fK 4/00 Herrmann

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Medizinische Diagnostik bei Kindesmisshandlung

von Bernd Herrmann

Kindesmisshandlung ist das Ergebnis eines komplexen psychosozialen Prozesses in einer pathologischen Familiendynamik. Dem muss auch die Intervention gerecht werden. Andererseits erfordern ”einfache” Tatbestände wie akute Verletzungen auch ”einfache” primäre Schritte, nämlich angemessene medizinische Versorgung und Behandlung und (zumindest vorübergehend) die Trennung des Kindes von einer gefährdenden, misshandelnden Umgebung.

Bei Verdacht auf Kindesmisshandlung jeglicher Art gilt es zunächst überhaupt daran zu denken. Das bedeutet, dass bei einer Vielzahl unterschiedlicher Symptome und Konstellationen Misshandlung überhaupt als möglicher Verursacher in Erwägung zu ziehen ist. Das klingt banal, ist aber in der überwiegenden Zahl der Fälle der Grund für fehlendes Eingreifen. Die Angst Fehler zu machen, Patienten zu verlieren, einen schlechten Ruf zu bekommen, fehlende Ausbildung bezüglich der spezifisch medizinischen Hinweise aber auch mangelnde Kenntnis der rechtlichen Rahmenbedingungen und anderer sozialer Institutionen und Berufsgruppen und der erforderlichen Interventions- und Hilfsmaßnahmen sind Gründe hierfür. Oft bestehen Unsicherheiten, Unkenntnis und teils kritische Distanz hinsichtlich der bereits bestehenden ”Kinderschutzinfrastruktur” im Sozialbereich. Hier können nur durch Kennenlernen und wechselseitige Information im Vorfeld Misstrauen abgebaut und die Kontakte für den ”Ernstfall” hergestellt werden. Einen wertvollen Beitrag leisten in dieser Beziehung neuerdings die sogenannten ”Gewaltleitfäden für Kinderarztpraxen”, die für die meisten Bundesländer erschienen sind (hrsg. vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands, den Landesärztekammern und Landesministerien mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse). Sie erschliessen anhand einer umfangreichen regionalen Adressensammlung das existierende Kinderschutz-, Beratungs-, Hilfs- und Therapieangebot und sind eine wertvolle Neuentwicklung im deutschen medizinischen Kinderschutz, da sie den multiprofessionellen Gedanken in den Mittelpunkt stellen. Dies erfordert Kenntnis, Akzeptanz und gegenseitigen Respekt vor den fachlichen Möglichkeiten aber auch das Wissen um die Grenzen der jeweils beteiligten Professionen. Ein weiteres wesentliches Moment ist die Angst, den Eltern durch einen falschen Verdacht Unrecht zu tun. Leider führt das auf der anderen Seite dazu, dass man den misshandelten Kindern Unrecht tut, sie in ihrer Not alleine lässt und schwere Verletzungen, Behinderungen oder sogar Todesfälle in Kauf nimmt. Das Erkennen der Symptome und Hinweise ist leider nur gelegentlich einfach, oft aber uneindeutig, und die Diagnose einer Misshandlung erfordert gezieltes und überlegtes medizinisch-diagnostisches Vorgehen. Voraussetzungen dafür sind spezialisierte Kenntnisse in somatischer und forensischer aber auch sozialpsychologischer Hinsicht. Diese sind im Vergleich zu England, Holland und vor allem den USA bislang in Deutschland nicht ausreichend in der ärztlichen Aus- und Fortbildung berücksichtigt. Ein zusätzlich erschwerender Faktor ergibt sich oft aus Rechtsunsicherheit: wie ist das Rechtsgebot der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber dem gefährdeten Kindeswohl abzuwägen, welche Informationen dürfen wem weitergegeben werden, gibt es eine Verpflichtung zur Anzeige?

