fK 5/09 Laschet

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Aufstieg von Zugewanderten darf nicht Ausnahme bleiben, sondern muss die Regel werden“

Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen

Maywald:Herr Minister Laschet, Sie sind der erste Minister in Deutschland, der Integration im Titel führt. Was hat die Landesregierung dazu bewogen, dieses Thema politisch aufzuwerten?

Laschet: Integrationspolitik ist ein Politikfeld von zentraler Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft. Deshalb hat Ministerpräsident Dr. Rüttgers zu Beginn dieser Legislaturperiode Integration mit den Politikfeldern, die ebenfalls für die Bewältigung des demografischen Wandels von besonderer Bedeutung sind, in einem Ministerium zusammengeführt: Generationen, Familie, Frauen und Integration. Durch diese Organisationsform ist auch gewährleistet, dass die Kinder- und Jugendpolitik der Landesregierung eng mit der Integrationspolitik abgestimmt wird. Übrigens hat unser Beispiel Schule gemacht. Mittlerweile verfügen drei weitere Länder, Niedersachsen, Berlin und Hessen, über Integrationsressorts.

Maywald: Unter dem Begriff der Integration kann sehr Unterschiedliches verstanden werden. Die Anpassung an eine im Land verwurzelte Kultur der Mehrheitsgesellschaft kann damit ebenso gemeint sein wie die Herstellung von Chancengerechtigkeit für Zugewanderte. Welche Elemente sind für Sie untrennbar mit Integration verbunden?

Laschet: Integration macht Anstrengungen sowohl der Zugewanderten als auch der aufnehmenden Gesellschaft erforderlich. Kernziel ist sicherlich die Herstellung von Chancengerechtigkeit für alle Menschen. Aber ganz ohne Anstrengung können Zugewanderte ihre Chancen nicht realisieren. Deshalb stehe ich hinter dem vom Zuwanderungsgesetz im Jahre 2005 eingeführten Prinzip des Förderns und Forderns in der Integrationspolitik. Das steht nicht im Widerspruch dazu, dass unsere Gesellschaft noch viele Hausaufgaben machen muss, um Chancengerechtigkeit herzustellen und zugewanderten Menschen angemessene Möglichkeiten der Platzierung und des sozialen Aufstiegs in der Gesellschaft zu bieten. Da können, da müssen wir noch viel von den klassischen Einwanderungsländern lernen.

Maywald: Auf der Website Ihres Ministeriums ist unter dem Stichwort „gemeinsame Leitkultur“ von einem „verbindlichen Wertefundament“ die Rede, das angestrebt wird. Welche Werte gehören zu diesem Fundament und wie können diese vermittelt werden?

Laschet: Das Fundament ist zunächst einmal in unserem Grundgesetz gegeben. Darüber hinaus sind die allgemeinen Menschenrechte die Leitschnur, an der sich das Zusammenleben zu orientieren hat. Wenn ich von „gemeinsamer Leitkultur“ rede, dann meine ich eben nicht eine „höhere“ Kultur, an der sich andere einseitig anzupassen haben. Ich meine vielmehr die Verständigung über die jeweiligen Werte je nach Herkunft und Religionszugehörigkeit der Menschen. Diese Werte können nur durch das Aufeinander-Zugehen, dass Einander-Zuhören und die unvoreingenommene Betrachtung vermittelt werden. Insofern ist der offene, respektvolle Dialog über die je eigenen Werte und das gemeinsame Wertefundament an sich schon wesentlicher Teil dieser von mir angestrebten „gemeinsamen Leitkultur“. Hierfür legen heute bereits viele Kindertageseinrichtungen mit großem Engagement und viel Kreativität eine gute Grundlage, auf die weiter aufgebaut werden kann.

Maywald: Mit dem seit 2008 geltenden Kinderbildungsgesetz (KiBiz) hat Nordrhein-Westfalen die Kindertageseinrichtungen zur kontinuierlichen Förderung der Sprachentwicklung verpflichtet. Zwei Jahre vor der Einschulung müssen alle Kinder an einer Sprachstandsfeststellung teilnehmen. Was hat Sie dazu bewogen, einen solchen Sprachtest gesetzlich festzuschreiben? Ist hiermit nicht ein unzulässiger Eingriff in Elternrechte verbunden?

