fK 5/05 Unverzagt

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Möchtest du vielleicht deine Zähne putzen gehen?“ oder:
Warum die Beziehung zwischen Eltern und Kindern nicht immer demokratisch sein kann

von Gerlinde Unverzagt

Das hingeschnodderte „Manno, ich will aber nicht“, das entrüstete „Neiiinnn!“ und das dreiste Überhören jeder noch so höflich als Frage getarnten Aufforderung, jetzt endlich zu tun, was sie sollen, kann täuschen. Kinder wissen es durchaus zu schätzen, wenn sie gefragt werden – und manchmal geht das ja auch gut. Mit einem Fünfjährigen kann man sich zusammensetzen, ein ernstes Gesicht machen und sagen: „Also, wie machen wir das jetzt: Wir können heute nachmittag kurz schwimmen gehen und danach einkaufen. Oder wir gehen gleich nach Hause und dafür gehen wir morgen den ganzen Tag ins Schwimmbad.“ Wenn das Kind dann verständnisvoll nickt, kurz abwägt und sich für den ausgedehnten Schwimmbadbesuch am nächsten Tag entscheidet, kann die Mutter aufatmen. Denn zu Hause wartet ein Berg Wäsche, die Küche sieht aus wie ein bewohnter Bombentrichter, im Kühlschrank herrscht gähnende Leere und abends werden Gäste erwartet…

Erziehung gibt immer vor, nur an den Bedürfnissen der Kinder orientiert zu sein. Manchmal – genau genommen öfter als man zugeben möchte – stehen die Vorlieben und Abneigungen oder auch die Alltagszwänge und Bedürfnisse der Erwachsenen im Vordergrund. Das ist halb so schlimm wie es klingt. Im Gegenteil: Der Wunsch nach Ruhe und Bequemlichkeit, die unterschiedliche Tagesform, das enge Zeitbudget und eine notorisch knappe Haushaltskasse sind nun mal die Rahmenbedingungen für Erwachsene, die eine ganze Familie zu managen haben. Mit dem Kind partnerschaftlich umgehen zu wollen ist ein hehres und sehr modernes Erziehungsziel, das von allen am wenigsten verdächtig ist, dem Eigennutz der Eltern zu dienen. Schließlich lässt man sich auf ein langwieriges, mitunter anstrengendes Verfahren ein: Das Mitspracherecht der Kinder bei allen Entscheidungen führt nicht zu schnellen Ergebnissen. Gleichberechtigung ist schön und gut, aber können Kinder da wirklich mithalten? Oder ist das Kind in der Rolle des Partners, dessen Meinungen zu wichtigen Familienentscheidungen gehört werden müssen, nicht von vorneherein dazu verurteilt, hochfliegende Erwartungen zu enttäuschen?

Starke, selbstbewusste Kinder – ein Erziehungsziel ersten Ranges

Wenigstens über das Ziel ihrer erzieherischen Anstrengungen sind die meisten Eltern sich heute einig: Sie wollen starke kindliche Persönlichkeiten, Kinder, die selbständig, selbstbewusst und entscheidungsfähig für ihre eigenen Belange eintreten können. Sie sollen belastbar, leistungsmotiviert, selbstdiszipliniert sein, im sozialen Bereich Kooperationsfähigkeit, Hilfsbereitschaft und Verantwortungsgefühl zeigen. Und auch sich selbst verlangen die Eltern viel ab: Das Einfühlungsvermögen soll groß, das Verständnis fürs Kind soll breit und die freudvoll miteinander verbrachte Zeit reichlich bemessen und auf der Basis gleichberechtigter Partnerschaft freundlich gestaltet sein.

Frühere Eltern beanspruchten selbstverständlich, ihrem Kind Vorschriften zu machen und auf deren Befolgung zu dringen. Wenn Menschen heute kleine Menschen großziehen, liegt der Akzent auf Partnerschaft. Der Wandel stellt deutlich höhere Anforderungen an die Fähigkeiten der Eltern, sich auf die Kinder einzustellen. Man soll den gleichberechtigten Diskussionsstil pflegen, Entscheidungen kindgemäß begründen, mit sanftem Nachdruck auf bestimmten Umgangsformen bestehen und ganz unaufdringlich Hilfestellung bei der Persönlichkeitsentwicklung leisten. Uneigennützigkeit und pädagogische Fachkenntnisse sind ein Muss in der zeitgemäßen Eltern-Kind-Beziehung. Manche Eltern vergessen dabei, dass sie Eltern sind. Manche Mütter und wenige Väter, besonders die, die alleine erziehen, legen Wert darauf, die besten Freunde ihrer Kinder zu sein. Sie sehnen sich nach einem anderen Erwachsenen, mit dem sie die Bürden der Elternschaft teilen können und landen damit dann bei ihrem Kind, dem sie dann zuviel Verantwortung aufladen, wenn sie in ihm den Partner sehen. Sie bitten um Verständnis, wo ihre eigenen Eltern vielleicht noch auf die Befolgung von Anordnungen gesetzt haben. Doch wenn es nicht immer wieder dabei enden soll, einen trotzigen Vierjährigen zu umschmeicheln, der sich nun mal vorgenommen hat, dem Schneesturm draußen im T-Shirt zu trotzen oder sich bei dem Siebenjährigen zu erkundigen, wann ungefähr er seine Hausaufgaben erledigen möchte, kommen Eltern nicht umhin, das Mitspracherecht der Kinder sorgsam abzuwägen. Es muss ja nicht so weit kommen, dass man fragt, „was meinst du, mein Schatz, sollte Mami einen Halbtagsjob annehmen?“, wenn man im Grunde weiß, dass einem sowieso keine andere Wahl bleibt. Manche Eltern fürchten, ein bisschen Familiendemokratie würde die Kinder verwöhnen, aber wenn man sie immer nur herumkommandiert, werden sie schon bald aufbegehren und jede Regel umgehen, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Andere versuchen, das Kind früh bei Entscheidungen mitbestimmen zu lassen und übertragen den Kindern Stück für Stück etwas mehr Verantwortung. Das lohnt sich durchaus.

