fK 4/08 Kinderrechte aktuell

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinderrechte unter „Ausschöpfung der verfügbaren Mittel“ umsetzen
Folgerungen aus Artikel 4 der UN-Kinderrechtskonvention

von Reinald Eichholz

Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen beginnt mit einer Reihe grundlegender Bestimmungen, insbesondere der Verpflichtung, die Rechte des Kindes „ohne jede Diskriminierung“ in die Tat umzusetzen (Artikel 2 Abs. 1), und dem Gebot, bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen (Artikel 3 Abs. 1). Daran anschließend enthält das Übereinkommen folgenden Artikel 4: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte. Hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte treffen die Vertragsstaaten derartige Maßnahmen unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit.“

Zu Bedeutung und Tragweite dieser Bestimmung hat der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes am 3. Oktober 2003 ausführliche General Comments (UN-Dokument CRC/GC/2003/5) veröffentlicht, die wichtige Gesichtspunkte zum Verständnis der Vorschrift liefern. Am 21. September 2007 hat der UN-Ausschuss in Genf einen „day of general discussion“ zu dem Thema „resources for the rights of the child – responsibility of states” veranstaltet, dessen Erkennt¬nisse erneut in erläuternde General Comments münden sollen, die die Auslegung des Artikel 4 der Konvention weiter präzisieren.

Trotz dieser Bemühungen steht die Diskussion noch am Anfang. Zumal in Deutschland fehlt eine gründlichere Auseinandersetzung, was Artikel 4 der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) für die „Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“ bedeutet, was den spezifisch rechtlichen Gehalt der Bestimmung ausmacht oder ob die Vorschrift nicht letztlich überflüssig ist. Zu dieser Situation haben auch die von der Bundesregierung anlässlich der Ratifizierung 1992 abgegebenen „Erklärungen“ beigetragen, dass das Übereinkommen innerstaatlich „keine unmittelbare Anwendung“ finde; es begründe lediglich „völkerrechtliche Staatenverpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland nach näherer Bestimmung ihres mit dem Übereinkommen übereinstimmenden innerstaatlichen Rechts erfüllt.“ Der Sache nach sollte damit die rechtliche Bedeutung der Konvention im Ansatz eingegrenzt und die Auffassung zum Ausdruck gebracht werden, in Deutschland löse das Übereinkommen keinerlei Handlungsbedarf aus.

Vor diesem Hintergrund hat die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland am 4. April 2008 ein Expertengespräch zu Artikel 4 durchgeführt, bei dem Sachverständige unterschiedlicher Fachrichtungen die Bestimmung aus ihrer Sicht unter die Lupe genommen haben. An dem Gespräch nahmen als Expert(inn)en teil: Prof. Dr. Lothar Krappmann (Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes), Dr. Rudolf Martens (Paritätische Forschungsstelle Berlin), Dr. Antje Richter (Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V.), Prof. Dr. Dr. h.c. Christian Tomuschat (Humboldt-Universität Berlin) sowie Dr. Martin Werding (Institut für Wirtschaftsforschung – IFO – in München). Nachfolgend werden die Ergebnisse der Expertenäußerungen und der sich daran anschließenden Diskussion in zehn Thesen zusammengefasst.

Präzisierung der Staatenverpflichtungen
Artikel 4 UN-KRK ist Ausdruck des allgemeinen und ohnehin geltenden Grundsatzes „pacta sunt servanda“, also der Verpflichtung, eingegangene Verbindlichkeiten redlich zu erfüllen. Wenn Artikel 4 UN-KRK diese Verpflichtung gleichwohl so nachdrücklich betont, trägt dies der Tatsache Rechnung, dass die Rechte der Kinder in besonderer Weise Gefahr laufen, politisch nicht hinreichend ernst genommen zu werden. Artikel 4 UN-KRK präzisiert daher die übernommenen Verbindlichkeiten und bietet damit die Grundlage, deren Erfüllung mit besonderem Nachdruck einzufordern.

Volle Verbindlichkeit
Der Versuch, Artikel 4 UN-KRK als „soft law“ einzustufen und dadurch seine Verbindlichkeit herabzusetzen, verletzt nicht nur die Verpflichtung zur redlichen Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten, sondern verkennt, dass die Konvention durch den Beschluss der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 volle Verbindlichkeit erlangt hat. Dem stehen auch die „Erklärungen“ der Bundesregierung anlässlich der Ratifizierung der Konvention nicht entgegen.

Optimierungsgebot
Artikel 4 UN-KRK bezieht sich auf „die in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“. Deren Gehalt wird durch Artikel 4 UN-KRK nicht erweitert; die Einzelrechte gelten nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen der Konvention. Wenn gleichwohl hervorgehoben wird, dazu seien „alle geeigneten Maßnahmen“ zu ergreifen, so impliziert dies ein Optimierungsgebot, für eine beständige Verbesserung der Rechte und der Lebensbedingungen von Kindern Sorge zu tragen. Alle Bestimmungen der Konvention sind davon geprägt. Artikel 4 UN-KRK muss daher zu den allgemeinen Prinzipien des Übereinkommens – umbrella rights – gerechnet werden.