Körperliche Misshandlung und Vernachlässigung

Da bei körperlicher und sexueller Misshandlung bzw. Missbrauch unterschiedliche Vorgehensweisen erforderlich sind, werden diese im folgenden getrennt dargestellt. Der erste und wichtigste Schritt der ärztlichen Intervention im Falle des Verdachts auf eine körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung ist die Sicherung des Kindesschutzes. Da körperliche Misshandlungen fast nie Einzelereignisse sind, und zusätzlich fast immer die Tendenz zur Eskalation haben, sollte das Kind bei Verdacht auf eine körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung stationär in eine Kinderklinik aufgenommen werden. Dies dient neben dem unmittelbaren Schutz vor weiteren Misshandlungen und einer Eskalation der Gewalt auch der Entspannung der dramatischen Situation, die zur Misshandlung geführt hat und ermöglicht auch den Eltern wieder ”zu sich” zu kommen. Somit sind sie für die notwendigen folgenden Gespräche überhaupt erst ”erreichbar”, eine wesentliche Voraussetzung für die gründliche Erhebung der Vorgeschichte (Anamnese), konstruktive Gespräche und die Planung des weiteren Vorgehens. Das Ausbleiben von weiteren Verletzungen unter stationären Bedingungen ist ein zusätzliches Indiz für die stattgefundene Misshandlung. Zudem ist die erforderliche gründliche Erhebung des körperlichen, emotionalen, psychischen und kognitiven Entwicklungsstandes, die Verhaltensbeobachtung, die ausführliche körperliche Diagnostik, eventuelle akute Behandlung und vor allem die Planung des weiteren Vorgehens nur ausnahmsweise ambulant möglich. Auch misshandelnde Eltern sind in der Mehrzahl der Fälle Eltern, die sich (anscheinend paradoxerweise) um das Wohlergehen ihres Kindes Sorgen machen. Da körperliche Misshandlung häufig aus Überforderungssituationen entsteht, sind diese Eltern oft von erheblichen Schuldgefühlen bezüglich ihres eigenen Verhaltens geplagt. Daher ist die stationäre Behandlung in der Regel auch in ihrem Sinne. Um eine sofortige Konfrontation und Abwehrhaltung zu vermeiden, ist es nicht sinnvoll primär den Misshandlungsverdacht auszusprechen, sondern zu betonen, dass die vorgefundenen Verletzungen und der geschilderte Unfallhergang nicht zusammenpassen und das Kind gründlicher untersucht werden muss, auch um zusätzliche Verletzungen oder Erkrankungen nicht zu übersehen. Der erste Schritt der Diagnose, die gründliche Anamnese, umfasst das aktuelle Geschehen, das zur Aufnahme führte (Wie plausibel ist der Unfallhergang? Wie haben sich die Eltern verhalten? Bleibt die Geschichte konstant?), die medizinische Vorgeschichte (Gibt es frühere Verletzungen, Gedeihstörungen, chronische Erkrankungen als familiäre Stressfaktoren? u.a.), die Sozial-, Verhaltens- und Entwicklungsanamnese (Handelt es sich um ein ”schwieriges Kind”? Ist es ein Risikokind für Misshandlung ?) und die Klärung der sozialen Situation und der Familienanamnese (Bestehen ökonomische Probleme? Was ist die Vorgeschichte von Misshandlungen oder anderen Risikofaktoren bei den Eltern?). Die weitere Diagnostik misshandelter Kinder erfordert eine schonende aber gründliche und vollständige körperliche Untersuchung mit sorgfältiger Dokumentation (Foto mit Maßband und evtl. Farbtafel, Skizze mit ausgemessenen Befunden und Farbangabe in ein Körperschema). Sie umfasst zunächst die Wachstumsparameter: Gewicht, Länge und Kopfumfang, da Gedeihstörungen ein wichtiger Hinweis auf Misshandlung und Vernachlässigung sind und eine gute spätere Kontrolle über den Erfolg ergriffener Maßnahmen bieten. Von größter Bedeutung ist es, immer eine Ganzkörperuntersuchung des vollständig entkleideten Kindes vorzunehmen. Gerade zusätzliche, von den Eltern zunächst nicht benannte Verletzungen, die hierbei auffallen, sind ein wichtiges Indiz. Dabei muss auch der Anogenitalbereich untersucht werden, um Spuren möglichen zusätzlichen sexuellen Missbrauchs nicht zu übersehen. Gegebenenfalls sollten auch Geschwisterkinder untersucht werden, da diese ebenfalls ein Misshandlungsrisiko tragen. Erforderliche Labor- und apparative Untersuchungen hängen von den Umständen der Verletzungen ab. Bei allen kleineren Kindern ist ein sogenanntes Skelettscreening internationaler Standard (immer unter 2-3 Jahren Alter, später nur gezielt), bei dem alle wesentlichen Knochen auf der Suche nach frischen oder alten Knochenbrüchen geröntgt werden. Die bislang in Deutschland übliche Skelettszintigrafie (Injektion radioaktiver Stoffe, die sich im Knochen anreichern) ist als alleinige Diagnostik nicht sinnvoll, allenfalls ergänzend zum Skelettscreening. Kopfverletzungen erfordern eine Computertomografie und im späteren Verlauf eine Verlaufskontrolle durch eine Kernspintomografie. Extrem wichtig ist die Untersuchung des Augenhintergrundes, da retinale Blutungen einer der stärksten Hinweise auf misshandlungsbedingte