fK 4/11 Griebel

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Der Übergang von der Kindertagesstätte in die Grundschule

Eine Angelegenheit der ganzen Familie

Von Wilfried Griebel

Kinder erleben zunehmend Erfahrungen von Brüchen, Veränderungen und Übergängen im Lebenslauf wie Trennungen von Eltern oder Migration der Familie. Daneben sind Übergänge in der Bildungslaufbahn zu bewältigen, also von der Familie in die Kindertageseinrichtung, von dort in die Grundschule, von der Grundschule in weiterführende Schulen, die die pädagogische Aufmerksamkeit fordern. Ein entwicklungspsychologisches Konzept kann für die Entwicklung, Umsetzung und Überprüfung von pädagogischen Maßnahmen zur Begleitung von Übergängen dienen, wie die Bildungspläne in Bayern (bis zur Einschulung) und Hessen (Geburt bis zehn Jahre) zeigen.

Übergangsforschung: Theorie leitet das Verständnis
In der neueren Familienforschung werden Übergänge oder Transitionen in der Entwicklung der Familie beschrieben. Psychologische Erkenntnisse zur Bewältigung von Übergängen sollen vermittelt und an die Stelle eines alltagssprachlichen Übergangsbegriffs soll ein Fachbegriff gesetzt werden (Niesel, Griebel 2010).

Zur Formulierung des Transitionsmodells (Griebel, Niesel 2011) haben mehrere theoretische Stränge beigetragen. (1) Der ökopsychologische Ansatz von Uri Bronfenbrenner betont, dass Entwicklung in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung stattfindet. Der Einzelne entwickelt sich innerhalb von Systemen, wie Familie, dann Kindergarten und Schule, und die Systeme beeinflussen sich gegenseitig. (2) Die Stressforschung erklärt Belastungsreaktionen auf Veränderungen im Lebenslauf. Danach sind Überlastungsreaktionen vermeidbar, wenn Veränderungen im Lebensumfeld des Kindes gering gehalten, wenn sie vorhersehbar und kontrollierbar gestaltet werden. Zudem ist die motivationale Ebene – Bedrohung oder Herausforderung – in Bezug auf bevorstehende Veränderungen mit zu berücksichtigen. (3) Veränderungen im Lebensumfeld des Kindes lassen sich im Zusammenhang mit der Entwicklung über die Lebensspanne als kritische Lebensereignisse betrachten. Dazu gehört z. B. auch der Übergang von der Familie in den Kindergarten und von diesem in die Schule. Risikofaktoren können das Gelingen gefährden, Schutzfaktoren das Gelingen begünstigen. (4) Lern- und Entwicklungsprozesse werden in der Interaktion des Einzelnen mit seiner sozialen Umgebung als soziale Konstruktionen verstanden. Das bedeutet, dass alle Beteiligten sich über das Wesen und die Bedeutung der Transition verständigen – es gibt keine allgemeine Formel dafür wie etwa aus einem Physikbuch.

Die Struktur des Übergangs erkennen: Entwicklungsaufgaben für Kind und Eltern
Unabhängig davon, wie unterschiedlich die vorschulischen Einrichtungen in verschiedenen Ländern organisiert sind, ist der Eintritt des Kindes in das formale Schulsystem ein bedeutender Entwicklungsschritt für das einzelne Kind und seine Familie. Der Übergang in die Schule bringt für die Kinder in verschiedenen Bereichen Veränderungen und kann stressbelastet sein. Diese Bereiche und die damit verknüpften Anforderungen sind in der Struktur der Entwicklungsaufgaben näher beschrieben. Die Art und Weise der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben macht den Übergang zum Schulkind aus.

Das Transitionsmodell bietet eine Struktur von Anforderungen, die zu bewältigen sind:
(a) auf der Ebene des Einzelnen: Veränderung der Identität bedeutet ein Schulkind werden, starke Emotionen wie Ängste und Vorfreude bewältigen und neue Kompetenzen erwerben;
(b) auf der Ebene der Beziehungen: neue Beziehungen in der Schule zu Lehrer(in) und den anderen Kindern aufnehmen; die Veränderung bzw. den Verlust bestehender Beziehungen hinsichtlich Erzieherin und Freunden im Kindergarten verkraften; Rollenzuwachs als Schulkind bzw. Eltern eines Schulkindes erfahren: Was wird von einem Schulkind erwartet und was passiert, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden?;
(c) auf der Ebene der Lebensumwelten: Wechseln zwischen Familie und Schule im Tagesablauf in Einklang bringen; sich mit einem neuen Lehrplan auseinandersetzen; evtl. weitere familiale Übergänge wie Aufnahme oder Verlust von Erwerbstätigkeit eines Elternteils, Geburt eines Geschwisters, Trennung der Eltern zeitnah bewältigen.