Verbindliches Rückschrittsverbot
Das Optimierungsgebot des Artikels 4 UN-KRK bewirkt im Umkehrschluss ein verbindliches Rückschrittsverbot. Indem die Konvention zwar anerkennt, dass es „Umstände und Schwierigkeiten“ geben kann, „welche die Vertragsstaaten daran hindern, die in diesem Übereinkommen vorgesehenen Verpflichtungen voll zu erfüllen“ (Artikel 4 UN-KRK Abs. 2), wird unterstellt, dass allenfalls Stillstand, nicht aber Rückschritt hinzunehmen ist. Artikel 4 UN-KRK verbietet daher, einmal erreichte Standards zurück zu nehmen. Daraus folgt insbesondere bei finanziellen Leistungen die Verpflichtung, zum Ausgleich von Kaufkraftverlusten für eine kontinuierliche Anpassung der Leistungen Sorge zu tragen.

Finanzielle Ressourcen und andere Leistungen
Wenn Artikel 4 UN-KRK hervorhebt, dass „alle geeigneten Maßnahmen der zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“ zu treffen seien, so schließt das Erfordernis der Eignung ein, dass sowohl in der Zielsetzung als auch bei der Wahl der Mittel die Rechte des Kindes in voller Breite aufgegriffen werden müssen. Das bedeutet insbesondere, dass über finanzielle Ressourcen hinaus auch Leistungen nicht finanzieller Art zur Verfügung zu stellen sind, und zwar mit Blick auf die Subjektstellung des Kindes vorrangig als deren eigenes Recht.

Höchstmaß möglicher Anstrengungen
Bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten des Kindes verschleiert die nichtamtliche deutsche Übersetzung – „unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel“ – den nach der amtlichen Fassung hohen Anspruch, diese Rechte durch ein „maximum extent of availabe ressources“ einzulösen. Dadurch verbietet sich der bloße Verweis auf die nach Haushaltsplan verfügbaren Mittel. Es erfordert vielmehr unter selbstverständlicher Achtung staatlicher Souveränität einen auf das Höchstmaß möglicher Anstrengungen ausgerichteten Diskurs über das gesamte Einnahme- und Ausgabeverhalten.

Umfassende Leistungsbilanz
Die positive Quantifizierung der verfügbaren Mittel ist angesichts des notwendig weiten politischen Ermessens beim Einsatz der Bund, Ländern und Gemeinden zur Verfügung stehenden Ressourcen problematisch. Negativ abgrenzend steht aber fest, dass der (übliche) Hinweis auf die für Kinder und Familien aufgewendeten hohen Staatsausgaben fehlgeht und irreführt. Nicht nur werden in der Regel sachfremde, nicht streng kindbezogene Ausgaben einbezogen; vor allem werden die auf Dauer von den begünstigten Kindern selbst erbrachten Leistungen an den Staat nicht gegengerechnet. Derzeit besteht ein Saldo von rund 80.000 Euro, um den die je Kind im Laufe seines Lebens an den Staat oder die öffentlichen Sicherungssysteme erbrachten Leistungen die staatlich für Kinder aufgewendeten Leistungen übersteigen. Das Argument der Nichtfinanzierbarkeit von Leistungen für Kinder ist illegitim, solange in der Leistungsbilanz ein Saldo zugunsten der Kinder besteht. Denn bis zur Beseitigung dieses Saldos finanzieren Kinder die ihnen zukommenden Leistungen auf lange Sicht selbst; eine tatsächliche Umverteilung zugunsten der nachwachsenden Generation findet bis dahin nicht statt.

Vorlage aussagekräftiger Entwicklungspläne
Ob der Staat seinen Verpflichtungen nach Artikel 4 UN-KRK nachkommt, lässt sich nur beurteilen, wenn die staatlichen Finanzen auf allen Verantwortungsebenen offen gelegt werden und möglichste Transparenz hinsichtlich der Ausübung des politischen Ermessens hergestellt wird. Die Beteiligung der Nichtregierungsorganisationen an diesen Prozessen ist sachnotwendig. Artikel 4 UN-KRK impliziert daher als „prozedurales Recht“ die Verpflichtung zur Einhaltung unerlässlicher Verfahrensschritte, ohne die die Vorschrift bedeutungslos bleiben würde. Wo es an hinreichenden Anstrengungen zur Umsetzung der Konvention fehlt, stützt dies die Praxis des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, die Staaten im Rahmen der Concluding Observations zur Vorlage aussagekräftiger Entwicklungspläne aufzufordern.

Völkerrechtliche Pflichtverletzung und Verletzung subjektiver Rechte
Macht der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes Verstöße gegen Artikel 4 UN-KRK zum Gegenstand seiner Concluding Observations und stellt er fest, dass der Vertragsstaat trotz Wiederholung der Beanstandung dem Verstoß nicht abhilft, kann die völkerrechtliche Pflichtverletzung in die Verletzung subjektiver Rechte des Einzelnen umschlagen, wenn die betroffenen Kinder aufgrund ihres zunehmenden Alters dem Rechtsschutz nach der UN-Kinderrechtskonvention entwachsen und dadurch konkrete Nachteile erleiden.

Wirksames Monitoring
Die Verwirklichung der Rechte des Kindes nach Artikel 4 UN-KRK setzt ein wirksames Monitoring zur UN-Kinderrechtskonvention voraus. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat die Bundesregierung daher angehalten, ein unabhängiges Kontrollsystem zu schaffen. Die bisherigen Anstrengungen, diese Forderungen zu erfüllen, sind unzureichend und werden Anlass für weitere Anmahnungen des Ausschusses sein.

Dr. Reinald Eichholzist Mitglied der Koordinierungsgruppe der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland.

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