Blutungen des Gehirns sind. Ultraschalluntersuchungen können Verletzungen der Bauchorgane entdecken. Blutuntersuchungen können ebenfalls auf Verletzungen innerer Organe hinweisen oder aber helfen, seltene Gerinnungstörungen oder Stoffwechseldefekte, die Misshandlung vortäuschen können, auszuschließen. Diese kommen jedoch ungleich seltener als Misshandlungen vor. Ziel ist es, zu einer möglichst präzisen, medizinisch fundierten Aussage zu kommen, die die festgestellten Befunde bzw. Verletzungen und die hierfür angegebenen Erklärungen in Beziehung setzt. Die Diskrepanz zwischen Befund und Vorgeschichte ist einer der wichtigsten medizinischen Hinweise auf eine Misshandlung. Zusätzlich müssen dabei die oben erwähnten psychosozialen Faktoren ebenso gründlich berücksichtigt werden. Dann, aber auch schon im Vorfeld, ist es immer sinnvoll, weitere Berufsgruppen miteinzuschalten. Obwohl die ”ärztliche Autorität” zur medizinischen Untermauerung der Diagnose und auch zur Motivation der Eltern hilfreich einsetzbar ist, kann die weitere Betreuung nur interdisziplinär und mit dem Jugendamt realisiert werden. Es können auch Kliniksozialarbeiter oder Psychologen eingeschaltet werden. An manchen Orten gibt es ärztliche Beratungstellen, die fast immer multidisziplinär orientiert sind. Im weiteren sind Fallkonferenzen mit Sozialarbeiter(inne)n und -pädagog(inn)en des Jugendamtes, Familienrichtern, Lehrern, Erzieherinnen, aber auch Therapeuten (Kinderpsychologen und Kinder- und Jugendpsychiatern) ein hilfreiches Instrument, um das weitere Vorgehen zu besprechen, aufeinander abzustimmen und verschiedene Aufgaben zu verteilen. Vor einer Entlassung des Kindes muss sowohl der Kindesschutz, mögliche Therapie als auch die Weiterbetreuung und Kontrolle der betroffenen Familie gewährleistet sein. Die Einschaltung der Polizei kann bei schwerster Misshandlung zum Schutz des Kindes oder bei fehlender Kooperation der Eltern notwendig werden und sollte dann auch nicht gescheut werden. Als primäre Massnahme ist sie jedoch meistens nicht sinnvoll. Aus der derzeitigen Rechtsprechung ergibt sich klar, dass der Arzt keine Verpflichtung zur Anzeige hat. Andererseits steht das gefährdete Kindeswohl als höheres Rechtsgut über der ärztlichen Schweigepflicht, so dass der Arzt berechtigt ist, Misshandlungen anderen Stellen zu offenbaren, um den Kindesschutz zu sichern. Im unmittelbaren Umgang mit den Eltern ist eine konfrontative Haltung nicht sinnvoll. Im Gegensatz zu sexueller Misshandlung, bei der immer eine Trennung von Täter und Opfer notwendig ist, besteht bei körperlicher Misshandlung oft die Aussicht einer Änderung der misshandlungsauslösenden Lebenssituation und Konstellation. Dazu ist aber wichtig, die Eltern zur Zusammenarbeit und Mitarbeit zu motivieren. Auch hierzu ist die erwähnte ”ärztliche Autorität” hilfreich. Eine Beziehung, Vertrauen und eine Brücke zur Familie zu bauen ist langfristig tragbarer und somit vielmehr im Sinne der Kinder, als das Ausleben von Rache- oder Bestrafungsfantasien. Das Eröffnen der Diagnose einer Misshandlung erfordert die o.g. vorherige Klärung der weiteren Betreuungsstrukturen. Den Eltern sollen die vorliegenden Befunde erklärt werden und dass diese nicht mit dem angegebenen Unfallhergang vereinbar sind. Dabei muss zweifelsfrei klar und deutlich gemacht werden, dass sie dem Kind zugefügt wurden, um Ausflüchte zu verhindern. Es ist wichtig dennoch zu verdeutlichen, dass gemeinsam überlegt werden soll, wie künftige Misshandlungen verhindert werden können. Es hat sich bewährt, dabei die Misshandlung inhaltlich klar zu beschreiben, die Eltern aber nicht als ”Misshandler” zu bezeichnen, da dies erhebliche und unnötige Abwehr hervorruft. Erst wenn das weitere Vorgehen geklärt ist, und dazu gehört beispielsweise auch die ganz konkrete Bearbeitung familiärer und sozialer Probleme, die misshandlungsfördernd sind (Wohnung, Geldsorgen u.a.), kann die Entlassung des Kindes erfolgen. Die weitere Betreuung liegt meist nicht mehr in erster Linie in ärztlicher Hand, sondern wird in der Regel durch das Jugendamt koordiniert. Dennoch haben gerade niedergelassene Kinder- und Hausärzte eine wichtige Rolle bei der Kontrolle des Therapie- bzw. Maßnahmenerfolgs. Erneute Verletzungen oder Gedeihstörungen sind Hinweise auf ein Scheitern des bestehenden Konzeptes und weisen auf die Notwendigkeit einer Änderung oder erneuten Intervention hin. Daher sind engmaschige ärztliche Kontrollen ein wichtiges Instrument der Verlaufskontrolle. Ärztliche Intervention hat somit ihren Schwerpunkt bei der primären Erkennung von körperlicher Kindesmisshandlung und steht dann am Anfang eines multidisziplinären, langfristigen Betreuungsprozesses einer Familie. Diesen qualifiziert einzuleiten und zu begleiten ist die besondere ärztliche Verantwortung bei körperlicher Kindesmisshandlung.