Es handelt sich jeweils um Diskontinuitäten in den Erfahrungen. Die mit dem Übergang verbundenen Anforderungen werden als Entwicklungsaufgaben aufgefasst, um den motivationalen, herausfordernden Charakter stärker zu betonen. Orientierung an der Herausforderung leitet das pädagogische Handeln, während Überforderung ebenso wie Unterforderung vermieden wird. So kann eine Passung zwischen den jeweiligen Aufgabe und den individuellen Voraussetzungen des Kindes gesucht werden.

Eltern erfahren ihrerseits einen Übergang: Sie werden Eltern eines Schulkindes und müssen sich wie ihre Kinder den genannten vielfältigen Herausforderungen stellen (Griebel 2010). Außer Familie und Schule müssen sie auch ihre Erwerbstätigkeit aufeinander abstimmen, um den Tagesablauf, den Wochenablauf und den Jahresablauf zu bewältigen. Ihre Vorstellungen von Lernen und Schule können andere sein als die ihrer Kinder und der Fach- und Lehrkräfte und können von ihren eigenen Schulerfahrungen beeinflusst sein.

Die Kinder bewältigen diese Entwicklungsaufgaben – ebenso wie ihre Eltern die ihren – aktiv und erfahren eine Transition, die als bedeutende Stufe in ihrem Leben erlebt wird. Fach- und Lehrkräfte begleiten sie dabei.

Über Schulfähigkeit verständigen: Übergangskompetenz im sozialen System
Basiskompetenzen wie kommunikative Fertigkeiten und unterrichtsnahe Kompetenzen wie phonologische Bewusstheit und Zahlbegriffsentwicklung sind die Grundlage dafür, dass Kinder sich dem Übergang zum Schulkind erfolgreich stellen. Entwicklung und Förderung dieser Kompetenzen geschehen nicht nur durch das Elternhaus und den Kindergarten, sondern die Grundschule hat die Aufgabe, diese Kompetenzen weiter zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass sie nicht verlernt oder gar entwertet werden. Dafür ist eine Zusammenarbeit mit der Kita sehr hilfreich. Das Kind wird also erst in der Schule – d. h. mit schulspezifischen Erfahrungen – ein Schulkind. Ein verkürztes Konzept von „Schulfähigkeit“ im Sinne einer abfragbaren Liste von Fertigkeiten als Voraussetzung für einen gelingenden Schulstart spiegelt die subjektiven Erwartungen von Eltern oder Fach- und Lehrkräften, entbehrt aber meistens überprüfbarer Grundlagen und einer Vorhersagekraft für den Schulerfolg, sie kann nur scheinbar Sicherheit geben und einen Verständigungsprozess über die Begleitung des Kindes im Übergang je nach den Voraussetzungen vor Ort nicht ersetzen.

Die Fähigkeit und Bereitschaft, den Übergang erfolgreich zu bewältigen, hängen sehr stark ab von der Fähigkeit und Bereitschaft aller beteiligten Akteure aus Familie, Kindertagesstätte und Grundschule zu Kommunikation und Partizipation. Wirksam werden dabei die persönlichen Kompetenzen dieser handelnden Personen wie berufliche Qualifikation und Berufserfahrung sowie persönliche Eigenschaften und zudem Merkmale der sozialen Systeme, in denen das Kind involviert ist: Passung von Konzeption der Kita und Lehrplan der Schule, Strukturen von Zusammenarbeit und Erarbeiten von Transitionsprogrammen (Bertelsmann Stiftung 2007). Sie sind die Grundlage für pädagogisch optimal gestaltete und abgestimmte Übergänge. Besonders deutlich wird das bei jüngeren Kindern, die in die Schule kommen, bei Kindern mit Hochbegabung oder Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Die Aufgabenstellung wird für und mit Kindern und ihren Familien, die mit einer anderen als der Schulsprache aufwachsen – in Deutschland haben etwa ein Drittel der Kinder, die in die Schule kommen, eine Zuwanderungsgeschichte –, noch komplexer. Man könnte sie allerdings auch als Kinder und Familien mit besonderen Ressourcen ansehen. Zur Vorbereitung von Fach- und Lehrkräften entwickelt das EU-Comeniusprojekt „Transition und Mehrsprachigkeit“ (Laufzeit 2009 bis 2011) derzeit ein Curriculum für die Fort- und Weiterbildung (www.tram-project.eu).

