fK 5/10 Resch

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Selbstentwicklung und Zeiterleben im Kindes- und Jugendalter

Von Franz Resch

Jetzige Zeit und vergangene Zeit
sind vielleicht gegenwärtig in künftiger Zeit
und die künftige Zeit enthalten in der vergangenen.
Ist alle Zeit auf ewig gegenwärtig
wird alle Zeit unerlösbar!

(T.S. Elliot, Vier Quartette, Burnt Norton)

Das Geheimnis der Zeit bei Kindern und Jugendlichen erschließt sich nur dem Geduldigen. Zeit ist in der postmodernen Beschleunigung zur Kostbarkeit geworden. Aus persönlicher Sicht und Erfahrung ist sie etwas, das man sich bewahren, einteilen, stehlen, totschlagen oder jemandem wie zum Beispiel Partnern oder Kindern schenken kann.

Die Diskussion, ob Zeit nur in unseren Gedanken erzeugt wird oder tatsächlich existiert und als echte Relation durch uns erkannt wird, kann nicht wissenschaftlich geführt werden, sondern gibt für allerlei ideologische Streitpunkte Spielraum und soll daher nicht Gegenstand dieser Erörterung sein. Die Auswirkungen der Zeit spüren wir allemal.

Zeit hat eine Form. Sie ist ein Konstrukt, das Ordnung schafft, Veränderung misst, Abläufe, Geschehnisse und Szenen umschreibt und einander zuordnet. Zeit entwickelt sich wie die leibliche und seelische Person als subjektive Gestalt. Zeit bedarf einer besonderen Wahrnehmung. Sie ist eine Erkenntnis – eine Erkenntnis von Beziehungen. Die Erkenntnisfähigkeit des Kindes für Raum und Zeit entwickelt sich erst. Der Mensch kann Zeit nicht unmittelbar wahrnehmen, wie Schmerz, Licht oder Raum. Zeit muss aus Raum und Bewegung – aus Veränderungsvorgängen – erschlossen werden. Dazu bedarf es komplexer kognitiver Voraussetzungen. Das Kind lebt also in einer anderen subjektiven Zeit als der Erwachsene. Ein paar Aspekte dieser Entwicklung sollen aufgegriffen und erörtert werden.

Es soll (1) von Gedächtnis und seiner Entwicklung die Rede sein. Zeitgestalt als Veränderung, Rhythmus, Melodie oder Ablauf hat eine diachrone Form. Zeit erschließt sich in einem Hintereinander von Ereignissen, die in einem unumkehrbaren Verhältnis zueinander stehen. Die Erkenntnis einer Zeitgestalt bedarf also eines Gedächtnisses, das ein „früher“ mit einem „später“ vergleichen kann. Zeit kann ohne Gedächtnis nicht erkannt werden. Davon soll die Rede sein.

Zeit hängt (2) eng mit dem Lebendigen in der Welt zusammen. So vollziehen sich alle biologischen Prozesse in der Zeit; sie sind nur in einem Kontext von Vergangenheit und Zukunft denkbar. Zeit macht ohne das Lebendige auch keinen Sinn, denn Zeit ist eine Erkenntnis, die Orientierung für Handlungen schafft. Für alles Lebendige ist die Zeit das Kernproblem, weil Leben immer einen Anfang und ein Ende hat. Über Zeit nachzudenken, ist das Denken über Geburt, Entwicklung und Tod. Zeit als Endlichkeit ist am eigenen Leben jedoch gar nicht so schmerzlich erkennbar, als sie am „DU“ zu erleben ist. So erleben wir den Tod primär als Trennung von einem „DU“. Dort liegt die eigentliche Erkenntnis und Einsicht, weil unser Erleben ja mit dem eigenen Ende erlischt. Aber das Überleben, der erlittene Verlust des „Du“, das noch nicht so weit sein ist das schlimme Auszuhaltende des eigenen Lebens.