Sexueller Missbrauch

Im Vergleich zur Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch und zur Aufmerksamkeit, die andere Subdisziplinen der Pädiatrie (und Gynäkologie) genießen, ist die medizinisch-fachliche Aufmerksamkeit diesem Thema gegenüber in der deutschen Medizin bislang noch geringer als bei körperlicher Misshandlung – ablesbar an der Zahl der Veröffentlichungen, Symposien, Vorträge, der Literatur und Forschungsaktivität. Wie bei körperlicher Misshandlung gelten ähnliche Gründe wie oben genannt für eine adäquate Bearbeitung des Problems. Verschärfend kommt bei sexuellem Missbrauch die noch weit weniger entwickelten diagnostischen Standards, eine größere fachliche Unsicherheit aber auch der besondere Charakter von sexuellem Missbrauch als öffentlich sehr emotional diskutiertem Tabuthema hinzu. Gerade bei sexuellem Missbrauch ist ausgesprochen wichtig, auch den nichtmedizinischen Professionen zu vermitteln, dass die medizinische Untersuchung nur einen begrenzten Beitrag zur Diagnosestellung leisten kann. Sie kann einen sexuellen Kindesmissbrauch niemals ausschließen, da Normalbefunde auch bei Missbrauchsopfern aus verschiedenen Gründen häufig sind. Weitere Hemmnisse bezüglich einer stärkeren Inanspruchnahme der Medizin (im Sinne einer fehlenden Nachfrage und damit fehlenden fachlichen Herausforderung) kommen zum Teil auch von Seiten des psychosozialen Bereiches. Nicht selten besteht die Vorstellung, dass die medizinische Untersuchung von Missbrauchsopfern zwangsläufig eine traumatische Erfahrung sei, da sie die Missbrauchssituation reaktiviere. Somit schade sie den Kindern eher, als dass sie ihnen nütze, insbesondere da die ”Erfolgsaussichten” der Untersuchung durch die Häufigkeit von Normalbefunden bei Missbrauchsopfern sowieso gering seien. Teilweise zutreffend ist dabei, dass die Untersuchung ein erhebliches Potenzial hat, ein grenzüberschreitendes und schädigendes Erlebnis zu sein, wenn sie gegen den Willen des Kindes und unter Druck oder Gewalt durchgeführt wird – dies ist jedoch im Kontext eines möglichen sexuellen Missbrauchs keinesfalls zulässig.

