fK 5/10 Salgo

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Das Beschleunigungsgebot in Kindschaftssachen

Von Ludwig Salgo

Der Faktor Zeit findet nunmehr in Kindschaftssachen des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), eine gesetzliche Verankerung. Seit „längerer Zeit“, wenn wir es genau nehmen seit 1980, finden sich im Kindschaftsrecht, seit 1991 im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII), zunehmend Elemente, die dem Zeitfaktor in der Gesetzgebung mehr oder überhaupt erstmals Aufmerksamkeit schenken. Diese Entwicklung ist alles andere als abgeschlossen, wahrscheinlich stehen wir erst an ihrem Anfang.

Das Verfahrensrecht schien lange von diesen Entwicklungen unberührt geblieben zu sein. Erst durch das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls, welches am 12. Juli 2008 in Kraft gesetzt worden war, wurde es mit dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot ernst, da es seither in § 50e FGG (schon wortgleich mit § 155 FamFG), Aufnahme fand.

Kindliches Zeitempfinden und das Rechtsstaatspostulat: „Justice delayed is justice denied“
Zwei Stränge hat diese unaufhaltsame Entwicklung: Einerseits treffen wir seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf eine wachsende Anzahl von Rechtsordnungen, welche die vom Autorenteam Goldstein, Freud und Solnit (1974) angestoßene Forderung nach einer Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens im materiellen, also im Familienrecht, aber auch im Sozialrecht und schließlich in den Verfahrensordnungen für die Gerichte aufgreifen (vgl. Heilmann, Kindliches Zeitempfinden und Verfahrensrecht, 1998). Andererseits findet unter Hinweis auf das Rechtsstaatspostulat eine grundsätzliche Debatte um „Gerechtigkeit in der Zeit“ statt, die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ebenso wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGHMR) mit Nachdruck intensiviert wird (näher hierzu MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 5 f.). Die fundamentale, zugleich banale Aussage „Justice delayed is justice denied“ – dieser (Grund-)Satz ungeklärter Provenienz (als Quellen werden Gladstone, Penn, aber auch die Magna Charta genannt: „to no one will we refuse or delay, right or justice“) – findet sich schon in einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1980 (BVerfGE 55, 349/369): Es geht um die Forderung nach „Rechtsschutz in angemessener Zeit“.

Die Bedeutung von „Zeit im Recht“ ist angesichts der Bedeutung von Zeit als einem der wichtigsten menschlichen Orientierungsmittel ein nur wenig überraschender Befund (vgl. Salgo 1987). Dass Gerechtigkeit in der Zeit verfehlt werden kann, gehört zu den weltweit diskutierten – und bisher kaum oder anscheinend nicht lösbaren – Problemen von Justiz auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Aussagen der Sozial- und Humanwissenschaften – Konsequenzen
Das Zivilrecht weist zahlreiche Zeitbezüge etwa im Vermögensrecht auf (Verjährung, Ersitzung). Das Familienrecht ist wahrscheinlich das am intensivsten ausgeformte Dauerrechtsverhältnis; hier hat das Zeitelement zahlreiche Auswirkungen, auf die, weil ich mich auf das Kindschaftsrecht konzentriere, nicht näher eingegangen werden soll. Warum hat das Zeitelement eine solche Durchschlagskraft, dass es in den bereits genannten Regelungsbereichen des Kindschafts-, Sozial- und Verfahrensrechts diese anwachsende Berücksichtigung findet?

Die Aussagen der Sozial- und Humanwissenschaften zu Bindung und Trennung im frühen Kindesalter, zu Stresserleben und Traumatisierung und über die Folgen von Instabilität und Diskontinuität in der Sozialisation haben einen so hohen Grad von Übereinstimmung und Homogenität erreicht, dass sie schon längst den Anforderungen an Qualität und Maßstabswirkung entsprechen, wie sie für den Transfer in rechtliche Handlungsstrategien für erforderlich gehalten werden. Diese fundamentalen Erkenntnisse werden bis in die jüngste Zeit immer besser abgesichert und ernsthaft von keiner der „Schulen“ bestritten oder infrage gestellt: Es ist allgemeine und durch die Gehirnforschung erst jüngst bestätigte Erfahrung, dass Kleinkinder wesentlich verletzlicher auf Veränderungen in ihren Beziehungen als ältere Kinder und Erwachsene reagieren, und dass es für jüngere Kinder eine Katastrophe bedeutet, wenn sie von ihren Hauptbezugspersonen getrennt und aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden (vgl. Brisch 2008). Es wird zugleich belegt, dass sequentielle Schädigungen durch frühkindliche Traumata (zumeist im elterlichen Haushalt), die inzwischen mit bildgebenden und biogenetischen Verfahren nachgewiesenwerden können, sich tief ins Gehirn „eingebrannt“ haben (ebd.). Dass traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit – Misshandlungen, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch – das Depressionsrisiko von Menschen zeitlebens erhöhen, ist aus epidemiologischen Studien bekannt (vgl. Stiftung zum Wohle des Pflegekindes 2005).