Kinder sind keine Partner

Es gibt sie ja durchaus, die schönen Momente, in denen es gelingt, ein willensstarkes Kind zum Einlenken zu bewegen – mit nichts als der Überzeugungskraft eines Arguments, einem sorgsam dosierten Gegenvorschlag, einem Appell an die vier-, fünf- oder sechsjährige Vernunft…

In diesen Sternstunden, wenn das Kind ein Einsehen hat, blitzt er wieder auf: der schöne Elterntraum von einer guten, liebevollen Beziehung, die wie eine gute Ehe oder Freundschaft funktioniert – eine Partnerschaft eben, in der die Bedürfnisse des Kindes ebenso wichtig sind wie die Bedürfnisse der Eltern. Kinder und Eltern als gleichberechtigte Partner im Familienunternehmen, wo Konflikte ausdiskutiert werden, so dass es weder Gewinner noch verlieren gibt – das hätten wir wohl gerne.

Was sich in der Theorie so gut anhört, gleicht in der Praxis der Aufgabe, eine Wandergruppe aus Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel und ohne Kompass durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an einem Ziel ankommen. Anders gesagt: Alles aushandeln zu wollen, treibt selbst wohlmeinende Eltern in den Wahnsinn.

Das Kind kann nicht immer ein gleichberechtigter Partner sein – das lehrt die häusliche Erfahrung, und das sagen mittlerweile auch die Pädagogen. Natürlich muss man Kinder angemessen am Familiengeschehen beteiligen und Dinge, die alle angehen, auch gemeinsam bereden. Aber mal ehrlich: Die gefundenen Lösungen und Entscheidungen sind in den allermeisten Fällen doch das Ergebnis der erwachsenen Ansichten und Einsichten – und die Kinder müssen sich damit arrangieren.

Sie sind nämlich keine Partner. Von einem guten Partner darf man erwarten, dass er abends, nachdem er sich verabschiedet hat, auch ins Bett geht und nicht noch zehnmal wieder auftaucht, um ein Glas Wasser, eine Geschichte, einen Kuss und noch ein Gutenachtlied zu verlangen. Einem Partner darf man übelnehmen, wenn er einen mitten in der Nacht wachrüttelt, weil er aufs Klo muss und sich vor den Silberfischchen fürchtet oder weil ihm plötzlich eingefallen ist, dass er noch ein Gedicht auswendig lernen muss. Partner dürfen mit Recht voneinander erwarten, dass einer des anderen Bedürfnisse achtet und bei dem, was er tut, auch das Wohl des anderen mit bedenkt. Gute Partner sind im gleichen Interesse vereint – die von Eltern und Kindern gehen bisweilen auseinander. Paul möchte morgens sein Piratenschiff auftakeln, sein Vater möchte, dass er endlich seine Schuhe anzieht und zum Kindergarten geht. Denn Pauls Vater muss schleunigst zur Arbeit. Lisa will auf dem Spielplatz bleiben, ihre Mutter möchte unbedingt den Termin beim Kinderarzt einhalten. Marie will singen, ihr kleiner Bruder soll schlafen. Es hilft nichts: Eltern haben manchmal keine andere Wahl als darauf zu bestehen, dass bestimmte Dinge stattfinden und andere unterbleiben. Doch in der Grauzone dazwischen darf munter diskutiert werden.

Gute Partner muss man nicht erst mit Nachdruck für die eigene Sicht der Dinge gewinnen. Kinder schon. Und es ist auch ihr gutes Recht, langsam und ihrem Entwicklungsstand entsprechend in das Dickicht von Notwendigkeiten und Verpflichtungen hineinzuwachsen. Demokratie und gleichberechtigtes Entscheiden – das erlernen Kinder schrittweise. Kinder mögen es, gefragt zu werden. Dadurch lernen sie, für und wider einer Sache zu bedenken, die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten zu treffen, abzuwägen und Entscheidungen zu begründen. Und sie lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Wie wichtig dieser Prozess ist, kann man überall da beobachten, wo er fehlt. Gibt es erstaunlicheres als schuldbewusst zusammenzuckende Mütter, die von ihren acht- oder neunjährigen Kindern getadelt werden, weil sie vergessen haben, morgens an den Turnbeutel zu denken oder den Fahrradhelm zur Klassenfahrt mitzubringen? Die von ihren Kindern zusammengestaucht werden, weil sie versäumt haben, den Besuch bei der Oma am Nachmittag rechtzeitig anzukündigen? Eltern, die praktisch niemals vergessen, das Einverständnis des Kindes einzuholen – ganz gleich, ob es um die Wahl des Brotaufstrichs, des Ausflugsziels oder der weiterführenden Schule geht, legen einen Gehorsam an den Tag, der hauptsächlich dazu dient, Auseinandersetzungen mit dem Kind zu vermeiden.

