fK 4/00 Liga

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Familien haben Zukunft

Deutsche Liga für das Kind

Zwölf Thesen, in denen die Bedeutung der Familie für Kinder dargestellt und die Rahmenbedingungen erörtert werden, die notwendig sind, damit Familie ihre unverzichtbaren Leistungen auch zukünftig erbringen kann.

Familien haben Zukunft

Die Familie – oft schon tot gesagt – lebt. Und sie steht weiterhin hoch im Kurs. Die große Mehrzahl junger Menschen plant ihre Zukunft mit Familie. Welche Familie aber meinen sie? Wie muss Familie zukünftig aussehen, damit sie die Rechte und Entwicklungschancen von Kindern optimal unterstützt und Erwachsenen soziale und emotionale Heimat ist?

Und umgekehrt: Welche Bedingungen brauchen Familien, damit sie ihre unverzichtbaren Aufgaben tatsächlich erfüllen können?

Wenn die Familie im 21. Jahrhundert zukunftsfähig und zukunftsfest werden will, muss sie offen sein für Veränderungen. Wenn Gesellschaft und Staat weiter auf die Leistungen von Familien bauen wollen – und dazu gibt es keine Alternative – müssen sie den notwendigen Wandel fördern. Die Rahmenbedingungen für Familien müssen verbessert und der Einfluss der nachrückenden Generationen auf die Politik muss gestärkt werden.

Familien haben Zukunft, wenn sie sich den neuen Herausforderungen stellen und dabei von der gesamten Gesellschaft und von der Politik unterstützt werden.

Familie aus Sicht des Kindes

Familie entsteht durch die Geburt eines Kindes. Pflege und Erziehung der Kinder sind die wichtigste Aufgabe der Eltern. Auf die Dauer eines Lebens gesehen, weisen die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern große Stabilität auf. Kinder brauchen diese langfristige Perspek-tive. Sie haben ein Recht auf Elternpersonen, zu denen sie gehören (nicht: denen sie gehören) und auf die sie sich verlassen können. Um gesund aufzuwachsen braucht jedes Kind mindes-tens eine Person – besser zwei oder drei –, für die das Kind etwas ganz Besonderes ist.

Familie bietet Heimat

Heimat ist, wo wir herkommen. Dazu gehört besonders die Familie. Dort machen Kinder ihre ersten Erfahrungen mit anderen Menschen. Am Vorbild der Eltern entwickeln sie ihre Sicht von der Welt. Im Zusammenspiel zwischen Kind und Elternpersonen entstehen Bindungen, die ein Leben lang anhalten. Auf dieser sicheren Basis können Ablösung und Autonomie schrittweise gelingen. Gegenüber wachsenden Anforderungen an Flexibilität und zunehmen-der Unüberschaubarkeit bietet die Familie Halt. Die Sehnsucht nach Beständigkeit findet hier einen Ort. Familie bietet soziale und emotionale Heimat und ermöglicht dadurch die Neugier auf Fremdes.

Familie fördert Entwicklung

Kinder sind von Natur aus soziale Wesen. Die Entfaltung ihrer Anlagen brauchen sie eine fördernde Umgebung, zu der vor allem die menschlichen Beziehungen gehören. Umgekehrt bleibt jede Erziehung auf die Fähigkeiten und die Bereitschaft des Kindes angewiesen.

Der Gegensatz zwischen Anlage und Umwelt ist überwunden zugunsten eines dynamischen Modells von Entwicklung. Lernen und Veränderung sind ein Leben lang möglich und nicht allein auf die frühen Jahre begrenzt. Die Kindheitsjahre sind jedoch die Zeit, in welcher der Mensch in besonderer Weise auf einen Schutz- und Spielraum angewiesen ist, für den Erwachsene Sorge tragen müssen. Familie ist besonders geeignet, die Entwicklung des Kindes in Geborgenheit zu fördern und Bedingungen zu bieten, unter denen Kinder ihre Anlagen entfalten können.

Familie vermittelt Werte

Die Familie ist eine Verantwortungsgemeinschaft in materieller wie auch in ideeller Hinsicht.

Kinder lernen in der Familie, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Sie lernen, ihre eigenen Belange zu vertreten und mit denen der anderen auszuhandeln. In der Familie erwerben Kinder soziale Kompetenzen: Sensitivität, Einfühlungsvermögen, Verzicht, Balancierung unterschiedlicher Erwartungen, Konfliktfähigkeit, Toleranz, Respekt vor den Unterschieden zwischen Menschen.

In der Familie können Kinder Demokratie lernen. Familie ist der Ort, wo Grundrechte des Menschen, wie seine unverlierbare Würde, eingeübt und gegen bloße Interessenwahrung abgegrenzt werden können. Familie ist der Ort, an dem Kinder eine neue Kultur des Aufwachsens miteinander im Alltag erleben können.