Die junge Wissenschaft der Epigenetik erklärt jetzt endlich, wie diese prägenden Einflüsse dauerhaft Spuren in Körper und Geist hinterlassen. Sie verändern molekularbiologische Strukturen, die wie Schalter an den Genen sitzen und darüber wachen, ob ein Gen aktiv werden kann der nicht. Der hier seinen Minderjährigen gegenüber durch besondere Schutzpflichten gebundene Staat wird durch diese humanwissenschaftliche Erkenntnisse zur Tätigkeit gezwungen. Bei aller Vorsicht lässt sich bereits sagen, dass in diesem größeren Zusammenhang auch die verfahrensrechtlichen Reformen, von denen ich mich zentral nur mit dem Vorrangs- und Beschleunigungsgebot hier befasse, stehen.

Zwar wird Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht müde, den Vorrang des Kindeswohls hervorzuheben, zu dessen besonderer Beachtung sich die Bundesrepublik nicht zuletzt durch die Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat; jedoch schien diese Generalklausel des Kindschaftsrechts zu unkonturiert, um eigentlich bereits in ihr enthaltene Implikationen für die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens zu entfalten. Zudem stellt die Erschließung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Kindeswohl“ immer wieder eine enorme, oft zeitaufwändige Herausforderung dar. Wenn auch kein Gesetzgeber auf diese Generalklausel verzichten kann, finden wir zahlreiche Beispiele für die Entlastung dieser Generalklausel durch bereichsspezifische Regelungen auf der materiellrechtlichen und nun eben endlich auch auf der verfahrensrechtlichen Ebene. Rechtstatsachenforschung, aber auch allgemeine Lebenserfahrung, lassen meines Erachtens nachfolgende Schlussfolgerung zu: „Die Zeit spricht einfacher als Worte. Die Botschaft, die sie bringt, ist laut und klar hörbar. Weil Zeit weniger manipulierbar ist als Sprache, kann sie weniger leicht verzerrt werden. Sie kann die Wahrheit hinausschreien, wo Worte lügen“ (Nowotny 1989, S. 7).

Um nochmals auf das kindliche Zeitempfinden zurückzukommen, sei dieses mit einer grundlegenden Aussage des bereits erwähnten Autorenteams Goldstein, Freud und Solnit veranschaulicht: „Kinder sind anders als Erwachsene in Bezug auf ihre Einstellung zur Zeit. Der normale Erwachsene misst den Ablauf der Zeit mittels Uhr und Kalender, während Kinder die Dauer eines Zeitraums je nach Dringlichkeit ihrer Triebwünsche beurteilen. Jeder Aufschub in der Beurteilung eines Triebwunsches erscheint ihnen darum endlos; dasselbe gilt für die Dauer der Trennung von einem Liebesobjekt. (Das Kleinkind) erkennt als Eltern diejenigen Personen an, die von Stunde zu Stunde und Tag für Tag seine wichtigsten Körperbedürfnisse befriedigen, seine Gefühle erwecken und beantworten und für sein physisches und psychisches Wachstum und Gedeihen Sorge tragen“ (Goldstein, Freud, Solnit 1974, S. 18, 39 f).