Levinas (1989, S. 17) sagt. „dass die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjektes sondern das Verhältnis des Subjektes zum anderen ist.“ Das kleine Kind ist einfach in der Zeit, wie es von Beginn an in der Beziehung zu seinen Eltern ist; in Beziehung zu dem großen „DU“ steht, das es gezeugt und geboren hat. Aus diesem Sein in der Zeit als Beziehungsdasein resultieren die frühen Zeiterfahrungen als Beziehungserfahrungen. Die eigenen biologischen Rhythmen entfalten sich immer in einem Beziehungsrahmen intuitiver elterlicher Fürsorglichkeit. Der Säugling würde ohne diese Beantwortung seine frühen rhythmischen Bedürfnisse von Hunger, Ausscheidung, Schlaf und Wachheit nicht überleben!

Von diesen frühen Zeitabläufen, Koordinaten und Taktgebern soll ebenfalls die Rede sein. Nur durch Synchronizität und Kontingenz gelingt der gemeinsame Tanz zwischen Bezugsperson und Kind, gelingt die emotionale Abstimmung.

Die Abwandlung des Zeiterlebens bei psychischen Störungen kann uns (3) diagnostische Aufschlüsse geben. Zeitaspekte in der Therapie bei Kindern und Jugendlichen sollen (4) die Erörterung abschließen.

Zeit und Gedächtnis
Unter neurobiologischen Aspekten gehen wir davon aus, dass das Gehirn selbst Zeit als Ordnungsprinzip verwendet. Es gibt ein Phänomen der neuronalen Oszillation, das dadurch zustande kommt, dass jedes Neuron durch ein periodischen Aufeinanderfolgen von Erregungs- und Hemmungsphasen in neuronalen Netzwerken Systemzustände herstellt, während deren alle eintreffenden Reize jeweils so behandelt werden, als wären sie gleichzeitig angekommen. Dadurch entstehen Zeitfenster, die etwa in einem Dreißigmillisekundentakt sich öffnen und schließen. Nur während der Erregungsphasen werden ankommende Reize weiterverarbeitet. Alle Reize die in diesen dreißig Millisekunden eintreffen werden sozusagen synchronisiert; d. h. ungleichzeitige Reize gleichzeitig gemacht (Kasten, 2001). In einfallsreichen Experimenten, in denen akustische Klicks einer Versuchsperson rechts und links zu unterschiedlichen Zeitpunkten dargeboten wurden, konnte festgehalten werden, dass erst oberhalb von dreißig Millisekunden eine so genannte Ordnungsschwelle zu fassen war, ab der es gelang, die zeitliche Reihenfolge der Klicks richtig anzugeben.

Weiters scheint es auch eine zeitliche Begrenzung des hier und jetzt im Bewusstsein zu geben (Kasten, 2001). An mehreren Beispielen konnte nachgewiesen werden, dass das Gehirn eine Umschaltzeit von etwa drei Sekunden für Wahrnehmungsprozesse besitzt. Dies kann beispielsweise bei der Wahrnehmung zweideutiger Reizkonfigurationen (Vexierbilder) nachgewiesen werden. Neuropsychologische Forscher gehen davon aus, dass auch Verszeilen und musikalische Motive unbewusst auf diese biologisch fundierten drei Sekunden Zeittakte zugeschnitten sind.

Hier zeigen sich bereits Zusammenhänge mit dem Gedächtnis: Die während der Öffnungszeit eines Dreisekundenfensters eingetroffenen Informationen können nur weiterverarbeitet und gespeichert werden, wenn sie inhaltlich mit nachfolgenden bzw. vorausgegangenen Zeitfenstern und deren Inhalten verglichen und vernetzt werden (Grüsser, 1992, Kasten, 2001).

Wir unterscheiden zwei Formen von Gedächtnis, die ich im Folgenden näher erläutern möchte. Bereits ab Geburt besteht das implizite Gedächtnis, das die Grundlage von Handlungsroutinen und mentalen Modellen ist. Demgegenüber entwickelt sich das explizite Gedächtnis erst in der Mitte des zweiten Lebensjahres so weit, dass Speicherungen von Szenen und Lerninhalten auf bewusste Weise möglich werden (Köhler, 1998).

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Entwicklung des Selbst im Sinne einer Selbsterkenntnis mit Benennung des eigenen Namens und das Erzeugen von Geschichten über die eigene Person ab diesem Zeitpunkt möglich werden. Wir sprechen vom Stadium des narrativen Selbst. Erst ab dem Ende des dritten Lebensjahres ist das Gedächtnis so weit entwickelt, dass wir von autobiographischen Gedächtnisfunktionen sprechen können, die eine Einordnung von unterschiedlichen Erlebnisinhalten zur eigenen Person auf einer Zeitachse möglich macht (Resch, 2001).