Laschet: Gute Kenntnisse der deutschen Sprache sind der Schlüssel für den späteren Erfolg in der Schule und im Beruf. Deshalb haben wir im Kinderbildungsgesetz (KiBiz) erstmals den Auftrag zur kontinuierlichen Förderung der Sprachentwicklung eines Kindes gesetzlich verankert und stellen dafür jährlich 28 Millionen Euro bereit. Unser Ziel ist es, jedem Kind die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Wir testen das mit dem so genannten Delfin 4-Verfahren. Jedes Kind, bei dem zusätzlicher Bedarf an Sprachförderung festgestellt wird, fördern wir mit 340 Euro. Wichtig ist mir, dass alle Kinder, die Sprachförderbedarf aufweisen, gefördert werden. Geregelt haben wir das ganze Verfahren im Schulgesetz. Das Schulamt wird darin ermächtigt, zu überprüfen, ob die Sprachentwicklung der Kinder altersgemäß ist und ob sie die deutsche Sprache hinreichend beherrschen. Damit erfolgt die Sprachstandsfeststellung Delfin 4 im Vorgriff auf die Schulpflicht. Die Elternrechte werden nicht in unzulässiger Weise berührt.

Maywald: Die Ergebnisse der zweiten Durchführung im Jahr 2008 des landesweiten Sprachtests Delfin 4 ergaben, dass bei etwa 23 Prozent aller Kinder eine zusätzliche Sprachförderung in den Kindertageseinrichtungen notwendig ist. Dies sind immerhin rund 37.000 Kinder. Sind die Erzieherinnen und Erzieher überhaupt in der Lage, eine solche zusätzliche Förderung fachgerecht anzubieten und welche Qualifizierungen werden hier angeboten?

Laschet: Lassen Sie mich zunächst eines voranstellen: Die grundständige Sprachförderung ist Teil des Bildungsauftrags jeder Kindertageseinrichtung. Das heißt, jedes Kind hat Anspruch auf Sprachförderung in der Kindertageseinrichtung. Durch die bundesgesetzlich verankerte Autonomie der Träger von Kindertageseinrichtungen ist die Einrichtung frei in der Ausgestaltung der grundständigen sprachlichen Förderung. Diese muss jedoch im pädagogischen Konzept der Einrichtung Berücksichtigung finden. Die zusätzliche Sprachförderung ist konzeptionell in die grundständige Sprachförderung der Kindertageseinrichtung einzubetten, jedoch intensiver und stärker auf das einzelne Kind auszurichten. Die Förderung soll so eingesetzt werden, dass die pädagogischen Fachkräfte in den Einrichtungen notwendige Materialien, Ressourcen sowie gegebenenfalls auch zusätzliches Personal zur Verfügung haben.
Zur Qualifikation der Fachkräfte wurde schon vor einigen Jahren „Sprachförderung“ in den Lehrplan der Erzieherausbildung aufgenommen. Darüber hinaus wurden zum Beispiel in den Fachschulen Aufbaubildungsgänge entwickelt, in denen berufstätige Erzieherinnen und Erzieher ihre Kenntnisse vertiefen können. Unter anderem handelt es sich um die Aufbaubildungsgänge Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern unter drei Jahren, Musikalische Förderung und Sprachförderung.
Zusätzlich hat Frau Prof. Lilian Fried von der TU Dortmund im Auftrag der Landesregierung Sprachförderorientierungen vorgelegt. Diese zeigen die wissenschaftlichen Grundlagen und Prinzipien einer frühkindlichen Sprachförderung auf und geben praktische Förderansätze für die pädagogische Arbeit in den Kindertageseinrichtungen.

