fK 4/08 Derksen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Räume durch Erleben entwerfen

Baukunst-Aktionen mit Lehm für Kinder

von Karen Derksen

„Im Zusammenspiel der Generationen ist es die Aufgabe der Kinder, die Welt neu zu erfinden. Dafür gibt es kein besseres Instrument als die Kunst“, so lautet das Credo des gemeinnützigen Vereins Bunte Kuh e.V., den Nepomuk Derksen 1985 in Hamburg initiierte. Durch sein Kunst- und Architekturstudium und aus einem Pädagogenhaus stammend, entwickelte er aus der Verbindung der drei Disziplinen das Lehm-Baukunst-Projekt. Bunte Kuh e.V. wendet sich mit dem Angebot kultureller Bildung im Bereich Architektur/künstlerisches Gestalten vorrangig an Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten, bildungsfernen Schichten und Migranten und führt das Projekt als regelmäßigen kreativen Impuls über mehrere Jahre in sozialen Brennpunkten durch. Die niedrigschwellige, attraktive Mitmach-Aktion findet an zentralen Plätzen statt, ist kostenlos und für alle Besucher frei zugänglich.

Unter einem großen, nach allen Seiten offenen Zelt, entstehen unter den Händen von kleinen und großen „Baumeistern“ frei modellierte Lehm-Landschaften mit begehbaren Räumen und Skulpturen bis zu drei Meter Höhe. Kinder bauen Hand in Hand mit ihren Eltern und Nachbarn, mit Menschen verschiedener Ethnien, mit geistig- und körperlich Behinderten, mit Künstlern, Pädagogen und mit fachlicher Betreuung, innerhalb von zwei bis drei Wochen eine neue Stadtlandschaft: Labyrinthe, Höhlen, 1001 Kuppeln und von Drachen bewachte Tore…

Die Kinder werden in die Projektplanung aktiv mit einbezogen, indem sie zusammen mit dem Team aus vier bis sechs Künstlern, Architekten und Pädagogen einige ihrer eigenen Modelle auswählen, die sie dann gemeinsam in Groß bauen. Mittels einer selbst entwickelten Lehmpresse können Lehmstränge in einer auch schon für kleine Kinder leicht handhabbaren Größe und Konsistenz produziert werden.

Am letzten Bautag wird ein Abschlussfest gefeiert. In der dann folgenden Ausstellungszeit können die Kunstwerke noch einmal ein bis zwei Wochen ausgiebig bestaunt und beklettert werden. Die Kinder nehmen ihre Modelle, die während der Bautage eine imposante Ausstellung ihres Ideenreichtums bilden, mit nach Hause. Am Schluss werden die Bauten abgetragen und der Lehm für das nächste Bauabenteuer wieder genutzt.

Pro Aktion nehmen ca. 2.000 Besucher teil. Die Kinder und Jugendlichen kommen sowohl über die kooperierenden Schulen, Kitas, Elternschulen, Jugendhäuser, Behinderteneinrichtungen aus dem Stadtteil, als auch zu gleichen Teilen in ihrer Freizeit mit Eltern, Großeltern und Freunden. Die Aktionen finden jeweils zwischen Mai bis September statt. Im Winter werden die Stadtteil-Netzwerke weiter ausgebaut, erfolgen Dokumentation und Evaluation der Projekte und ihre Kommunikation in die Politikfelder Bildung, Kultur, Gesundheit, und Stadtentwicklung.

Die Lehmbau-Aktionen ermöglichen benachteiligten Kindern und Jugendlichen das Erlebnis sinnlicher, kreativer, Gesundheit und Integration fördernder Bauprozesse, bei denen der Baustoff Lehm seine faszinierende soziale und kulturelle Klebekraft entfaltet: Es gibt auf der Lehm-Baustelle vielfältige und frei wechselbare Beteiligungsangebote an einem Ort, zur selben Zeit. Jedes Kind kann sich mit seinen Fähigkeiten einbringen, und findet seinen Platz im gemeinsamen kreativen Prozess. Einige Kinder bauen Modelle an Tischen, andere klopfen faustgroße Lehmklumpen auf Mauern fest, bauen so die Bauwerke in die Höhe und bearbeiten deren Oberflächen. Während des Bauens werden ca. 25 Kubikmeter Lehm geknetet, gestampft und mit Fäusten bearbeitet, verstrichen und verziert. Dabei wird die natürliche Gestaltungs- und Bewegungsfreude unterstützt und die Fein- und Grobmotorik geübt.

Erzieherinnen und Eltern beobachten immer wieder mit Verwunderung und Interesse die Entwicklung psychomotorischer Fähigkeiten. Gerade so genannte hypermotorische Kinder sind ausdauernd und konzentriert arbeitend bei der Sache. Die Perspektive, große Bauwerke in realen Architekturdimensionen erstellen zu können, verführt dabei zur Zusammenarbeit, auch mit Fremden. So ist neben der Entwicklung motorischer Fähigkeiten und eigener Gestaltungskompetenz die Überwindung von kulturellen und sozialen Grenzen eine wichtige Erfahrung beim Lehmbauen. Der Wert gemeinsamer Arbeit ist mit den Händen zu greifen. Die Baustelle ist eine Stolzproduktionsanlage; von individuellem Stolz und von Stolz auf das in der heterogenen Gruppe gemeinsam Geschaffene.