Wir gehen davon aus, dass das Kind bereits von Geburt an ein Zeitgefühl besitzt, ebenso wie es ein Selbstgefühl für eigene Aktionen und Wahrnehmungsvorgänge hat. Das Kind der Frühzeit lebt jedoch in der Zeit ohne darüber zu reflektieren. Trotzdem sind genaue Zeitabstimmungen mit Bezugspersonen möglich. Ich werde darauf später noch genauer eingehen. Für eine umfassende zeitliche Orientierung bedarf es einer Funktionstüchtigkeit des limbischen Systems und offenbar einer Aktivität von Neuronennetzen im Bereich der nichtdominanten, also zumeist rechten Hirnhälfte. Demgegenüber sind für die periodische Abfolge vegetativer Funktionen im Sinne von zirkadianen Rhythmen in erster Linie Neuronennetze im Zwischenhirn (Hypothalamus) zuständig.

Wenn wir heute in der Postmoderne von einer „Krise der Zeiterfahrung“ sprechen (Zoll, 1988, zitiert nach Kasten, 2001), so müssen wir uns vor Augen führen, wie der subjektive Zeitbegriff als Zeiterfahrung wirksam wird. Zeit ist bereits in den mentalen Modellen des Kleinstkindes enthalten; in jeder Vorhersage, in jeder Logik des „Vorher/Nachher“, im Erkennen von Sinn in Abläufen liegt eine Zeiterfahrung versteckt. Zeit ist also bereits im impliziten Gedächtnis als Erfahrung gespeichert; Zeit wird aber erst im episodischen und autobiographischen Gedächtnis explizit gemacht. Dann entsteht der geschichtliche Zeitbegriff mit seinen Deutungen und Verknüpfungen nach Sinn und Inhalt. Es entstehen Erlebnisstrukturen mit dem Stoff einer empfundenen Zeit. Tempo, Hektik, Leere und glückliche Erfüllung geben dem Gewesenen spezifische persönliche Bedeutung.

Das Leben ist als Spirale zu denken, im persönlichen Blick und Erleben zyklisch durch zirkadiane Rhythmen, Tag, Nacht, Jahreszeiten und tägliche Rituale, gliedern unsere Erfahrungen. Darin liegt das Prinzip der Wiederholbarkeit; die Hoffnung eine versäumte Gelegenheit nachzuholen; etwas Missglücktes verbessern zu können oder sich einem Rhythmus anheim geben zu wollen. Aber das Leben schreitet auch unaufhaltsam voran, es lässt uns altern und Chancen verpassen, es macht Schönes unwiederbringlich und bewirkt, dass Zerstörerisches nicht wieder gut zu machen ist. Diese Zeiterfahrung hat etwas Unwiederbringliches und Irrreversibles und lässt Zeit als einen Pfeil erscheinen. Wir sprechen auch von einem linearen Zeitbegriff. Das Verständnis für lineare und zyklische Zeit entwickelt sich parallel aus der kindlichen Erfahrung.

Die periodische Zeit gibt Hoffnung und Sicherheit in der Verlässlichkeit der Wiederkehr; sie wirkt aber auch katastrophal bei der Perpetuierung des Mangels, in wiederholten Traumata und repetitiver Sorge. Die lineare Zeit gibt Hoffnung auf Veränderung bei Kontinuität der Erfahrung. Über die Kohärenz der Gefühlszustände und die Kontinuität des eigenen Erlebens entsteht Sicherheit. Die lineare Zeit trägt aber auch das Ende glücklicher Momente in sich und führt uns in die Unausweichlichkeit des Todes, sie wird katastrophal bei einem Bruch der Kontinuität der Person, wie wir es beispielsweise in den Identitätskrisen der Adoleszenz oder den Psychosen fassbar machen können. Das Gefühlschaos zerstört periodische und lineare Zeit. Bei einer ersten Beschäftigung mit dem Zeitbegriff dachte ich, dass zyklische Zeit beruhigend ist und Geborgenheit vermittelt, während die lineare Zeit kalt und vergänglich ist. Aber bei genauer Beschäftigung mit dem Phänomen zeigt sich, dass jede subjektive Zeit, ob linear oder zyklisch, ihr Hoffnungspotenzial und ihre katastrophalen Auswirkungen haben kann.