Maywald: Neben den sprachlichen bestehen in vielen zugewanderten Familien psychosoziale und erzieherische Probleme. Zugleich ist bekannt, dass gerade diese Familien die bestehenden Hilfsangebote nur unzureichend nutzen. Nordrhein-Westfalen setzt hier auf die Erweiterung von Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren. Wie kommt dieser Ausbau voran und wird das Ziel einer besseren Versorgung von Zuwandererfamilien erreicht?

Laschet: Der Ausbau der Familienzentren kommt sehr gut voran. In der Pilotphase im Jahr 2006/07 gab es zunächst 261 Familienzentren. Heute existieren bereits 1.750 zertifizierte oder angehende Familienzentren. Im nächsten Kindergartenjahr kommen weitere 250 Kindertageseinrichtungen hinzu. Das bedeutet, dass dann bereits zwei Drittel des Ausbauziels von 3.000 Familienzentren im Jahr 2012 erreicht ist. Rechnet man die vielen Verbund-Familienzentren mit mehreren Kindertageseinrichtungen hinzu, lässt das erkennen, dass wir unserem Ziel heute schon sehr nahe sind.
Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung haben gezeigt, dass gerade Familien mit Zuwanderungsgeschichte von dem Beratungsangebot in den Familienzentren besonders profitieren. Stadtteilorientierung und Niedrigschwelligkeit gelten dabei als „Zauberformel“.

Maywald: Gemäß einer aktuellen von der Deutschen Islamkonferenz in Auftrag gegebenen und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erstellten Studie leben in Deutschland rund vier Millionen Muslime, davon etwa jeder Dritte in Nordrhein-Westfalen. Sie haben sich vorgenommen, Kindern muslimischen Glaubens einen regulären bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht anzubieten. Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen und welche Rahmenbedingungen sollen hierfür gelten?

Laschet:Jedes Kind sollte die Möglichkeit haben, die Wurzeln und die Glaubensgrundsätze seiner Religion in der Schule kennenzulernen. Für eine wirksame Wertevermittlung ist der Religionsunterricht von großer Bedeutung. Angesichts der großen Zahl von Kindern aus muslimischen Familien ist die Schaffung eines Unterrichtsangebots „Islamischer Religionsunterricht“ wichtig. Sowohl im Hinblick auf die Werteerziehung der Kinder als auch im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller Religionen durch den Staat.
Wir haben in Nordrhein-Westfalen bereits sehr gute Erfahrungen mit der deutschsprachigen Islamkunde gemacht, die an mehr als 120 Schulen in Nordrhein-Westfalen praktiziert wird. Dabei geht es aber in erster Linie um Informationsvermittlung. Wir wollen nun auf der so entstandenen Infrastruktur einen breit angelegten Schulversuch starten, indem künftig Islamischer Religionsunterricht im Sinne von Glaubensvermittlung erteilt wird, in deutscher Sprache, von in Deutschland ausgebildetem Lehrpersonal auf der Grundlage regulärer Lehrpläne.
Die Beteiligung der Muslime an diesem Prozess der Lehrplanentwicklung und Unterrichtsorganisation richtet sich nach den Vorschlägen, die die von Bundesinnenminister Dr. Schäuble einberufene Islamkonferenz entwickelt hat. Meine Kollegin Barbara Sommer ist als Schulministerin dabei, diesen Schulversuch vorzubereiten. Ich hoffe, dass wir im Schuljahr 2010/2011 damit beginnen können.

Maywald: Viele nach Deutschland zugewanderte Eltern fürchten, dass sie und ihre Kinder den Bezug zum Herkunftsland verlieren, wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen und zugleich ihre bisherige Nationalität aufgeben. Was spricht in einer zunehmend globalisierten Welt dagegen, dass Menschen eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzen?

