fK 4/00 Nauck

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Familien ausländischer Herkunft in Deutschland

von Bernhard Nauck

Wie groß die Anzahl der in Deutschland lebenden Personen ist, die im Ausland geboren worden sind und damit eine unmittelbare internationale Migrationserfahrung haben, weiss niemand. Der Anteil der Personen, der entweder selbst im Ausland geboren ist oder aber Eltern ausländischer Herkunft hat, dürfte jedoch einen ganz erheblichen Anteil der Wohnbevölkerung ausmachen. Folgende verfügbare Eckdaten beschreiben diese Situation:

(1) Ende des Jahres 1996 lebten 7,3 Mill. Ausländer in Deutschland; sie bildeten damit 8,9% der Wohnbevölkerung in Deutschland. 1961 lebten ca. 700.000 Ausländer in Westdeutschland und bildeten zu diesem Zeitpunkt 1,2% der Wohnbevölkerung. Entsprechend ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Ausländer Migranten vornehmlich der ersten Generation sind, deren Kinder (der zweiten Migrantengeneration) derzeit in etwa das Alter erreichen, das ihre Eltern zum Zeitpunkt ihrer Migration hatten und Angehörige der dritten Migrantengeneration in Deutschland bislang eher selten sind. Diese Personengruppe umfasst jedoch nicht die Gesamtheit der Personen ausländischer Herkunft in Deutschland: Hinzuzurechnen sind hierzu mindestens die ca. 3,7 Mill. Aussiedler, die zwischen 1955 und 1995 nach Deutschland eingereist sind, wobei die meisten Zuwanderungen seit 1985 erfolgt sind, so dass wiederum davon auszugehen ist, dass die direkten Migrationserfahrungen überwiegen.

(2) Anders als bei den Aussiedlern handelt es sich bei der ausländischen Wohnbevölkerung keineswegs um eine im Bestand gleichbleibende Personengruppe, vielmehr ist eine ganz erhebliche Fluktuation zu verzeichnen. Zwischen 1974 und 1994 sind 12,3 Mill. Ausländer nach Deutschland zugezogen und 9,9 Mill. fortgezogen. Diese Fluktuation macht somit ein Mehrfaches des Bestandes aus und ist keineswegs auf solche Ausländer beschränkt, die aus EU-Mitgliedsstaaten stammen und keinerlei Mobilitätsbarrieren unterliegen. So stehen in diesem Zeitraum bei den Italienern 1,1 Mill. Zuzügen 1,3 Mill. Fortzüge gegenüber, bei den Türken 1,9 Mill. Zuzügen 1,7 Mill. Fortzüge. Ebensowenig beschränken sich Fortzüge etwa auf ältere Migranten: Zwischen 1974 und 1994 kehrten insgesamt 654.393 der unter 18-Jährigen türkischer Staatsangehörigkeit in die Türkei zurück (39,6% aller Rückkehrer). Insgesamt liegt der Anteil der Zu- und Fortzüge an der gesamten ausländischen Bevölkerung in Deutschland bei 15% bis 20% pro Jahr und ist damit höher als z.B. in Großbritannien (4%), Frankreich (5%), Belgien (8%), Schweden (8% bis 10%), den Niederlanden (11% bis 12%) und der Schweiz (12% bis 13%).

(3) Migration ist zum dominanten Bestandteil des Bevölkerungsprozesses der Bundesrepublik Deutschland geworden. Im Jahr 1995 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 765.221 Geburten (davon 99.700 mit ausländischer Nationalität), 884.588 Todesfälle (davon 12.383 von Ausländern), 1.096.048 Zuwanderungen (davon 792.701 von Ausländern) und 698.113 Abwanderungen (davon 567.441 von Ausländern) registriert. Die 1,65 Mill. natürlichen Bevölkerungsbewegungen (Geburten und Sterbefälle) sind in diesem Jahr von den 1,80 Mill. wanderungsbedingten Bevölkerungsbewegungen übertroffen worden. Dabei haben die Wanderungsgewinne die Bevölkerungsverluste des “natürlichen” Bevölkerungssaldos mehr als ausgleichen können. Zumindest nach diesem Kriterium wird man zu Recht feststellen müssen, dass Deutschland tatsächlich ein Einwanderungsland ist. Es wäre weit verfehlt, diese Situation im gegenwärtigen Deutschland als Besonderheit im internationalen oder im historischen Vergleich zu sehen: (Zu-)Wanderungen sind nicht auf Deutschland beschränkt, sie finden sich in ähnlicher Weise sowohl in anderen Wohlstandsgesellschaften als auch in Armutsgesellschaften. Ebensowenig handelt es sich um ein grundsätzlich “neues” Phänomen, vielmehr hat es die gesamte Menschheitsgeschichte begleitet und muss deshalb als ein dauerhafter, konstitutiver Bestandteil jeden gesellschaftlichen Lebens begriffen werden.