Nichtentscheiden ist auch Entscheiden und die Gefahren faktischer Präjudizierung
Insbesondere Beteiligte und ihre Anwälte kennen aus ihrer Praxis die Nichtbescheidung von Anträgen, auch von Eilanträgen; faktisch bedeutet diese richterliche Verhaltensweise die Ablehnung für die Zeiträume seit Eingang des Antrags bis zur dann hoffentlich irgendwann ergehenden Bescheidung. Was kann aber in der Zwischenzeit ohne gerichtliche Entscheidung in den unterschiedlichen Fallkonstellationen eintreten?
– Ein nicht einverständlich, also widerrechtlich herbeigeführter Aufenthaltsort bleibt aufrechterhalten.
– Umgang findet nicht statt, obwohl von ihm positive Wirkungen ausgehen könnten, oder er findet statt, obwohl von diesem Gefährdungen ausgehen sollen.
– Über Maßnahmen zur Abwehr von Kindeswohlgefährdungen wird nicht entschieden, d. h. ein Gefährdungszustand bleibt aufrechterhalten.
– Oder falls das Jugendamt zum Instrument der Inobhutnahme greift, die Eltern jedoch widersprechen, bleibt dieser ungeklärte Schwebezustand mit massiven Grundrechtseingriffen aufrechterhalten, weil über die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme letztlich nur der Familienrichter entscheidet, auch wenn es sich um einen Verwaltungsakt der Kinder- und Jugendbehörde handelt.
– Ein fest in einer Pflegefamilie verwurzeltes Kind wird nach einem Besuch bei den Eltern nicht zu den Pflegeeltern zurückgebracht und seines Lebensmittelpunktes beraubt.

Kleinkinder „messen“ diese Zeiträume anders als Erwachsene. Gemeint ist das spezifisch kindliche Zeitempfinden, dem eine Woche als Ewigkeit erscheinen mag, je nach Alter des Kindes, mit den entsprechenden psychischen Belastungen durch lange Verfahrensdauer und Unsicherheit, möglicherweise mehrfachen Wechsel. Die Nichtentscheidung in diesen Zeitphasen schafft Faktizität. Die Gestaltung des Verfahrens in Kindschaftssachen muss daher der Gefahr einer faktischen Präjudizierung Rechnung tragen (vgl. MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 3: „Denn jede das Kind betreffende Verfestigung der tatsächlichen Verhältnisse ist im Rahmen der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl von rechtlicher Relevanz. Es besteht mithin die Gefahr, dass das gerichtliche Verfahren alleine durch Zeitablauf und durch die währenddessen entstehenden, sich verfestigenden bzw. sich verändernden tatsächlichen Bindungs- und Beziehungsverhältnisse entschieden wird und nicht durch eine das Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt abschließende gerichtliche Entscheidung. Die gerichtliche Entscheidung kann sich nur noch, nicht mehr konstitutiv, sondern lediglich deklaratorisch, den faktischen Gegebenheiten anpassen, sollen die legislatorischen Vorgaben beachtet werden, was auch bedeutet, dass die Rechtsposition eines Beteiligten alleine durch Zeitablauf verloren gehen kann.“) Dies kann und wird häufig die „am wenigsten schädliche Alternative“ sein und in dieser Situation noch am ehesten dem Kindeswohl entsprechen.

Auf solche Entwicklungen trifft man vor allem in Verfahren, die die elterliche Sorge betreffen, sind doch die vom Faktor Zeit beeinflussten Kriterien zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl, hier vor allem Bindung und Kontinuität, von besonderer Bedeutung. Es offenbart sich aber auch in Verfahren, die das Umgangsrecht betreffen: Nicht nur, weil jeder Tag der Nichtbescheidung eines Umgangsantrages dessen inzidente Ablehnung für die Vergangenheit in sich trägt, sondern weil auch hier die Möglichkeiten der Aufrecherhaltung bzw. Pflege der Beziehungen vom Zeitablauf beeinflusst werden. In den inzwischen auf 45.000 angestiegenen Umgangsverfahren besteht häufig ein Klima, welches an erbittert geführte Gerichtsverfahren um Eigentum und Besitz erinnern. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass Umgang um fast jeden Preis und mit allen Mitteln – sogar unter Umgehung des Gewaltverbots zur Durchsetzung von Umgang – durchgesetzt werden soll, so dass immer wieder „Ergebnisse“ solcher erbittert geführter Streitigkeiten entstehen, die die Beteiligten langfristig noch mehr einander entfremden als es vor dem Gerichtsverfahren der Fall war. Manchmal wäre die Nichtintervention hilfreicher als die aufgebauten Zwangskontexte.