Alina, 5 Jahre, im Interview: „Ich hatte noch nie im Leben so etwas gemacht, und ich dachte, ich kann es nicht. Ich dachte nur, dass ich es nicht kann. Aber ich kann es!“ Mit ihrem Resümee „Es hat mir Spaß gemacht… (sie überlegt kurz) wegen der ganzen Arbeit!“ drückt sie aus, dass sie sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ernst genommen fühlt. Sehr schnell erkennt jedes Kind auf seine Art, dass es sich hier nicht um „Sandkastenspiele“, sondern um eine Mitarbeit an einem großen, gemeinsamen Projekt handelt. Die Lehmbau-Aktionen im öffentlichen Raum ermöglichen es Kindern zu zeigen, dass sie imstande sind, „Großes“ zu leisten. Sie planen und bauen in großem Maßstab fantasievolle Architektur. Durch ihre „Arbeit“ werden Erwachsenen-Dimensionen von Raum in einer von allen bewunderten Qualität geschaffen. Dabei werden sie über die gemeinsame Umsetzung ihrer Bauideen zur Mitverantwortung für die Gestaltung ihrer Umwelt ermutigt. Durch Partizipationserfahrungen üben die Kinder schon früh spielerisch basale demokratische Handlungskompetenzen ein. Es entsteht eine Spielkultur, die weder die Kunst noch das Spielen als Selbstzweck begreift, sondern die kreative und soziale Erfahrung zur Basis für das Wissen um selbst bestimmte Prozesse und die Veränderbarkeit von – oft fremdbestimmter – Realität macht: eine Kultur des Spielens als Weg zur Ausbildung von Identität und Gemeinschaft.

Erzieherinnen und Lehrer schätzen den Bauprozess in ihren Erfahrungsberichten als Gewalt mindernd und die Persönlichkeit stärkend ein: „Die Kinder mit geringem Wortschatz konnten ihre Fantasie mit den Händen ausdrücken“. Kinder mit hohem Energiepotenzial können dieses beim Lehmklumpenverarbeiten an den großen Bauten einbringen und Aggressionen in konstruktive Bahnen leiten. Die Schüchternen wiederum arbeiten oft an den Modellen und entwerfen dort Figuren und Räume, mit Fähigkeiten, die – wie eine Erzieherin sagte – sie „ihnen niemals zugetraut hätte“.

Indem das Lehmbau-Projekt das Selbstwertgefühl und die Interaktionsfähigkeit fördert, dient es auch der seelischen Gesundheit der Kinder. Die von Beteiligung lebenden Aktionen fördern so über die Freude am Gestalten und durch die Integration von Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Bildungs- und Altersstufenstufen sowohl die persönliche Entwicklung jedes einzelnen Kindes, als auch Toleranz und Demokratie in unserer Gesellschaft. Denn Teilhaben, die Möglichkeit, nach individuellen Fähigkeiten Kompetenzen zu erwerben und Anerkennung bekommen, sind nicht nur die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung von Kindern, sondern auch für das Gelingen von Demokratie.

Die vielschichtigen Wirkungen und die modellhafte Bedeutung dieses Projekts – in dem sich kulturelle Bildung, Gesundheitsförderung und Gewaltprävention für Kinder und Jugendliche, die Zusammenarbeit der Generationen und Kulturen, die Arbeit mit körperlich und geistig Behinderten, Architekturpädagogik, Umweltbildung und Stadtteilkultur verbinden – wurden unter anderem mit dem Deutschen Präventionspreis 2004 und dem Deutschen Kinderpreis 2007 ausgezeichnet.

Es ist die Vision von Nepomuk Derksen, diese Lehmbau-Methode in die Erzieher- und Lehrer-Ausbildung zu integrieren, denn das Bauen mit Lehm öffnet dem ganzheitlichen Lernen neue Wege. Es fördert durch die Gleichzeitigkeit von Begreifen und Gestalten im kommunikativen, kreativen Schaffensprozess die kognitiven, motorischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten der Kinder. Es bietet fließende Übergänge zwischen künstlerischer, handwerklicher, integrativer und therapeutischer Arbeit mit Kindern. Fortbildungen für Erzieher, Lehrer und Spielpädagogen bietet Bunte Kuh e.V. bereits regelmäßig an.

Der Verein baut das Netzwerk von periodisch bespielten Lehm-Aktionsplätzen kontinuierlich aus. So können die Lehm-Baukunst-Aktionen als reisender Wanderzirkus an immer neuen Orten eine Vorstellung davon geben, dass es möglich ist, Kindern die Veränderbarkeit der Welt begreifbar zu machen, indem sie – im haptischen wie im ideellen Sinne – neue Räume entwerfen.

www.buntekuh-hamburg.de

Karen Derksen ist verantwortlich für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Verein Bunte Kuh e.V. in Hamburg.

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