Es würde zu Missverständnissen führen, würde die Situation von Familien mit Migrationserfahrung ausschließlich an der rechtlichen Unterscheidung zwischen Ausländern und Inländern festgemacht. Vielmehr gilt es, sich die Vielschichtigkeit der Lebenssituation dieser Familien zu vergegenwärtigen, wobei der Ausländerstatus nur einer von mehreren bedeutsamen Faktoren ist, der die Besonderheit dieser Lebenssituation ausmachen kann. Aus diesem Grunde wird hier der Begriff “Familien ausländischer Herkunft” gebraucht, um zu verdeutlichen, dass die internationale Migrationserfahrung der entscheidende Faktor für die Besonderheit der Lebenslage dieser Familien ist.

Transnationale Migration stellt Familien vor große Herausforderungen. Je größer die soziale und kulturelle Distanz zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft, desto größer sind die Aufgaben der Alltagsbewältigung. Migrantinnen und Migranten kommen, sofern es sich nicht um Verfolgte, Vertriebene und Flüchtlinge handelt, mit dem Ziel und hoher Motivation, ihr Humanvermögen zur eigenen Wohlfahrtsbildung voll einzusetzen. Sie kommen in Deutschland in eine Gesellschaft, deren Konsum- und Wohlfahrtsniveau eines der höchsten in der Welt ist und das Wohlfahrtsniveu ihrer Herkunftsgesellschaft zumeist deutlich übersteigt, und sie begeben sich zugleich in die Konkurrenz auf einem umkämpften Arbeitsmarkt. Damit das Migrationsprojekt nicht scheitert, bedarf es sowohl der gemeinsamen Ressourcen der Familien als auch eines wettbewerbsfähigen Humankapitals. Diese Investitionen müssen auch dann für die deutsche Aufnahmegesellschaft nicht verloren sein, wenn das familiale Migrationsprojekt zu einer Fort- oder Rückwanderung der Familie oder einzelner Familienmitglieder führt. Im Aufnahmeland erworbene Kompetenzen und Erfahrungen sind nicht nur für zurückkehrende Migrantinnen und Migranten von außerordentlicher Bedeutung, sie tragen auch wesentlich zur positiven Gestaltung wirtschaftlicher, politischer und kultureller Beziehungen zwischen den Herkunftsländern und Deutschland bei.

Die latente Botschaft der meisten anwendungsorientierten wissenschaftlichen Untersuchungen und insbesondere von Darstellungen, die sich an eine breitere Öffentlichkeit gewandt haben, kann wie folgt zusammengefasst werden: Ausländische Familien haben und sie machen Probleme. Nun soll es hier keineswegs darum gehen, die zweifellos vorhandenen sozialen Probleme von und mit Angehörigen von Familien ausländischer Herkunft zu ignorieren, gering zu schätzen oder zu beschönigen. Noch viel weniger wird es darum gehen, der deutschen Gesellschaft in einer Art rückwärtsgewandter Utopie Familien ausländischer Herkunft als Gegenbild vorzuhalten, in dem “noch” alles in bester Ordnung ist. Auch gilt es die Vorstellung zu überwinden, Menschen ausländischer Herkunft seien vorrangig als “Opfer” ihrer Verhältnisse zu sehen, die als “Gefangene” von Traditionen “blind” überkommenen Werten und Normen folgen und auf gesellschaftliche Umbrüche nur mit “Kulturschock” reagieren können. Ein solches Bild vom Menschen hat eine lange Tradition und ist besonders erfolgreich in Berufsgruppen aufgegriffen und gepflegt worden, die ihr Selbstverständnis daraus beziehen, “Helfer” zu sein. Ein solches Menschenbild muss sich bei Menschen ausländischer Herkunft als besonders verhängnisvoll erweisen, da es sie ausschließlich als “Produkte” einer fremdkulturellen Sozialisation begreift. Ein solches Bild des Menschen berücksichtigt keine individuellen Veränderungen durch lebenslange Erfahrungen. Migranten müssen – wie alle menschlichen Akteure – als produktiv-realitätsverarbeitende Subjekte begriffen werden, die ihre individuellen Ziele verfolgen und dabei die ihnen verfügbaren, zumeist knappen Mittel findig und kreativ einsetzen, sich nach Möglichkeit passende Umwelten für ihre Zwecke suchen, diese mitgestaltend verändern und dabei auf Kooperation angewiesen sind. Möglicherweise gilt dies für Migranten in besonderem Maße, haben sie doch ihr Schicksal ganz offensichtlich in die eigene Hand genommen.