Zeit und Entwicklung
Der Umgang des Kindes mit Zeit kann kognitiv, emotional und aktional beschrieben werden. Kognitiv handelt es sich um die Entwicklung von Zeiterkenntnis, demgegenüber ist das Zeitgefühl zu beschreiben, das unmittelbare Auswirkungen auf die zeitliche Handlungsorientierung besitzt und damit deutlich macht, wie das Kind mit Zeit umgeht (Kasten, 2001).

Die Ausbildung der Zeiterkenntnis folgt den Stadien der kognitiven Entwicklung von Piaget (1973). Im senso-motorischen Stadium, das von der Geburt bis etwa zum Alter von zwei Jahren reicht, bilden sich die mentalen Repräsentationen aus. Schon in den ersten Lebensmonaten können Kleinkinder offenbar auf Unterschiede in der Zeitdauer von Ereignissen reagieren. Vor allem wenn diese direkt mit ihren eigenen Handlungen verknüpft sind. Zeitstrukturen, wie z. B. die Reihenfolge des Auftretens von Ereignissen werden gebildet: So können Ereignissequenzen zu einem sinnhaften Ablauf integriert werden, beispielsweise Hungergefühläußerungen durch Schreien, Reaktion durch gestillt werden und Erlangen von Befriedigung durch Sättigung. Solche Handlungszyklen können antizipiert werden, so dass das Kind gegen Ende des ersten Lebensjahres schon das nächste Ereignis der Sequenz erwartet und irritiert sind, wenn dieses nicht eintritt. Wahrscheinlich sind dabei vegetative und zirkadiane Taktgeber beteiligt.

Während anzunehmen ist, dass das Kind zu Beginn des zweiten Lebensjahres noch ganz in ein „hier und jetzt“ eingebunden ist, erfolgen in dieser Zeit durch radikale Entwicklungsschritte im Gedächtnis – nämlich die Ausbildung expliziter Gedächtnisstrukturen – deutliche Fortschritte. Indem das Kind Sprache erlernt, kann es nicht nur Vorstellungen entwickeln sondern auch über Zeit und Zeitstrukturen Aussagen machen. Kinder können gegen Ende des zweiten Lebensjahres zwischen Ereignissen, die zeitlich weiter zurückliegen, und Ereignissen, die sich gerade eben ereignet haben, unterscheiden. Anfangs beziehen Worte wie „gestern“ und „morgen“, sich nicht auf das Zeitmaß des Tages, sondern auf alle möglichen vergangenen oder zukünftigen Ereignisse (Kasten, 2001). Zu Beginn des fünften Lebensjahres lernen die Kinder allmählich Referenzzeiten genauer anzugeben und zwischen Sprechzeit und Ereigniszeit zu unterscheiden. Ereignisse können in korrekter zeitlicher Reihenfolge erzählt werden. Worte wie „vorher“ und „danach“ spielen dabei eine Rolle. In dieser Zeit hat sich das autobiographische Gedächtnis so weit ausdifferenziert, dass korrekte Zeitzuordnungen möglich werden. Trotzdem ist der Zeitbegriff durch das Zeitgefühl bestimmt. Zeit erschließt sich durch das, was das Kind erlebt (Resch, 1999).

Es ist davon auszugehen, dass die Zeiterkenntnis sich aus zwei unterschiedlichen kognitiven Konzepten entwickelt. Zeit kann empirisch bestimmt werden als Beziehung zwischen von einem Objekt im Raum zurückgelegter Entfernung und der Geschwindigkeit des Objektes mit der diese Entfernung überbrückt wurde. Ein zweites Konzept bestimmt sich durch die Dauer, die vergeht, während sich ein Ereignis vollzieht, also wenn sich beispielsweise ein Objekt vom Punkt A zu einem Punkt B bewegt. Schon bei Vierjährigen lassen sich offenbar Vorläuferformen beider Zeitkonzepte nachweisen. In dieser Entwicklungsphase werden aber noch häufig räumliche und zeitliche Perspektiven vermischt. Die Auswirkungen von Geschwindigkeit und zurückgelegter Distanz auf die Zeitdauer, wenn beide gleichzeitig verändert werden, können erst von Zwölfjährigen fehlerlos erkannt werden. Je weiter der zurückgelegte Weg ist, desto mehr Zeit wird benötigt; je schneller sich das Objekt bewegt, desto weniger Zeit dauert es, bis es das Ziel erreicht hat. Die gleichzeitige Erwägung beider Aspekte ist eine komplexe Aufgabe (Kasten, 2001).