Unterschiede im Verfahren: Kindeswohl im Elternstreit und Kindeswohlgefährdung
Schließlich offenbart sich die Gefahr der faktischen Präjudizierung besonders deutlich in den Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls in den Fällen der Fremdunterbringung des Kindes, denn eine Rückführung kommt regelmäßig nur innerhalb eines für das Kind vertretbaren Zeitrahmens (vgl. § 37 Abs. 1 S. 2 SGB VIII) in Betracht. Hier ist es aber weniger die Dauer der Gerichtsverfahren, die unübersehbare Fakten schaffen, als das Scheitern der Herstellung von nicht mehr gefährdenden Lebensumständen im elterlichen Herkunftsmilieu innerhalb eines aus kindlicher Zeitperspektive vertretbaren Zeitrahmens.

Nichtbescheidung oder Nichtentscheidung kann aber auch dazu führen, dass Gefährdungssituationen weiterbestehen. Eine Aussetzung von Verfahren in Kindschaftssachen ist nur im Ausnahmefall möglich und zu befristen. Ein bewusstes, mit Einverständnis aller Beteiligten verabredetes Zuwarten im Hinblick auf bestimmte Entwicklungen – soweit ein solches mit dem Kindeswohl vereinbar erscheint – ist etwas ganz anderes als die Nichtbescheidung bzw. Nichtentscheidung. Diesen Weg beschreitet das FamFG z. B. in § 166 Abs. 3: Soweit es verantwortbar erscheint, sieht das Gericht vorläufig von zivilrechtlichen Kindesschutzmaßnahmen ab, um seine Entscheidung „in der Regel nach drei Monaten (daraufhin) zu überprüfen“, ob die zur Beendigung der Kindeswohlgefährdung angebotenen sozialrechtlichen Maßnahmen angenommen wurden und entsprechende Wirkungen entfalten konnten.

Jedes Kind hat ein natürliches Grundbedürfnis nach dauerhaften stabilen und gesicherten inneren und äußeren Lebensverhältnissen. Länger dauernde Unsicherheiten wie auch traumatische Erlebnisse prägen sich daher in die Persönlichkeitsstruktur eines Kindes ein, so dass nicht nur die Gefahr besteht, dass es für zwischenmenschliche Regungen wie Mitgefühl, Liebe, Achtung und Ehrfurcht unempfänglicher wird, sondern auch Entwicklungsverzögerungen, sonstige Entwicklungsstörungen und insbesondere beim Kleinkind Veränderungen im Gehirn mit langfristigen Folgen zu befürchten sind.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und Bundesverfassungsgericht
Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in § 155 FamFG dient nach dem Willen des Gesetzgebers und unter dem Druck der (Entschädigungs-)Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch der Einhaltung der sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergebenden Anforderungen an die Dauer des Verfahrens in Kindschaftssachen, da nach dieser ein Anspruch auf Entscheidung binnen angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 EMRK) sowie auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) besteht (vgl. MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 5).

Zudem soll das Beschleunigungsprinzip die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllen (vgl. nur BVerfG NJW 2001, S. 961 f). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in ständiger Rechtsprechung deutlich gemacht, dass die Verfahrensdauer in Kindschaftssachen nur dann im verfassungsrechtlichen Sinne angemessen ist, wenn sie mit Blick auf die Besonderheiten des kindlichen Zeitempfindens den Verfahrensgegenstand, das Alter des betroffenen Kindes, die Gefahren der faktischen Präjudizierung sowie die Belastungen und Unsicherheiten berücksichtigt. Es kommt hinzu, dass das Verfahren so gestaltet werden muss, dass nicht die Gefahr der Entwertung materieller Grundrechtspositionen, insbesondere derjenigen aus Art. 6 GG, besteht (näher hierzu MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 6).