Migrantenfamilien weisen insgesamt eine große kulturelle Vielfalt auf, die sich aus der Verschiedenartigkeit ihrer nationalen, ethnischen und kulturellen Herkunft ergibt. Diese Vielfalt führt dazu, dass Migrantenfamilien verschiedener Herkunft selten untereinander Kontakt haben. Dies verbietet jedoch auch eine uniforme Verhaltensweise der Aufnahmegesellschaft und seiner Institutionen ihnen gegenüber. Diese kulturelle Vielfalt bezieht sich insbesondere auch auf die normativen Leitbilder, an denen sich Migrantenfamilien verschiedener sozialer und kultureller Herkunft orientieren und nach denen in ihnen Familie gelebt wird. So ist häufig die Bedeutung von Individualität als Bestandteil der personalen Identität weit geringer als in der deutschen Aufnahmegesellschaft. Personen ausländischer Herkunft betonen häufig weit weniger ihre Individualrechte, sondern sehen sich in erster Linie als Mitglieder der jeweiligen familiären Gruppe. Dies betrifft insbesondere die Ausgestaltung der Ehe und die gegenseitigen Erwartungen der Ehepartner. So entspricht es dem Selbstverständnis der deutschen Familienkultur, dass die Ehe vor allem als eine selbstgewählte Intimbeziehung gesehen wird, sie sich dem individualistischen Glücksstreben unterordnet und es als legitim angesehen wird, die Ehe dann – auch einseitig – aufzukündigen, wenn sie diesem Individualrecht entgegensteht. Demgegenüber ist in gemeinschaftlichen Familienkulturen nicht nur eine größere Mitwirkung der jeweiligen Herkunftsfamilien beim Zustandekommen von Ehen gegeben, vielmehr werden auch der Intimisierung der Gattenbeziehung durch ein höheres Ausmaß sozialer Kontrolle ebenso Grenzen gesetzt wie der individuellen Aufkündbarkeit.

Große Unterschiede gibt es auch in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, d.h. in den normativen Erwartungen über die Aufgaben- und Machtverteilung zwischen den Ehepartnern und in der geschlechtsspezifischen Differenzierung von normativen Erwartungen an Söhne und Töchter, die in entsprechenden Erziehungsstilen ihren Ausdruck finden. Ebenso wird man feststellen, dass das normative Leitbild der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der deutschen Familienkultur von der “partnerschaftlichen” Vorstellung der prinzipiellen Gleichheit der Rechte und Pflichten der Ehegatten und von einer situativ begründeten Aufgabenteilung ausgeht – bei allen sich daraus im Familienalltag häufig ergebenden Widersprüchlichkeiten. Demgegenüber wird in einer Vielzahl von Herkunftskulturen die Vorstellung der Differenz der Geschlechter nicht nur als konstituierendes Element der geschlechtsspezifischen Entscheidungsmacht und Aufgabenteilung zwischen den Ehegatten legitimierend herangezogen, sondern auch für unterschiedliche Formen elterlicher Investitionen in Söhne und Töchter.