Laschet: Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht lehnt im Prinzip die Mehrstaatigkeit, also die doppelte Staatsangehörigkeit, ab. Dahinter steckt die Sorge, dass sich die Menschen in doppelten Loyalitäten befinden und nicht konsequent ihre Zugehörigkeit zum deutschen Staat und unserer Gesellschaft leben. Ich halte es prinzipiell auch nicht für eine Überforderung, sich für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden.
Gleichwohl aber sehe ich mit großer Sorge, dass die Zahl der Einbürgerungen seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 beständig zurückgegangen ist. Deshalb habe ich in der Konferenz der Integrationsministerinnen und -minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder angeregt, den Ursachen für diesen Attraktivitätsverlust der Einbürgerung nachzugehen. Ich bin davon überzeugt, dass neben der Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts noch viel zu tun ist, um die Einbürgerung als wichtigen Akt für die Zugewanderten wie für die Gesellschaft noch stärker aufzuwerten, zum Beispiel durch feierliche Empfänge der Landräte und Oberbürgermeister, wie das bereits einige Kommunen heute tun.

Maywald: Eine besonders verletzliche Gruppe von Zuwandererkindern sind die so genannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Sie leben von ihren Familien getrennt und haben oft bereits in jungen Jahren schwere Traumata erlitten. Erschwerend kommt hinzu, dass Deutschland gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention Vorbehalte eingelegt hat mit der Folge, dass Flüchtlingskinder nicht die gleichen Rechte haben wie deutsche Kinder. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass eine Rücknahme der Vorbehalte erst möglich ist, wenn dies auch von den Ländern unterstützt wird. Welche Haltung nimmt Nordrhein-Westfalen in dieser Frage ein?

Laschet: Nordrhein-Westfalen verschließt sich nicht grundsätzlich der Überlegung, die erklärten Vorbehalte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurückzunehmen. Inzwischen hat es Änderungen des deutschen Rechts gegeben, so dass einige dieser Vorbehalte entfallen sind. Allerdings sind eine Vielzahl von Rechtsgebieten und komplexe Rechtsvorschriften betroffen. Diese müssen zunächst geprüft werden, damit es nicht zu Widersprüchen mit unserem nationalen Recht kommt.

Maywald: Wenn von Zuwanderern die Rede ist, werden zumeist vor allem die Probleme gesehen. Demgegenüber spricht der Integrationsplan von Nordrhein-Westfalen als einem „Land der neuen Integrationschancen“. Welche Chancen sind mit einer gelingenden Integration für Ihr Land, aber auch für Deutschland insgesamt verbunden?

Laschet: In der Vergangenheit ist es insgesamt nicht gelungen, dass die Kinder von Zugewanderten vergleichbare Schulabschlüsse, Berufsausbildungen und Universitätskarrieren realisieren konnten, wie gleichaltrige junge Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte. Das ist nicht nur für die einzelnen Zugewanderten von Nachteil. Auch für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit bedeutet dies, dass Potenziale der jungen Zugewanderten für die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Weiterentwicklung unseres Landes nicht optimal entwickelt und genutzt wurden und werden. Viel zu lange hat sich die Integrationsdebatte einseitig an Defiziten orientiert.
Erst mit unserem Aktionsplan Integration auf Landesebene und mit den Integrationsgipfeln auf Bundesebene hat die Politik konsequent begonnen, stärker auch auf die Potenziale und die damit verbundenen Entwicklungschancen für das Gemeinwohl zu beachten. Als ich 2005 zunächst angefangen habe, über das „Land der neuen Integrationschancen“ zu sprechen, da haben mir noch einige Menschen vorgeworfen, ich würde die Wirklichkeit schön reden. Mittlerweile aber höre ich diesen Vorwurf kaum noch. Denn die Zahl der erfolgreichen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ist erfreulicherweise in den letzten Jahren gestiegen, vor allem die Zahl derjenigen, deren Erfolgsgeschichten auch sichtbar werden. In der Politik, in den Medien, in der Wissenschaft, in der Kultur, überall finden Sie heutzutage junge Menschen, deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland eingewandert sind. Hier sind aus Potenzialen tatsächlich produktive Kräfte für die allgemeine Wohlfahrt entstanden. Aber diese jungen Menschen waren vielfach noch sehr auf sich alleine gestellt, um den Erfolg realisieren zu können. Das muss sich ändern. Aufstieg von Zugewanderten darf nicht Ausnahme bleiben, sondern muss die Regel werden.

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