Kalkulierbarkeit und Prognostizierbarkeit staatlichen Handelns im Recht der Eltern-Kind-Beziehung
Kalkulierbarkeit und Prognostizierbarkeit staatlichen Handelns werden auch und gerade im Recht der Eltern-Kind-Beziehung zu Postulaten, die nur unter Berücksichtigung der Komplexität dieser Beziehung einlösbar sind. Vorhersehbarkeit ist nicht nur ein rechtsstaatliches Gebot zur Fairness gegenüber allen Beteiligten, sie trägt auch zur Prävention jahrelanger, kostspieliger und vor allem belastender Verfahren bei, weil zeitgerichtete Vorgaben und Zäsuren eindeutigere Maßstäbe für Selbstregulierung beinhalten.

Gesetzliche Flankierung und Wirkung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots
Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot (Abs. 1) wird durch verschiedene weitere Regelungen im FamFG unterstützt. Zu einer kürzeren Verfahrensdauer sollen – der frühe Termin (Abs. 2),
– die Möglichkeit der Anordnung des persönlichen Erscheinens (Abs. 3),
– eine Kostentragungspflicht, wenn ein Beteiligter durch schuldhaftes Verletzen seiner Mitwirkungspflicht das Verfahren erheblich verzögert hat (vgl. § 81 Abs. 2 Nr. 4),
– die Pflicht zur Erörterung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung in Kindschaftssachen, die den Aufenthalt, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen (§ 156 Abs. 3 S. 1),
– das nicht anfechtbare Gebot des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zur Teilnahme an einer Beratung oder schriftlichen Begutachtung (§ 156 Abs. 3 S. 2),
– die Pflicht zur unverzüglichen Prüfung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung in Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB (vgl. § 157 Abs. 3),
– die frühzeitige Bestellung des Verfahrensbeistandes (§ 158 Abs. 3 S. 1) sowie
– die Fristsetzung bei schriftlicher Begutachtung (§ 163 Abs. 1)
beitragen.

Die Praxis wird zeigen, ob künftighin durch diese diversen verfahrensrechtlichen Instrumente eine angemessene Verfahrensdauer in Kindschaftssachen gewährleistet wird. Hier bietet sich ein breites Feld für die Rechtstatsachenforschung über die Wirkungen des FamFG an. Eigentlich müsste es den Gesetzgeber interessieren, ob die von ihm intendierten Reformziele auch tatsächlich erreicht werden. Einen hinreichenden Rechtsschutz gegen Verfahrensverzögerungen versagt das deutsche Gesetzesrecht den Verfahrensbeteiligten derzeit noch. Den Beteiligten bleibt als Primärrechtschutz im Wesentlichen nur die so genannte Untätigkeitsbeschwerde (hierzu MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 69 m.w.N). Der Gesetzgeber hat dieses strukturelle Defizit erkannt und es liegt inzwischen ein Referentenentwurf über den Rechtschutz bei überlangen Gerichtsverfahren vor. Nach wie vor fehlt es bislang an der Aufnahme eines expliziten Beschleunigungsgebotes im SGB VIII, welches sich an die öffentlichen Träger der Jugendhilfe wendet.

Der Anwendungsbereich des § 155 FamFG erstreckt sich auf alle Kindschaftssachen unabhängig vom Alter. Sie gilt auch für die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung trotz § 167 FamFG, da hier der Aufenthalt des Kindes betroffen ist. Die Norm gilt erst recht
– in Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit einem der in Abs. 1 genannten Regelungsgegenstände,
– in entsprechenden Vollstreckungsverfahren,
– in den Verfahren auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe,
– bei inzidenten Zuständigkeitskonflikten (nach § 5),
– in Befangenheitsverfahren (im Sinne von § 6),
– im Beschwerdeverfahren (vgl. MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 14, 41).

Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot erfasst nicht nur die richterliche Tätigkeit, sondern auch die organisatorischen Abläufe in der Geschäftsstelle: „Schnelle Terminierung und Entscheidung nützen nichts, wenn sich Geschäftsstelle und Schreibdienste als Bermuda-Dreieck für wertvolle Zeit erweisen“( Coester, 2009, S. 39, 45). Das Vorranggebot bringt die erfassten Fallkonstellationen auf die Überholspur, weil diese gegenüber den anderen Familiensachen bevorzugt und damit früher zu erledigen sind: bevorzugte Bearbeitung, verfahrensfördernde Maßnahmen, Organisation der persönlichen Anhörungen nach §§ 159, 160 FamFG, die mit dem frühen Termin verbunden werden können, etc.