Engere und zielgenauere Kooperation aller Beteiligten
Ein besseres Verständnis von Transitionen regt die Kommunikation und Kooperation aller Beteiligten an. Pädagogische Vorgehensweisen zur Gestaltung von Übergängen lassen sich auf dieser Grundlage entwerfen. Die handelnden Personen – Kinder und ihre Eltern, Fachkräfte in Kindergärten, Grundschullehrkräfte und Mitarbeiter anderer helfender Dienste – können Wege der Umsetzung vor Ort selbst erarbeiten und eine Kultur der Gestaltung von Übergängen entwickeln. Dieser Prozess, der von Kommunikation und Partizipation getragen wird, wird als Co-Konstruktion bezeichnet (Griebel, Niesel 2011). Er umfasst das soziale System, in dessen Mittelpunkt das Kind steht. Die Erfahrungen zum Beispiel aus dem so genannten Amberger Modell in Bayern zeigen, dass eine verbesserte Kooperation über den Transitionsprozess hinweg eine „Messung“ von Schulfähigkeit überflüssig macht (Netta, Weigl, 2006). In der intensiveren Kooperation lernen sich alle Beteiligten, auch die Kinder, gegenseitig bereits vor dem Schuleintritt kennen. In einem systemorientierten Modell, das im Rahmen des Bund-Länder-Projektes TransKiGS entwickelt wurde, unterscheiden Lingenauber, von Niebelschütz (2010) sieben Ebenen, auf denen sich Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätte, Grundschule und Familie gestalten lässt:
– Erzieherin-Grundschullehrerin
– Erzieherin-Grundschullehrerin-Kindergarteneltern
– Erzieherin-Grundschullehrerin-Kindergartenkind
– Kindergarteneltern-Grundschuleltern
– Kindergartenkind-Grundschulkind
– Kindergartenkind-Erzieherin-Grundschullehrerin-Kindergarteneltern
– Kindergarteneltern-Kindergartenkind.

Für die letztgenannte Ebene der Zusammenarbeit haben die Autorinnen ein „Übergangsbuch“ entwickelt (Lingenauber, von Niebelschütz 2010). Die Idee besteht darin, dass die einzelnen Aktionen der Vorbereitung des Kindergartenkindes auf die Schule vom Kind jeweils im Kindergarten gezeichnet wird, das Kind diese Zeichnung zu Hause den Eltern erläutert und die Erläuterungen von den Eltern schriftlich notiert und vom Kind wieder in den Kindergarten mitgebracht werden. So entsteht eine Dokumentation der Schulvorbereitung, in die die Perspektiven des Kindes und der Eltern eingebunden sind.

Die Bedeutung der Eltern im Transitionsprozess wird insofern neu bewertet, als Eltern in einer Doppelfunktion gesehen werden: Sie sind nicht nur Unterstützer ihres werdenden Schulkindes, sondern sie bewältigen selbst mit dem Übergang in die Schule eine Entwicklungsaufgabe in den genannten Bereichen: Sie werden Eltern eines Schulkindes. Wie Eltern den Übergang zu Schulkindeltern erleben, und wie sie die Kooperation zwischen Kita und Schule für sich selbst als Unterstützung erleben, wird derzeit im Projekt „Auch Eltern kommen in die Schule“ im Staatsinstitut für Frühpädagogik, München, untersucht.

Schluss
Das Kind ist dann ein kompetentes Schulkind geworden, wenn es sich in der Schule wohl fühlt, die gestellten Anforderungen bewältigt und die Bildungsangebote für sich optimal nutzt. Man kann davon ausgehen, dass ein gelungener Start in die Schule die weitere schulische Laufbahn in der Grundschule und darüber hinaus positiv beeinflusst. Ein besonderes Augenmerk auf den Übergang zum Schulkind ist daher gerechtfertigt und notwendig. Hinzu kommt die Bedeutung des Übergangs in die Schule auch für die Eltern, die ernster genommen werden muss als bisher. Eltern können die Bildungslaufbahn ihres Kindes besser unterstützen, wenn sie selbst Unterstützung im Übergang zu Eltern eines Schulkindes erfahren. Der Transitionsansatz beinhaltet eine Familienperspektive. Er macht deutlich, dass es die Kompetenz des sozialen Systems ist, die Erfolg oder Misserfolg der Übergangsbewältigung maßgeblich bestimmt. Sowohl die Forschung als auch die Entwicklung der pädagogischen Praxis sind dabei weiter im Fluss.

Wilfried Griebel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München.

Literatur
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). (2007): Von der Kita in die Schule. Handlungsempfehlungen an Politik, Träger und Einrichtungen. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.

Griebel, W. (2010): Eltern im Übergang vom Kindergarten zur Grundschule. In: Diller,A., Leu, H., Rauschenbach, T. (Hrsg.). Wie viel Schule verträgt der Kindergarten? Annäherung zweier Lebenswelten. München: DJI-Verlag, S. 111-129.

Griebel, W., Niesel, R. (2011): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern. Berlin: Cornelsen Scriptor.

Lingenauber, S., von Niebelschütz, J.L. (2010): Das Übergangsbuch. Kinder, Eltern und Pädagoginnen dokumentieren den Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Schule. Berlin: Cornelsen Scriptor.

Netta, B., Weigl, M (2006): Hand in Hand. Das Amberger Modell – ein Kooperationsprojekt für Kindertagesstätten und Grundschulen. Oberursel: Finken.

Niesel, R., Griebel, W. (2010): Transitionen. In: Pousset, R. (Hrsg.). Handwörterbuch für Erzieherinnen und Erzieher. 2. aktualisierte Auflage. Berlin: Cornelsen Scriptor. S. 445-448.

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