Während wir ein basales Zeitgefühl des Kindes bereits ab der Geburt postulieren, kommt es im Verlaufe des zweiten und dritten Lebensjahres beim Kind, das Sprechen und Laufen gelernt hat, zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung von Gefühlen der Erwartung zukünftiger Ereignisse. Freudige Gespanntheit kann mit Langeweile abwechseln. Schon Dreijährige können sich auf Ihren Geburtstag oder das bevorstehende Weihnachtsfest freuen. Sie zeigen Ungeduld oder sie wissen sich in der Langeweile emotionaler Vernachlässigung nichts anzufangen. Rhythmisches Schaukeln, Trichotilomanie bis hin zu rhythmischem Schlagen der Extremitäten oder des Kopfes kennen wir bei deprivierten Kindern, die emotional vernachlässigt einer zeitlichen Leere überlassen werden.

Schon die frühe Mutter-Kind-Interaktion ist ein wunderbares Beispiel zeitlicher Taktung. Die Mutter-Kind-Interaktion ist durch Synchronizität und Kontingenz getragen. Mechanismen wie das affektive Attunement und die soziale Referenzierung finden in einem genau abgestimmten zeitlichen Wechselverhältnis nonverbaler Kommunikation statt (Näheres siehe Resch, 2001).

Auch für die Entwicklung des mentalen Modells der Bindung bedarf es zeitlicher Zusammenhänge und der Gedächtnisfunktion der Objektkonstanz und Objektpermanenz. Dabei spielt die Erfahrung der sicheren Rückkehr des momentan abwesenden Bindungsobjektes eine besondere Rolle. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spiegeln sich daher im mentalen Modell der Bindung wider. Das Phänomen der Passung zwischen wichtigen Bezugspersonen und Kindern ist auf die optimale emotionale Abstimmung gerichtet (Resch, 2001). Störungen des Zeittaktes und der Intensität wirken sich ungünstig auf die Affektregulation des Kindes aus. Schon wenige Monate alte Säuglinge reagieren unmittelbar, d. h. mit einer zeitlichen Verzögerung einer dreißigstel Sekunde auf Äußerungen oder Verhaltensänderungen der Bezugsperson (Kasten, 2001).

Die Vorhersehbarkeit von Reaktionen der Bezugsperson in rhythmisch wiederholten Tätigkeiten spielt offenbar eine Rolle für antizipatorische Leistungen. Diese Vorhersehbarkeit wirkt sich auch günstig auf die Selbstentwicklung aus. Regelmäßige Fütterzeiten, der Umgang mit Schlaf- und Ruheperioden des Säuglings und eine Gestaltung von Erfahrungsräumen, die den Zeitrhythmen von Kindern angemessen ist, haben eine positive Wirkung. Eine frühkindliche Sozialisation, die durch Genervtheit der Bezugspersonen nur nach den Bedürfnissen der Erwachsenen gegliedert wird und auf die kindlichen Bedürfnisse wenig Rücksicht nimmt, wirkt sich ungünstig auf Bindungsentwicklung und Affektregulation aus. Wir müssen in die Zeitrhythmen von Kindern einsteigen, um sie zu erreichen! Wir müssen sozusagen auf die Rhythmen der Kinder eintakten.

Zeit und psychische Störungen
Im Folgenden sollen einige psychische Auffälligkeiten im Hinblick auf das subjektive Zeitempfinden näher untersucht werden. Den augenfälligsten Zusammenhang zwischen Veränderungen der Zeitlichkeit des Menschen und psychischen Störungen bietet die Depression (Fuchs, 2002). Es wird eine Desynchronisierung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt angenommen. Eine solche Desynchronisierung entsteht dann, wenn die Bewältigung wesentlicher Versuche des Menschen sich mit anderen abzustimmen, nicht gelingt. Beim Depressiven selbst kommt es zu einer Entkoppelung von innerer und äußerer Zeit. Die somatische Desynchronisierung kommt in Veränderungen und Störungen des Biorhythmus, des Schlafes und der vegetativen Funktionen zum Ausdruck. Aber auch in der intersubjektiven Zeit kommt es zu einer Abkehr des depressiven Menschen von sozialen Zeitgebern. Die veränderte Antriebslage bewirkt, dass die Menschen aus dem Arbeitsprozess oder der Schule aussteigen; auch familiäre Aktivitäten werden reduziert. Der Depressive erstarrt im Ausdruck und verliert seine nonverbale Modulationsfähigkeit.