Ebenso variieren die Beziehungen zwischen den Generationen, d.h. welche wechselseitigen Rechte und Pflichten mit der Vater-, Mutter-, Sohn- und Tochterrolle jeweils über den gesamten Lebensverlauf hinweg verbunden sind, wie der Transfer von materiellen Gütern und Dienstleistungen zwischen den Generationen organisiert ist, und welche Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit sich damit verbinden. Während das normative Leitbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft zunehmend von einer lebenslangen Verpflichtung der Eltern auf ihre Kinder und einer Stärkung der Kindesrechte bestimmt ist, wobei Sachwerte und Dienstleistungen intergenerativ mit großer Ausschließlichkeit von der Eltern- auf die Kindgeneration transferiert werden (während Transfers von jüngeren auf ältere Kohorten indirekt über kollektive Sicherungssysteme erfolgen), werden Generationenbeziehungen in anderen Kulturen häufig durch eine relativ früh einsetzende lebenslange Verpflichtung der Kinder auf ihre Eltern und vergleichsweise starke Elternrechte konstituiert.

Immer schon hat die Frage der “Integration” von Familien ausländischer Herkunft in die deutsche Gesellschaft im Brennpunkt öffentlicher Diskussionen gestanden. Da hierbei immer auch normative Vorstellungen darüber eine Rolle gespielt haben, wie diese “Integration” (insbesondere aus der Sicht der Aufnahmegesellschaft) aussehen und welches das wünschenswerte Ergebnis dieses Prozesses sein soll, konnte es nicht ausbleiben, dass alle in diesen Diskussionen gebrauchten Begriffe in ihrer Bedeutung hochgradig schillernd und häufig genug missverständlich sind, und als “Kampfbegriffe” in politischen Auseinandersetzungen starken Abnutzungen unterliegen. Entsprechend häufig werden die Begriffe ausgetauscht, in ihrer Bedeutung verändert und mit neuen positiven oder negativen Bewertungen versehen. Die öffentliche “Integrations”-Diskussion wird zumeist vorschnell auf das Verhältnis zwischen “dem” Ausländer und “der” Aufnahmegesellschaft reduziert und blendet damit alle gesellschaftlichen Zwischenebenen ebenso aus wie das Verhältnis zur Herkunftsgesellschaft. In der einfachsten Vorstellung wird dann in der vollständigen Ununterscheidbarkeit des Migranten von den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft der wünschenswerte, möglichst schnell zu realisierende Endzustand gesehen. Entsprechend wird das Verhältnis der Migrantenfamilie zur Herkunfts- und zur Aufnahmegesellschaft als sich gegenseitig ausschließend verstanden: In dem Maße, wie sich Integration in die Aufnahmegesellschaft vollzieht, nimmt demnach die Integration in die Herkunftsgesellschaft ab. Eine solche Verengung der Perspektive, die sich auch in vielen Argumenten über die Ausgestaltung von ausländer-, aufenthalts- und staatsbürgerrechtlichen Regelungen wiederfinden lässt, kann der Komplexität der Lebensverhältnisse von Familien ausländischer Herkunft nicht gerecht werden und manövriert sie nur in weitere Dilemma-Situationen hinein. Sie fordert ihnen Anpassungsleistungen ab, die ebenso unrealistisch wie den Gegebenheiten in modernen Gesellschaften unangemessen ist Für diese ist nämlich ein erhebliches Maß an Desintegration “normal” in dem Sinne, dass ihre hohe Arbeitsteiligkeit und institutionelle Ausdifferenzierung klare Grenzziehungen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen und den in ihnen geltenden Handlungsnormen erfordert. Dies bringt zwangsläufig eine Pluralität im Selbstverständnis sozialer Gruppen, in den Lebensformen und in deren kulturellen Ausgestaltung auch dann mit sich, wenn keine Zuwanderungsminderheiten vorhanden wären.