Dem stehen jedoch eine Reihe sinnvoller und unter Umständen positiver Aspekte entgegen. Unter der obligaten Voraussetzung einer einfühlsamen und qualifizierten Durchführung und der Prämisse, dass jeglicher Zwang absolut kontraindiziert ist, ist sie nicht zwangsläufig traumatisierend. Eine gut (z.B. fotografisch) dokumentierte Untersuchung kann unter Umständen die Notwendigkeit von Wiederholungsuntersuchungen vermeiden und damit sogar traumaverhütend wirken. Die Untersuchung eines möglicherweise sexuell missbrauchten und damit psychisch traumatisierten Kindes ist neben dem Risiko einer Retraumatisierung mit viel zeitlichem, organisatorischem und emotionalem Aufwand verbunden. Sie erfordert daher neben dem Erlernen der speziellen somatischen (kindergynäkologischen) Aspekte auch Kenntnisse der sozialen und psychologischen Hintergründe. Bei vorbestehendem Verdacht und dem Vorhandensein hinweisender Befunde kann unter Umständen die Aussage des Kindes gestützt werden. Die Diagnostik hat in diesem Fall forensische (mehr oder weniger stark ”beweisende”) Aspekte. Andererseits schließt das Fehlen körperlicher Befunde einen sexuellen Missbrauch niemals aus! Bei Untersuchungen aufgrund anderer Symptome kann bei entsprechendem Befund die Verdachtsdiagnose erst bei dieser Gelegenheit entstehen. Weitere unmittelbare Ziele sind die Identifizierung von behandlungsbedürftigen Verletzungen, Infektionen, Geschlechtskrankheiten oder einer möglichen Schwangerschaft. Bedeutsam ist auch die Zerstreuung entsprechender Sorgen der Eltern oder des Kindes selbst. Das bedeutsamste Moment der ärztlichen Diagnostik und von weitreichender und langfristiger Bedeutung ist dabei der sogenannte primär therapeutische Aspekt der Untersuchung. Dem traumatisierten und in seiner Körperselbstwahrnehmung oft erheblich gestörten Kind wird von (somatisch) kompetenter Seite die Intaktheit, Gesundheit und Normalität seines Körpers versichert. Dadurch wird eine bedeutsame Entlastung ermöglicht. Der Kinder- oder Hausarzt ist den Kindern durch seine ”Zuständigkeit” für den Körper bekannt und somit hierfür besonders geeignet. Gegebenenfalls wird sogar ein erster Ansatz zur Verarbeitung der erfahrenen Traumatisierung gegeben, der durch eine rein psychotherapeutische Intervention in diesem Kontext kaum vermittelbar wäre. Unter Berücksichtigung der o.g. Einschränkungen und strengem Einhalten der in diesem Kontext notwendigen Grundregeln der Untersuchung, kann sie somit sogar eine heilsame Erfahrung darstellen.

Voraussetzung ist die Schaffung einer möglichst kindgerechten und entspannten Atmosphäre. Ebensowenig wie die Anamnese mit der ”Tür ins Haus” fallen darf, ist es wenig sinnvoll, unmittelbar mit der genitalen Untersuchung zu beginnen. Während der Anamnese können sich die Kinder durch Malen oder Spielen an die Situation und das medizinische Personal gewöhnen. Der Untersuchungsablauf und die dabei verwendeten Gerät- und Ortschaften müssen dem Kind im weiteren in altersgemäßer Sprache vertraut gemacht werden. In unserer Einrichtung hat sich dabei der Gebrauch von therapeutischen (nicht anatomisch korrekten) Puppen bewährt, die der Untersucher zunächst zusammen mit dem Kind als sein Assistent untersucht. Dabei äußert der Untersucher oder ein(e) Mitarbeiter(in) durch die Puppe all die Ängste und Befürchtungen, die Kinder in dieser Situation empfinden könnten. Wieder in der Rolle als Arzt, bittet er das Kind dann wieder ihm zu helfen die Puppe zu beruhigen und zu untersuchen. Dadurch entsteht für das Kind zum einen ein beträchtliches Maß an Kontrolle und Mitbestimmung in einer potentiell angstbesetzten Situation, zum anderen die Vorausnahme der eigenen Untersuchung und letztlich dadurch ein aktives Beruhigen der eigenen Ängste. Für Kinder steht in der Regel nicht die Scham vor einer genitalen Untersuchung im Vordergrund sondern die Angst vor den zunächst unbekannten und als bedrohlich empfundenen Umständen der Untersuchungssituation (Spritze?, Schmerzen? u.ä.).