Eltern können über die fixe Idee, man könne das Kind bei allem mitentscheiden lassen, ihr Kind gewaltsam zum Partner machen – und das sind die wirklich besorgniserregenden Momente: Wenn Eltern ihre Kinder ganz partnerschaftlich in Situationen bringen, die sie im Grunde gar nicht überschauen können. Man kann dem Kind die eigenen Sorgen aufladen („Wenn ich meinen Job verliere, kann ich kein Geld mehr verdienen und nichts mehr zu essen kaufen. Dann ist alles aus.“), man kann es auf Enttäuschung über den anderen Elternteil zum Verrat anstiften und als Horchposten missbrauchen („Und wie war sie so, Papas neue Freundin? Haben sie über mich geredet?“) oder als Vollzugshelfer der eigenen Pläne benutzen („Wenn du Oma das nächste Mal besuchst, dann erzählst du ihm, dass Mama und Papa große Sorgen wegen dem Geld haben. Aber du musst so tun, als ob wir nichts davon wissen dürften!“).

Am besten hält man es mit den alten langweiligen Ratschlägen: Es gibt durchaus Dinge, die man von Kindern fernhalten muss, die Kinder nichts angehen und bei denen Kinder nicht mitentscheiden dürfen.

(Mit-)entscheiden will gelernt sein

Es hat keinen Sinn, einen Dreijährigen zu fragen, welches Auto seiner Meinung nach angeschafft werden soll oder wo die Familie den Jahresurlaub am besten verbringt. Fangen Sie also mit Entscheidungen an, die eher belanglos sind: Milchreis oder Würstchen zum Abendessen? Roter oder blauer Pullover? Steigern Sie langsam: Wollen wir am Wochenende ins Puppentheater oder in den Zirkus gehen? Schon kleine Kinder kann man veranlassen, das Für und Wider verschiedener Möglichkeiten zu überdenken und die Folgen dieser oder jener Entscheidung mit zu berücksichtigen. Der Alltag ist ein weites Übungsfeld für künftige Selbstentscheider, das Gelegenheiten in Hülle und Fülle liefert. Lassen Sie Ihre Kinder verschiedene Joghurtmarken probieren, den Preisunterschied errechnen und überlegen, was man mit dem eingesparten Geld anfangen kann. Stellen Sie anheim, den Bus zu nehmen oder den Weg zu Fuß zu gehen und mit dem Geld etwas anderes anzufangen.

Pläne zu schmieden, eine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu treffen und aus einem Dilemma das Beste zu machen – das ist eine gute Übung für´s Leben. Aber man geht es besser sachte an; Demokratie entsteht schrittweise. Diskussionen sind manchmal wenig hilfreich: Mit einem Kind, das sich weigert, sich im Auto anschnallen zu lassen, wird man sich kaum auf einen Disput über die vielfältigen Risiken im Straßenverkehr einlassen. Ein dreijähriges fieberndes Kind, das sich weigert, den Löffel bittere Medizin zu schlucken, wird man mit medizinischen Erläuterungen genausowenig umstimmen können wie mit flehentlichen Bitten. Wenn nichts mehr hilft, muss man es festhalten und zwingen, die Medizin zu schlucken. Ist es vier Jahre alt, kann man schon eher ein kleines Geschäft abschließen: „Liebchen, komm, das musst du jetzt nehmen, damit du schnell wieder gesund wirst, und danach lese ich dir eine Geschichte vor.“ Sind noch einmal vier Jahre vergangen, wird man vielleicht schon Pro und Kontra schulmedizinischer oder homöopathischer Behandlung mit dem Kind erörtern können. Und hinterher doch darauf bestehen müssen, dass eine bestimmte Medizin genommen wird.

Lassen wie unsere Kinder so oft es geht bei Entscheidungen mitreden, aber überfordern wir sie nicht. Und übertragen wir ihm nach jedem Geburtstag eine etwas größere Portion Verantwortung.

Doch, doch ein bisschen Familiendemokratie kann nicht schaden. Aber fangen Sie klein an und überfordern Sie es nicht, aber fangen Sie an. Je früher ein Kind beginnt Entscheidungen zu treffen, deren Folgen es auch tragen kann, desto eher dämmert ihm eine schlichte Wahrheit aus dem Erwachsenenleben – wie man sich bettet, so liegt man.

Gerlinde Unverzagt ist Journalistin und Autorin zahlreicher Sachbücher zu Kinder- und Familienthemen in Berlin.

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