Von der Integration der Migranten als Individuen und als soziale Gruppe ist die Handlungsintegration zu unterscheiden, d.h. wie der einzelne Migrant die verschiedenen Elemente seiner Herkunfts- bzw. Minderheitenkultur und diejenigen der Aufnahmegesellschaft, die sich ihm bietenden Handlungsoptionen in Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft und seine verschiedenen sozialen Verkehrskreise aus Mitgliedern beider Gesellschaften “integriert”. In der Migrationssituation besteht zwischen der Herkunftskultur der Migrantenfamilien und den in der Aufnahmegesellschaft vorfindbaren Handlungsmöglichkeiten häufig eine komplizierte Wechselwirkung. Entsprechend ist das Ergebnis dieses Kulturkontaktes und des damit verbundenen Akkulturationsprozesses keineswegs eindeutig, vielmehr lassen sich als Reaktion auf die Handlungsmöglichkeiten und -barrieren sehr unterschiedliche Ausgänge denken:

Marginalisierung der Migrantenfamilie ist dann die Folge dieses Kulturkontaktes, wenn die jeweilige Herkunftskultur aufgegeben bzw. verloren worden ist, ohne dass zugleich ein Erwerb der Kultur der Aufnahmegesellschaft erfolgt wäre. Dieser Ausgang des Kulturkontakts wird insbesondere dann wahrscheinlich, wenn den Zugewanderten hohe Zugangsbarrieren in der Aufnahmegesellschaft in bezug auf Bildung, Arbeit, Wohnen und soziale Partizipation entgegenstehen und wenn zugleich wenige Gelegenheiten für die Aufrechterhaltung einer eigenen Minoritätensubkultur oder zur Herkunftsgesellschaft gegeben sind. Die Solidarpotentiale in Familien ausländischer Herkunft stellen am wirksamsten sicher, dass keine Marginalisierung der ausländischen Kinder und Jugendlichen erfolgt, bei der jegliche soziale Bindungen und eine kulturelle Identität fehlen. Jugendkriminalität, Drogenmissbrauch, Verwahrlosung und psychische Erkrankungen wären erwartbare Konsequenzen einer solchen Entwicklung. Besondere Risiken für eine solche Entwicklung ergäben sich daraus, wenn in einer Aufnahmegesellschaft zwar (zumeist unter dem Namen “Ausländerintegration”) “Assimilation” als Ablösung von der Herkunftskultur propagiert, gefordert und betrieben wird, aber Gelegenheiten für die Übernahme von sozialen Positionen in der Aufnahmegesellschaft (insbesondere: im Beschäftigungssystem) nicht bereitstehen und soziale Distanzierung den Lebensalltag bestimmt.

Segregation der Migrantenfamilie ist dann gegeben, wenn die jeweilige Herkunftskultur aufrechterhalten oder als Minoritätensubkultur akzentuiert und weiterentwickelt wird, ohne dass es zu einer Interaktion mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft oder zu einem Austausch zwischen Minderheits- und Mehrheitskultur käme. Dieser Ausgang des Kulturkontakts wird insbesondere dann wahrscheinlich, wenn entweder hohe Zugangsbarrieren zur Aufnahmegesellschaft bestehen oder hohe Anreize zum Verbleib in der eigenethnischen Subkultur bestehen (z.B. wegen eines attraktiven ethnischen Arbeits- oder Heiratsmarktes) und zugleich genügend Gelegenheiten für eine solche ethnische Schließung bestehen, d.h. wenn sich bei einer hinreichenden Größe der eigenen Migrantenminorität und bei ihrer institutionellen Vervollständigung genügend Gelegenheiten ergeben, möglichst viele Lebensbereiche innerhalb der eigenen ethnisch-kulturellen Minorität zu organisieren. “Segregation” als Form ethnischer Abschließung, die ja auch Verdichtung der sozialen Beziehungen bedeutet, ist auch eine verständliche Reaktion des Selbstschutzes von Migrantengruppen vor drohender Marginalisierung.

Assimilation der Migrantenfamilie ist dann gegeben, wenn die jeweilige Herkunftskultur zugunsten der Kultur der Aufnahmegesellschaft aufgegeben worden ist. Dieser Ausgang des Kulturkontakts ist insbesondere dann wahrscheinlich, wenn die Aufnahmegesellschaft keine soziale Schließung aufweist, d.h. wenn die Zugehörigkeit zur Zuwandererminorität keinen Einfluss auf die sozialen Chancen und den Statuserwerb in der Aufnahmegesellschaft hat, und zwar in dem Maße, wie sich individuelle Qualifikation und Leistung unmittelbar in sozialen Status umsetzen lässt. Insbesondere eine kulturelle Angleichung der Familienleitbilder ist dabei an die Voraussetzung gebunden, dass sich die familiären Beziehungen dauerhaft nach den Lebensbedingungen in der Aufnahmegesellschaft und den in ihr vorhandenen Institutionen kollektiver Sicherung organisieren lassen.