Verfahrensplanung und Verfahrensmanagement werden somit auch zu unausweichlichen Aufgaben familienrichterlicher Tätigkeit. Es empfiehlt sich für die Gerichte Zeitpuffer vorzuhalten, weil ansonsten Aufhebungen und Verlegungen von bereits anberaumten Terminen in nicht vorrangigen Verfahren notwendig werden könnten, was auf großen Unmut stoßen wird. Bei Terminkollisionen mit Verfahren von nicht gleichem Rang haben die bevorrechtigten Verfahren Vorfahrt. Somit haben etwa Ehesachen, Unterhaltssachen oder Güterrechtssachen das Nachsehen, weil sie im Konfliktfall nachrangig zu behandeln sind. Eilverfahren können auch einen bevorzugten Rang beanspruchen, ebenso Verfahren über die Unterbringung Minderjähriger, Verfahren nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) sowie Verfahren in den Bereichen Wohnungszuweisung und Gewaltschutz (so auch MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 25).Bewusst sind hier „zwingende“ und nicht nur „erhebliche“ Gründe für eine Terminsverlegung gefordert.

Nur kein „kurzer Prozess“ – Gerechtigkeitspostulate im Kindschaftsrecht
Mit dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot geht es um die Verkürzung der Verfahrensdauer, aber nicht um den „kurzen Prozess“. Das wäre sprichwörtlich ein „das Kind mit dem Bade ausschütten“. „Eine Preisgabe von rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien und des Gebots der Einhaltung der einfachgesetzlichen Verfahrensvorschriften in Kindschaftssachen sind mit der Einführung des Beschleunigungsgebotes nicht verbunden. Nach wie vor muss das Familiengericht sein Verfahren so gestalten, dass es möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann. In diesem Zusammenhang unabdingbare Verfahrensverzögerungen müssen hingenommen werden. Jedoch trägt jede Verfahrensverzögerung auf Grund der genannten Nachteile der Verfahrensdauer die widerlegbare Vermutung in sich, dem Kindeswohl abträglich zu sein. Diese Vermutung muss zum einen bei jeder Maßnahme, die zu einer Verlängerung des Verfahrens führt, insbesondere unter dem Blickwinkel des Kindeswohls widerlegt werden können. Zum anderen müssen für das Kindeswohl abträgliche Situationen und die Gefahr, dass während der Dauer des Verfahrens vollendete Tatsachen geschaffen werden oder Gefährdungssituationen aufrechterhalten bleiben, gegebenenfalls durch den Abschluss eines Zwischenvergleichs oder den Erlass einer einstweiligen Anordnung, erforderlichenfalls mit deren Befristung, reduziert werden“ (MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 26).

Die Gerechtigkeitspostulate der verteilenden Gerechtigkeit, eine Sanktionierung von Fehlverhalten, die klassischen zivilrechtlichen Ausgleichsmechanismen sind im Familienrecht, insbesondere im Kindschaftsrecht immer wieder von begrenzter Bedeutung oder kontraproduktiver Wirkung, solange wir am Vorrang des Kindeswohls festhalten wollen. Wie schon gesagt, es geht immer wieder „nur“ um das Finden der „am wenigsten schädlichen Alternative“. Ehrgeizige richterliche Interventionen zur Wiederherstellung von „Gerechtigkeit“ und zur vermeintlichen Sicherung des Kindeswohls, waren diesem oft abträglich oder sie haben aus einer für das Kind ungünstigen eine dessen Wohl gefährdende Situation herbeigeführt (vgl. Salgo, Grenzen der Staatsintervention zur Durchsetzung des Umgangsrechts – Anmerkungen zur Entscheidungen des AG Frankfurt am Main, Abt. Höchst, FamRZ 2004, 1595 und des OLG Frankfurt am Main, FamRZ 2002, 1585, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S. 891-910).

Das Kindeswohl darf daher in den Fällen der so genannten ertrotzten Kontinuität oder der mutwilligen Verzögerung des Verfahrens durch einzelne Verfahrensbeteiligte nicht zum Zwecke der Herstellung einer vermeintlich „gerechten“ Lösung in den Hintergrund gedrängt werden, um ein Fehlverhalten zu sanktionieren – nach dem Motto: Fiat iustitia pereat infans.