Bereits Kinder können in solche Zuständlichkeiten geraten und lösen dann bei ihren Bezugspersonen Betroffenheit aus. Demgegenüber werden depressive Bezugspersonen für ihre Kinder zu blinden Spiegeln des Affektausdrucks. Die Kinder finden ihr Gegenüber nicht mehr und verlieren dadurch die Orientierung im interaktiven Wechselspiel. Man kann formulieren, dass der Depressive aus der gemeinsamen Zeit herausgefallen ist. Er lebt in einer anderen zähflüssigen Zeit, während die äußere intersubjektive Zeit an ihm vorüber läuft (Fuchs, 2002). Die intersubjektive Zeit wird für den depressiven Menschen zur leeren, nur noch vergehenden Zeit, die er nicht mehr erfüllen und gestalten kann.

Demgegenüber lebt das Kind mit hyperkinetischer Symptomatik in einem aktuellen Chaos, das durch Ablenkung und Getriebenheit definiert ist. Das Kind erscheint in einer jeweiligen Gegenwart festgehalten. Durch die Impulshaftigkeit findet das Leben in Unmittelbarkeit statt. Kein sinnvolles Planen und Lernen am gerade Vergangenen kann erfolgen. Häufig kommt es bei hyperkinetischen Kindern zu einem interaktiven Chaos, weil sie ihre Aufmerksamkeit nach getaner Tat so rasch aus der Situation abziehen, dass die Reaktion der Bezugsperson das Kind nicht mehr rechtzeitig erreicht. So wird aus dem individuellen Chaos schließlich ein interaktives Chaos, in dem alle Beteiligten keine gemeinsame Wellenlänge mehr finden.

Bei der posttraumatischen Störung wird das Kind in seiner Gegenwart durch die Vergangenheit überwältigt. Immer wieder kommt es zu intrusiven Einschießungen vergangener Ereignisse. Typischerweise erfolgt ein Zukunftsverlust gepaart mit einer dynamischen Restriktion, wobei auch ein Einbruch in das Kohärenzerleben des Patienten durch dissoziative Mechanismen erfolgt.

Drogenerfahrungen durch stimulierende Mittel, wie sie von Jugendlichen häufig gemacht werden, verändern ebenfalls auf fundamentale Weise das Zeiterleben. Alle Mittel, welche die vitalen und psychischen Prozesse anzuregen in der Lage sind, tragen zu einer Überschätzung von Zeitintervallen bei. Während alle sedierenden Drogen und Pharmaka, die eine Verlangsamung psycho-physiologischer Vorgänge bewirken, eine Unterschätzung von Zeitintervallen unterstützen. Die fundamentalste Störung des Zeiterlebens wird aber durch die Psychose bewirkt. Dabei kommt es zu einer Beeinträchtigung des Kohärenzerlebens und zu einem Bruch in der Biographie der Person. Die Zeittaktung in der Psychose ist völlig verändert. Durch diese Nichtberechenbarkeit der Umwelt, welche durch die veränderte Wahrnehmung getriggert wird, kommt es nicht nur zu schweren Identitätsstörungen bis hin zum Identitätsverlust, sondern auch zu einem Gefühlschaos, das zu kritischen Existenzängsten Anlass gibt. Die Unterbrechung von Lebenszyklen und der Abriss der Zeitachse beim Psychotiker wird manchmal durch repetitve und stereotype Verhaltensweisen im Sinne eines archaischen Ordnungsprinzips zu kompensieren versucht. Die Wiederherstellung der Kontinuität des Erlebens vor und nach der Psychose ist ein fundamentales Ziel der Psychotherapie bei diesen Jugendlichen (Resch, 2003).