Handlungsintegration ist dagegen ein Ausgang des Kulturkontakts, bei dem die Kulturen der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft dauerhaft nebeneinander bestehen bleiben und – je nach situativen Erfordernissen – zwischen beiden gewechselt und in einen Gesamthandlungszusammenhang gebracht werden. Dieser außerordentlich anspruchsvolle und hohe individuelle Kompetenzen erfordernde Modus ist nur dann ein wahrscheinlicher Ausgang des Kulturkontakts, wenn dauerhafte Anreize für die Aufrechterhaltung einer “Doppelkultur” mit allen ihren Notwendigkeiten des sozialen und kulturellen Lernens und der Aufrechterhaltung von mehreren getrennten Verkehrskreisen bestehen. Dies wird z.B. bei solchen Familienunternehmen der Fall sein, die sich zunehmend häufiger auch aus Familien von Arbeitsmigranten entwickeln, erfolgreich transnational operieren und aus ihrer sozialen und kulturellen Integration in mehreren Gesellschaften Nutzen ziehen. Welchen Ausgang dieser migrationsbedingte Akkulturationsprozess in der jeweiligen Aufnahmegesellschaft für die Migrantenfamilie nimmt, hängt somit nicht nur von ihren eigenen Kompetenzen und Handlungszielen ab, sondern auch von ihren Handlungsmöglichkeiten. Diese werden maßgeblich von ihrer politischen Gestaltung in der Aufnahmegesellschaft beeinflusst.