Ein gynäkologischer Stuhl und Instrumente bringen unter der Fragestellung eines möglichen Missbrauchs keinerlei diagnostischen Gewinn, erhöhen jedoch Fremdheit und Ängstlichkeit und werden von den meisten Untersuchern abgelehnt. Die Kopf-bis-Fuß-Untersuchung des Kindes erlaubt die Einschätzung des Entwicklungsstandes, das Erkennen extragenitaler Missbrauchs- oder Misshandlungsspuren und nimmt vor allem den Fokus von der genitalen Untersuchung. Die fotografische Dokumentation ist wie die gesamte Untersuchung an die Einwilligung eines Sorgeberechtigten und vor allem des Kindes gebunden. Unter dieser Voraussetzung ermöglicht sie die spätere nochmalige Beurteilung des Befundes, das Einholen einer zweiten Meinung, bei positiven Befunden die Beweissicherung und Nachprüfbarkeit ohne erneute Untersuchung des Kindes und ist zusätzlich eine wichtige Voraussetzung für Lehre und Forschung. Vor allem aber kann sie dem Kind Wiederholungsuntersuchungen ersparen und somit potentiellen Schaden verhüten.

Für die relative Häufigkeit normaler oder unspezifischer Befunde bei Opfern von sexuellem Missbrauch spielt neben organisatorischen Faktoren und der Untersuchungstechnik auch die Qualifikation des Untersuchers und seine Bereitschaft, entsprechende Befunde überhaupt wahrzunehmen, eine wichtige Rolle. Aufgrund der schnellen und oft vollständigen Heilung anogenitaler Verletzungen beeinflusst der Zeitpunkt der Untersuchung mit am stärksten die Häufigkeit positiver Befunde. Selbst ein kompletter Einriss des Jungfernhäutchens kann vollständig heilen. Die geläufige aber unbrauchbare Formulierung ”intaktes Hymen” schließt also selbst eine (länger zurückliegende) Penetration nicht aus, noch viel weniger natürlich einen sexuellen Missbrauch anderer Art. Viele Formen von sexuellem Missbrauch hinterlassen überhaupt keine körperlichen Auffälligkeiten, da es dabei zu keinen Verletzungen kommt, die Spuren hinterlassen (Oralverkehr, Masturbation, pornografische Fotos u.a.) Der Befund hängt demnach stark von der Art und Invasivität des Missbrauchs ab. Zudem wird selten physische Gewalt angewendet. Eine medizinische Untersuchung bei entsprechendem Verdacht kann somit in vielen Fällen keine definitive Aussage darüber treffen, ob ein Missbrauch mit oder ohne Penetration stattgefunden hat. Geschlechtskrankheiten, die im englischen treffender als sexuell übertragene Erkrankungen (sexually transmitted diseases, STD) bezeichnet werden, können unter Umständen der einzige medizinische Hinweis auf sexuellen Missbrauch sein, sind jedoch auch bei Missbrauchsopfern relativ selten. Wichtig ist es schließlich für den untersuchenden Arzt/Ärztin Normvarianten und andere Differentialdiagnosen, also Befunde und Erkrankungen, die Missbrauchsbefunde vortäuschen können, abzugrenzen. Dies erfordert spezialisierte kindergynäkologische und allgemeinpädiatrische Kenntnisse, um schwerwiegende und weitreichende Fehlschlüsse zu vermeiden.

Festzuhalten bleibt die Notwendigkeit für deutsche Kinder- und Allgemeinärzte, sich deutlich stärker als bislang mit somatisch-diagnostischen und interventionellen Aspekten von körperlicher und sexueller Misshandlung auseinanderzusetzen, um ihrer besonderen Verantwortung gegenüber Kindern gerecht zu werden. Die medizinische Diagnostik kann auch bei Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch eine sinnvolle Ergänzung eines multidisziplinären Konzeptes sein, wenn sie im Bewusstsein der beschriebenen Möglichkeiten und Grenzen durchgeführt wird.

Dr. med. Bernd Herrmann ist Leiter der kinderärztlichen Beratungsstelle bei Misshandlung in der Kinderklinik des Klinikums Kassel

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