Zeit und Therapie
Wenn man den Überlegungen von Fonagy (2003) folgt, dann ist die therapeutische Beeinflussung durch Psychotherapie nicht so sehr im Wiedergewinn von Kindheitserinnerungen zu suchen. Es geht vielmehr darum, die im impliziten Gedächtnis verfestigten mentalen Modelle der Beziehungsgestaltung, die sich als Erfahrungsmodelle herausgebildet haben, durch Wechselwirkung mit dem Therapeuten in einem emotionalen Beziehungsmodus, im Sinne einer Neustrukturierung, zu verändern. Es geht also nicht um die Erzeugung einer Bewusstmachung bisheriger unbewusster Ereignisketten, sondern es geht um die aktive Konstruktion einer neuen Art und Weise, die eigene Person mit der Welt und anderen Menschen in Beziehung zu setzen. In der therapeutischen Situation sollte dabei auf klare zeitliche Strukturierung, beispielsweise des Therapieangebots, wertgelegt werden. Auf die Ereigniszeit von Kindern ist dabei zu achten. Das Therapiesetting ermöglicht ein verlässliches zyklisches Zeiterleben. Individuellen Kinderzeiten muss Rechnung getragen werden.

Wir müssen dafür sorgen, dass in den Familien Freiräume entstehen, die Kindern ein langsameres Lebenstempo als dem Erwachsenen erlauben. Ein Beispiel dafür ist die Zeit des morgendlichen Anziehens. Die Horrorszenarien, in denen hektische Eltern ungeduldig die Knöpfe an kindlichem Hemd und Hosen schließen, genervt die Schuhe zubinden und sich über das langsame Anziehtempo beim Überstreifen des Mantels mokieren, sind dabei bekannte Beispiele.

Es müssen Erfahrungsräume entstehen können, in denen das Kind in der Lage ist, intuitive Wissensaneignung zu betreiben. Unter Druck und im Stress ist das Kind nicht fähig seine wichtigen Alltagsprobleme selbst zu durchschauen und zu lösen. Der hektische Erwachsene, der dem Kind die Alltagsschwierigkeiten vorneweg löst, verhindert wichtige Lernprozesse für die Selbstentwicklung.

Kinder brauchen eine freundliche, bestärkende und aufmunternde Zuwendung. Erwachsene brauchen Zeit, um sich zu verlangsamen und für die geteilte Aufmerksamkeit mit dem Kind frei zu sein. In therapeutischen Situationen werden trotz klarer Rahmengebung in der zeitlichen Struktur Atmosphären erzeugt, in denen „warten können“ eine Rolle spielt und in denen eine Wendung von Leere und Langeweile in Muße und Zeitlosigkeit möglich ist.

Zeit und Sinn hängen eng zusammen. Das Kohärenzerleben in der Zeit gibt uns Identität und Sicherheit. Wo in einem Leben keine Zeit mehr ist, gibt es auch keinen Sinn. Und so gefährden wir Erwachsenen uns in der Welt durch hektische Überbeschäftigung im mittleren Lebensalter und durch menschenunwürdiges Verlassensein und Langeweile im höheren Alter. Aber über allem gefährden wir unsere Kinder, wenn wir ihnen ihre Eigenzeit stehlen, sie in Förderprogramme einspannen, sie an unserem eigenen Leistungswillen straff entlang führen und ihnen die Gelegenheit zum freien Spiel, zur Entfaltung der eigenen Phantasie verunmöglichen.

Ich plädiere dafür, sich auf das subjektive Zeitgefühl von Kindern mehr einzustellen und ihnen Spielräume offen zu halten, in denen kindliche Überlegungen sich in der Welt verwirklichen und sich mit den Gesetzen der Welt messen können. Wer das Spielen verlernt, verlernt letztlich eigenständig zu denken.

Es liegt an uns, diese Spiel- und Erfahrungsräume, diese Probebühnen des Lebens aufzubauen und offen zu halten. Und vielleicht können bei aller Ökonomisierung und Effizienzsteigerung wir als Erwachsene auch von unseren Kindern lernen, dass „Zeit haben“ und „sich Zeit nehmen“ die Grundlagen eines bewussten und sinnhaften Lebens darstellen.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. Franz Resch ist Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Heidelberg und Präsident der Deutschen Liga für das Kind.

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