Ein wachsender Anteil der Familien ausländischer Herkunft zeichnet sich dadurch aus, dass er aus Familienmitgliedern unterschiedlicher Nationalität und ethnischer Herkunft zusammengesetzt ist. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass ein deutsches Ehepaar ein ausländisches Kind adoptiert; zwar ist mit der Adoption ausländischer Kinder die Einbürgerung verbunden, aber solche Familien haben sich zumindest zeitweilig mit der Herkunft des Kindes auseinanderzusetzen, insbesondere wenn bereits wesentliche Teile der Primärsozialisation im Herkunftskontext erfolgt sind, oder wenn dieses Kind durch sein Aussehen dauerhaft mit seiner ausländischen Herkunft identifiziert wird. Wesentlich häufiger sind binationale Ehen zwischen deutschen und ausländischen Ehepartnern. Solche Ehen mögen zwar wegen der vorhandenen Kompetenzen bei einem der beiden Ehepartner höhere Kompetenzen bei der Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft haben als national homogene Familien ausländischer Herkunft. Aber diese Ungleichverteilung von Kompetenzen und die häufig gegebene unterschiedliche Rechtsstellung der Ehepartner im Aufenthaltsland führt zu einem Ungleichgewicht in der ehelichen Macht- und Aufgabenverteilung, die für diese Ehen eine zusätzliche Belastung und Bewährungsprobe darstellen. Insbesondere, wenn es sich um Eheschließungen zwischen Deutschen und Ausländern handelt, die nicht bereits seit längerem in Deutschland leben, fehlen häufig Gelegenheiten, die “Passung” der Ehepartner in alltäglichen Situationen zu erfahren und zu proben. Die ehelichen Anpassungsprobleme sind wegen der häufig recht großen Unterschiede in der internalisierten Familienkultur von zusätzlichen Akkulturationsprozessen begleitet. Binationale Ehen haben aus diesen Gründen häufig weit größere Entwicklungsaufgaben zu bewältigen als Ehen, bei denen beide Ehepartner derselben Nationalität angehören. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die Stabilität dieser Ehen insbesondere in der Anfangsphase besonderen Risiken ausgesetzt ist. Mit der letzteren Entwicklungsaufgabe sind selbstverständlich auch solche Ehen konfrontiert, die aus zwei unterschiedlichen ausländischen Nationalitäten zusammengesetzt sind (etwa die Ehe eines amerikanisch-japanischen Ehepaares in Deutschland) oder zwei unterschiedlichen Ethnien derselben Staatsangehörigkeit (etwa die Ehe einer Türkin mit einem Kurden oder eines Aussiedlers und einer Russin). In der gegebenen ausländerrechtlichen Situation, in der nicht die Arbeitsaufnahme, wohl aber die Familienzusammenführung einen legitimierten Einreise- und Bleibegrund darstellt, wird die Bedeutung binationaler Ehen innerhalb ausländischer Familien und für Zuwanderungen weiter zunehmen. Wenn auch ein zunehmend größerer Teil von Familien ausländischer Herkunft in Deutschland “altert” und sich nicht zuletzt wegen ihrer hier lebenden Kinder zu einem dauerhaften Verbleib entschließen wird, verlässt nach wie vor der größte Teil der in Deutschland lebenden Ausländer dieses Land zu einem späteren Zeitpunkt wieder. Zu-, Weiter- oder Rückwanderungsentscheidungen werden jedoch nicht “zufällig” von den Familien getroffen, sondern sind an soziale und individuelle Voraussetzungen geknüpft. Entsprechend finden sich in der Migrationsforschung immer wieder Belege dafür, dass insbesondere die “Pioniere” unter den Migranten nicht nur eine Jugend, Bildung, Gesundheit selektierte Gruppe darstellen, sondern dass sie sich zugleich auch durch eine besondere Motivation auszeichnen: Sie besitzen typischerweise eine überdurchschnittlich starke Aufstiegs- und Leistungsorientierung und haben eine an materiellen Zielen orientierte Lebensführung. Dahinter treten andere Orientierungen, wie etwa eine auf Selbstverwirklichung orientierte Lebensführung oder eine starke soziale und politische Partizipation am Gemeinwesen stark zurück. Anders wäre auch kaum erklärlich, warum diese Menschen die mit hohen sozialen Kosten verbundene internationale Migration überhaupt auf sich genommen haben. Auch Rück- und Weiterwanderungsentscheidungen werden durch ähnliche Prozesse gesteuert. Entsprechend finden sich viele empirische Hinweise aus Rückwanderungsstudien, dass unter den rückgewanderten Familien, die noch im Arbeitsleben stehen, besonders viele zu finden sind, die vergleichsweise gut in die Aufnahmegesellschaft integriert waren, während die marginalisierten Familien typischerweise in ihrer Situation im Aufnahmeland verbleiben: Nicht etwa “Heimweh” oder mangelnder Erfolg im Aufnahmeland sind wichtige Rückwanderungsmotive, sondern Hoffnungen auf die Realisierung weiteren sozialen Aufstiegs. Entsprechend finden sich unter den Rückwanderern vermehrt solche, die während ihres Aufenthalts in Deutschland gute Deutschkenntnisse erworben hatten, intensive Kontakte zu Deutschen unterhielten, eine überdurchschnittliche Berufsqualifikation und stabile Beschäftigungsverhältnisse hatten. Nichts verdeutlicht besser, dass es sich bei Migration häufig nicht um einen einmaligen Akt des Wechsels von der Herkunfts- in die Aufnahmegesellschaft unter Zurücklassung aller bisherigen persönlichen, sozialen und kulturellen Bindungen handelt, sondern vielmehr um ein Familienprojekt, das mehrere Generationen umfasst und in eine offene Zukunft hinein gestaltet wird.

Die vollständige Fassung ist in dem Buch “Familien haben Zukunft” (Rowohlt Taschenbuch Verlag 2000) erschienen. Der Beitrag ist in Zusammenhang mit der Mitwirkung des Autors an der Erstellung des Sechsten Familienberichts der Bundesrepublik Deutschland entstanden, der “Familien ausländischer Herkunft” zum Gegenstand hat. Viele der im Beitrag geäußerten Gedanken und Argumente gehen auf intensive Diskussionen der Berichtskommission und auf Eindrücke aus der Kommissionsarbeit zurück. Gleichwohl muss ausdrücklich betont werden, dass die hier vorgetragene Argumentation ausschließlich vom Autor zu vertreten ist und sie in einem anderen Funktionskontext steht als ein Familienbericht, der der Unterrichtung des Parlaments dient.

Prof. Dr. Bernhard Nauck ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie I an der Technischen Universität Chemnitz

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