Vor einer schematischen Handhabung des Beschleunigungsgebots, vor einer schnellen Entscheidung um jeden Preis muss deutlich gewarnt werden. Kindeswohlorientierung und rechtsstaatliche Anforderungen an die Durchführung des Verfahren müssen sensibel austariert, ausbalanciert werden; das BVerfG würde hier bei Zielkonflikten dieser Art und Schwere die Formel von der „praktischen Konkordanz“ bemühen. Ein stillschweigen des Zuwarten mit dem Verfahrensabschluss oder die Hoffnung, dass sich etwas mit dem Zeitablauf von selbst erledigen wird, solche Haltungen und Handhabungen sind mit dem Beschleunigungsgebot unvereinbar: Nichtentscheiden ist auch Entscheiden.

Sind die auf Grund des hier geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes zu erhebenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, besteht die Pflicht zur Entscheidung (so auch MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 29). Hier könnte sich ein zusätzlicher Ansatz nicht nur für die Diskussion um die Untätigkeitsbeschwerde ergeben, sondern auch für Befangenheitsanträge, die mit Untätigkeit, dem Unterlassen von verfahrensfördernden Maßnahmen und eben der Nichtentscheidung entscheidungsreifer Verfahren begründet werden könnten (vgl. etwa OLG Bamberg FamRZ 2001, 552). Alter, Verfahrensdauer, Fallkonstellation, angestrebte Verfahrensziele, (Vor-) Belastungen, Traumatisierungen, die Gefahr von Retraumatisierungen und andere Faktoren beeinflussen die vom Beschleunigungsgebot im konkreten Einzellfall ausgehenden Anforderungen an die Verfahrensgestaltung.

Die Anforderungen an den Familienrichter für eine differenzierte und nicht schematische Handhabung des Beschleunigungsgebots sind gewiss hoch. Der Richter bleibt dennoch Richter und wird nicht zum Psychologen. Kenntnisse über humanwissenschaftliche Grundannahmen sollten indes Voraussetzung familienrichterlicher Tätigkeit sein. Aber auch diese Forderung ist nicht besonders originell oder neu: Solches wurde bereits 1979 vom Bundestag, danach vom BVerfG, immer wieder von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen und erst jüngst von einer vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Arbeitsgruppe eingefordert. Welche Chancen hat eine solche Forderung angesichts der zahlreichen materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Reformen der jüngsten Zeit, die fast alle Fortbildungskapazitäten zu absorbieren scheinen?! Die Vorbereitung auf eine Tätigkeit als Familienrichter lässt nach wie vor sehr zu wünschen übrig und gerät in Widerspruch zu den Voraussetzungen der Fachanwaltschaft, die zudem die turnusmäßige Fortbildung sicherstellen. Einerseits: Die Beschleunigung des Verfahrens entspricht im Zweifel dem Kindeswohl. Andererseits begrenzt gerade das Kindeswohl eine schematische Handhabung des Beschleunigungsgebotes (näher hierzu MüKo-FamFG/Heilmann, § 155 Rn 31 ff). Aber vor gelegentlichen Äußerungen, die Gasgeben und Bremsen zugleich fordern, sie sprechen von Beschleunigung und Entschleunigung, ist deutlich zu warnen. „Zum Zuwarten braucht die Praxis keine Ermunterung, wohl aber zur Beschleunigung“ (Coester, a. a. O., S. 47).

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. Ludwig Salgo ist Hochschullehrer am Institut für Wirtschafts- und Zivilrecht der Goethe-Universität Frankfurt/Main und am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt/Main.

Vorrang- und Beschleunigungsgebot (§ 155 FamFG)
(1) Kindschaftssachen, die den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen, sowie Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls sind vorrangig und beschleunigt durchzuführen.
(2) Das Gericht erörtert in Verfahren nach Absatz 1 die Sache mit den Beteiligten in einem Termin. Der Termin soll spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens stattfinden. Das Gericht hört in diesem Termin das Jugendamt an. Eine Verlegung des Termins ist nur aus zwingenden Gründen zulässig. Der Verlegungsgrund ist mit dem Verlegungsgesuch glaubhaft zu machen.
(3) Das Gericht soll das persönliche Erscheinen der verfahrensfähigen Beteiligten zu dem Termin anordnen.

No Comments

Post A Comment