Familie ändert sich

Die Familie hat sich den wachsenden Anforderungen an Mobilität und Flexibilität in vielerlei Hinsicht angepasst und beschleunigt ihrerseits gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Das Muster der lebenslang bestehenden Ehe ist zwar für viele noch Idealbild, aber die Realität zeigt andere Formen. Im Leben der Familie und der Kinder gibt es eine wachsende Zahl von Eheschließungen, Scheidungen, Lebensgemeinschaften und Wiederverheiratungen. Die Fähigkeit, Übergänge zu bewältigen und in der Gestaltung von Veränderungen die eigene Identität zu bewahren und zu stärken, ist zu einer wichtigen Herausforderung für Kinder und Erwachsene geworden.

Beruf und Familie werden von der großen Mehrheit der Eltern als nebeneinander bestehende Lebensbereiche eingefordert und akzeptiert. Familie und Beruf miteinander zu verbinden – der doppelte Lebensentwurf – gehört mehr und mehr zum normalen Lebenslauf. Solange die Kinder klein sind, besteht vor allem bei den Müttern, zunehmend aber auch bei Vätern, der Wunsch, die Berufsarbeit entsprechend den Bedürfnissen der Kinder zeitweise zu unter-brechen oder aber die Arbeitszeit zu reduzieren. Eine Neubewertung der Vaterschaft hat eingesetzt, bei der Väter die nur in der Familie zu erwerbenden Kompetenzen schätzen und als Pluspunkte in das Berufsfeld einbringen lernen.

Familien in Deutschland sind in wachsendem Ausmaß multi-ethnisch zusammengesetzt. Rund ein Drittel der Familien von Kindern, die heute in Deutschland geboren werden, haben bereits einen Migrationshintergrund. Interkulturelle Kompetenzen gewinnen an Gewicht und werden in vielen Familien selbstverständlich eingeübt.

Die neue Familie

Familie kennt viele Formen, in denen generationenübergreifend Verantwortung für einander übernommen wird und Solidarität entsteht. Zu dieser Vielfalt gehören Familien, in denen die Eltern untereinander verheiratet oder nicht verheiratet sind, Familien mit zwei oder mit einem Elternteil, Stieffamilien, Pflege- und Adoptivfamilien, alt eingesessene und neu zusammen-gesetzte (Patchwork-) Familien, Familien mit monokulturellem oder mit multikulturellem Hintergrund. Im Laufe eines Lebens lösen zumeist verschiedene Formen des Familienlebens einander ab. Die Zahl der Familien nimmt zu, deren Mitglieder an unterschiedlichen Orten leben und die dennoch enge Bindungen aufrecht erhalten. Familien sind in vielen Formen notwendig und werden als bereichernd erlebt. Einengende Familienstrukturen haben in Zukunft geringe Chancen. Die neue Familie ist dort am lebendigsten, wo sie selbstbewusst und autonom auftritt und Übergänge möglich macht.

Familien in der Minderheit

Wie in vielen anderen Ländern hat sich in Deutschland die Zahl der neugeborenen Kinder und mit ihnen die der jungen Familien auf einem gleichbleibend niedrigen Niveau eingependelt. Die Entscheidung für oder gegen eine Familie wird vielfach bis weit in das dritte Lebensjahr-zehnt hinausgeschoben. Beinahe ein Drittel aller Frauen bleibt heute – gewollt oder ungewollt – lebenslang kinderlos. In Ballungsräumen sind nur noch in weniger als zwanzig Prozent aller Haushalte Kinder und Jugendliche anzutreffen. Eine Änderung dieser demographischen Trends ist nicht in Sicht.

Familien mit Kindern rücken damit mehr und mehr in eine gesellschaftliche Minderheiten-position, deren Belange im Konzert der widerstreitenden Interessen nur schwer Gehör finden.

Zugleich bleiben Kinder unverzichtbar. Von der Schaffenskraft und Kreativität der nach-rückenden Generationen hängen Zukunft und Wohlstand aller Mitglieder der Gesellschaft ab.

Familie in Gefahr

Die Familie ist der Ort, an dem die wichtigste Ressource der Gesellschaft gebildet und erhalten wird: das Humanvermögen. Familien erbringen Leistungen, die an anderen Stellen nicht gleichwertig ersetzt werden können. Diese Leistungen werden zwar in vielerlei Bekundungen immer wieder als unverzichtbar beschworen. Gemessen an den Taten jedoch werden Familien bei ihren Aufgaben ungenügend unterstützt.

Weite Bereiche der Gesellschaft sind durch eine strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leben mit Kindern gekennzeichnet. Kinder zu haben, bedeutet für viele Familien sozialer Abstieg. Kinder gelten heute als das Armutsrisiko Nummer eins. In besonderer Weise trifft dies für Familien mit einem Elternteil und für Mehrkinderfamilien zu. Der typische Sozialhilfeempfänger in Deutschland ist heutzutage acht Jahre alt und hat eine allein erziehende Mutter. Besonders prekär ist die Situation, wenn zusätzliche Belastungen entstehen: Durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Behinderung werden viele Familien über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinaus belastet.

