kinder in Deutschland 2010. Kinder stärken für eine ungewisse Zukunft. Köln: Deutsches Komitee für UNICEF.

Bradshaw, J., Hoelscher, P., Richardson, D. (2006): Comparing child well-being in OECD countries. Concepts and methods (Innocenti Working Paper No. 2006-03). Florenz: UNICEF Innocenti Research Centre.

Bradshaw, J., Hoelscher, P., Richardson, D. (2007): An index of child well-being in the European Union. Social Indicators Research, 80, 133-177.

Deutsche Shell Holding GmbH (Hrsg.) (2010): Jugend 2010 (16. Shell Jugendstudie). Frankfurt am Main.

Heekerens, H.-P., Ohling, M. (2009): Kindliches Wohlergehen – ein erweiterter Armutsbegriff. Unsere Jugend, 61, 329-338.

Klocke, A. (2000): Methoden der Armutsmessung. Einkommens-, Unterversorgungs-, Deprivations- und Sozialhilfekonzept im Vergleich. Zeitschrift für Soziologie, 29, 313-329.

UNICEF (2007): Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries (Report Card 7). Florenz: UNICEF Innocenti Research Centre.

Lutz, R., Hammer, V. (Hrsg.) (2010): Wege aus der Kinderarmut. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze. Weinheim.

No Comments

Post A Comment