Gefährdungen für Kinder

Die relative Armut von Kindern – gemessen am Lebensstandard der gesamten Gesellschaft – und mangelnde Unterstützungsangebote bergen für Kinder besondere Gefährdungen. Viele Eltern haben nicht genügend Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen können, besonders solange diese noch klein sind. Familienergänzende Einrichtungen können diese Defizite nicht ausgleichen. In der Folge leiden viele Kinder bereits früh unter großen Belastungen. Über-höhte Erwartungen, Stress, Bewegungsmangel und mediale Reizüberflutung führen zu Auf-merksamkeitsproblemen, Verhaltensstörungen und psychosomatischen Beschwerden, die als moderne Zivilisationskrankheiten die klassischen Kinderkrankheiten in ihrer Bedeutung abgelöst haben. Beunruhigend ist auch ein weiterhin hoher Gewaltpegel in Familien, dem die Kinder besonders in den ersten Lebensjahren schutzlos ausgeliefert sind. In nicht wenigen Fällen führt dies dazu, dass aus kindlichen Gewaltopfern später jugendliche Gewalttäter werden.

Kinder haben Rechte

Die Beziehung der Eltern zum Kind sichert am stärksten den inneren Familienzusammenhalt. Aufgabe der Politik ist es, diesen Zusammenhalt zwischen Eltern und Kindern zu fördern, unabhängig davon, ob die Eltern untereinander verheiratet sind oder nicht. Die Sicherung existenzieller Mindestbedingungen für Kinder muss im Zentrum von Familienpolitik stehen. Kinder brauchen gute Bedingungen in physischer und psychischer, geistiger und sozialer, kultureller und demokratisch-mitbürgerlicher Hinsicht. Sie haben Rechte und Ansprüche, die von den Eltern und der Gesellschaft insgesamt zu gewährleisten sind. Zu den wichtigsten Rechten der Kinder gehören der Schutz vor Gewalt und vor anderen Gefährdungen, eine eigenständige materielle Absicherung des Kindes, ausreichende Bildungs- und Betreuungs-einrichtungen in Ergänzung zur Familie, eine kindgerechte Infrastruktur und die altersge-rechte Beteiligung der Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen.

Familien müssen gestärkt werden

Familien erbringen zentrale Leistungen für die Gesellschaft. Dem stehen angemessene Ansprüche der Familie gegenüber der Gesellschaft nicht gegenüber. Die in der Familie geleistete Arbeit wird unter Wert behandelt. Eine Neubewertung der verschiedenen Formen gesellschaftlich notwendiger Arbeit unter Einbeziehung der Erziehungs- und Familienarbeit ist erforderlich. Diese Neubewertung muss in ein Steuer- und Rentensystem eingehen, in dem die mit der Erziehung von Kindern erbrachten Leistungen angemessen berücksichtigt werden. Neben einer gerechten Bewertung brauchen Familien eine neue Verteilung der von ihnen geleisteten Arbeit. Hierzu gehören eine wechselseitige, die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigende Abstimmung von Familien- und Berufszeiten, ein bedarfsgerechtes Angebot der Kinderbetreuung sowie die Neuverteilung der Familienarbeit zwischen den Geschlechtern. Die Potentiale der Männer hinsichtlich Kindererziehung und Haushaltsführung dürfen nicht länger im bisher bestehenden Umfang ungenutzt bleiben. Schließlich brauchen Familien soziale Netzwerke sowie Bildungs- und Beratungsmöglichkeiten, in denen sie sich wechselseitig unterstützen und bei Bedarf professionelle Hilfe in Anspruch nehmen können.

Familie: Die riskante Chance

Die postmoderne Wissensgesellschaft ist auf die Vermittlung elementarer Fähigkeiten für das zwischenmenschliche Zusammenleben und auf andere Leistungen der Familien dringend angewiesen. Durch die Spaltung der Gesellschaft in einen Familien- und in einen Nicht-familiensektor wächst die Gefahr der Entsolidarisierung. Es kann auf Dauer nicht gut gehen, wenn die Risiken und Lasten, die mit dem Aufwachsen von Kindern verbunden sind, überwiegend privatisiert sind, der Nutzen aber vergesellschaftet ist. Nicht nur die Eltern, sondern die gesamte Gesellschaft trägt Verantwortung für Kinder und Familien. Eine neue Balancierung der Chancen und Risiken tut daher Not.

Wir brauchen eine Hinwendung der Politik zu einer Gesellschaftsstruktur, in der die Rechte und Belange der nachrückenden Generationen ihrem unvergleichlichen Wert entsprechend berücksichtigt sind. Wir brauchen eine Neubestimmung des Generationenvertrages, die auf dem Prinzip der Nachhaltigkeit basiert und die Lasten zwischen den Generationen gerecht verteilt. Wir brauchen ein Bündnis für Kinder und Familien, das alle Bereiche der Gesellschaft umfasst und von dem alle profitieren.

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