fK 3/09 Hofmann

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Kinderlärm“ muss neu bewertet werden

Wachsende Intoleranz gegenüber spielenden Kindern und deren Einrichtungen

von Holger Hofmann

Spielende Kinder? Aber bitte nicht vor meiner Haustür – nach diesem Motto berufen sich klagende Nachbarinnen und Nachbarn quer durch die Bundesrepublik auf das Immissionsschutzgesetz und erreichen Kita-Schließungen, eingeschränkte Öffnungszeiten von Schulhöfen, Spielplätzen und Bolzplätzen oder etwa das Verbot für spielende Kinder auf Hinterhöfen.

Wir befinden uns schon jetzt in der paradoxen Situation, dass Bau- oder Verkehrslärm eher auf Akzeptanz trifft als lautes Spielen. Nachdem im November letzten Jahres das Hanseatische Oberlandesgericht der Kita Marienkäfer den Auszug verordnete, reihte sich anschließend das Berliner Landgericht im Fall der Kita Milchzahn in eine unrühmliche Reihe von Gerichtsentscheidungen ein, die das kinderfeindliche Klima unserer Gesellschaft bekräftigen.

Dabei handelt es sich nicht um ein Phänomen, welches in der ganzen Breite der Gesellschaft zu verorten ist, sondern eher um das egoistische Interesse einzelner Mitbürger(innen). Drei Viertel der Bundesbürger haben kein Verständnis für Anwohner(innen), die gegen Kinderbetreuungseinrichtungen vor Gericht ziehen. Im Gegenteil, gerade in Wohngebieten wird der geeignete Standort für Kindergärten gesehen. Selbst gesetzliche Auflagen für in Wohnanlagen ansässige Kindergärten finden nur wenig Unterstützung. Zum Schutze der Anwohner befürwortet nur jeder fünfte Deutsche die Beschränkung der Spielzeiten auf dem Außengelände. Lediglich drei Prozent sind dafür, Kitas mit hohen Lärmschutzmauern aus Beton einzuzäunen. Rund zwei Drittel lehnen gesonderte Vorschriften für Kitas in Wohngebieten gänzlich ab, so das Ergebnis einer repräsentativen Erhebung unter 1.500 Bundesbürgern ab 18 Jahren im November 2008 (vgl. EARSandEYES GmbH Institut für Markt- und Trendforschung).

Verstärkt machen sich Elterninitiativen, Jugendverbände sowie Politiker(innen) dafür stark, dass Kinderlärm nicht mehr Gewerbelärm gleichgestellt wird und überlegen, wie das lautstarke Spiel von Kindern unter besonderen Schutz gestellt werden kann. Diese Diskussionen zeigen: In einem dem demografischen Wandel unterzogenen Deutschland ist es höchste Zeit, das in der UN-Kinderrechtskonvention verankerte Recht „auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung“ (Art. 31) auf die einfach gesetzliche Ebene herunter zu brechen oder besser, die Vorrangstellung des Kindeswohls in den Landesverfassungen und im Grundgesetz zu verankern.

Es gilt, Kinderlärm neu in Lärmschutzverordnungen der Länder zu verankern. Eine Bewertung von lautstarkem Spiel allein nach Dezibel zeugt von einer kinderfeindlichen Gesellschaft.

Bundespräsident Horst Köhler hat diesen Sachverhalt in seiner Antrittsrede am 1. Juli 2004 unterstrichen: „Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft. Daher ist es so wichtig, dass Deutschland als Land der Ideen vor allem ein Land für Kinder wird. Wir müssen zu einem Land werden, in dem (…) es kein Schild mehr gibt mit der Aufschrift ‚Spielen verboten’. In dem Kinderlärm kein Grund für Gerichtsurteile ist.“

Kinder brauchen Platz und Bewegung um zu lernen. Über das Spiel entwickeln sie ihre motorischen Fähigkeiten und reifen zu selbständigen Persönlichkeiten. Bei aktuellen Einschulungsuntersuchungen weisen 60 Prozent der Kinder Haltungsschwächen auf. Das sind alarmierende Signale, die in enger Verbindung zu den außerhäuslichen Bedingungen stehen. Wissenschaftlich ist es nicht in Frage gestellt, dass dort wo für Kinder gute Spielmöglichkeiten im Wohnumfeld vorzufinden sind, auch deren Nutzung überproportional hoch ist. In unseren Städten gibt es jedoch immer weniger Platz zum Spielen, auch auf den Straßen lässt der zunehmende Autoverkehr kaum noch Möglichkeiten zum Spielen. Die schwache Rechtsposition von spielenden Kindern verstärkt diesen Trend der Stadtentwicklung.

Durch die Föderalismusreform, mit der die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung von „sozialem Lärm“ auf die Länder übertragen wurde, sind die Bundesländer zum Handeln aufgefordert. Sie müssen dafür sorgen, dass „Geräuschemissionen“ von Kindern anders behandelt werden als die Geräuschkulisse eines Gewerbebetriebes. Es gilt, Kinderlärm neu in Lärmschutzverordnungen der Länder zu verankern. Das Deutsche Kinderhilfswerk spricht sich für eine Formulierung aus, die deutlich macht, dass das lautstarke Spiel von Kindern keine Immission im Sinne des entsprechenden Gesetzes ist, vielmehr zu einer gelingenden Sozialisation gehört und daher von der Öffentlichkeit grundsätzlich hinzunehmen ist. Hinweise in Ausführungsvorschriften sind dabei nicht ausreichend. Wenn wir den Verkehrslärm, das Glockenläuten von Kirchen oder in einigen Bundesländern den Biergarten gesetzlich privilegieren, darf auch eine eindeutige gesetzliche Festlegung für lautstark spielende Kinder nicht nachrangig sein. Entsprechende Erfolge auf Länderebene sind bundesweit zu transportieren.

Außerdem dürfen Bolzplätze nicht mit Sportanlagen gleichgesetzt werden, die insbesondere aufgrund von Beschallungsanlagen und dem An- und Abfahrtverkehr größere Abstände zur Wohnbebauung verlangen. Für Bolzplätze und Jugendsportanlagen sind vielmehr eigenständige Regelungen notwendig. Wenn etwa Skateranlagen nur noch am Stadtrand gebaut werden dürfen, müssen wir uns nicht wundern, wenn diese von Jugendlichen kaum genutzt werden. Das Deutsche Kinderhilfswerk begrüßt daher eine entsprechende Online-Petition des Bayerischen Jugendrings (www.bolzplaetze-retten.de).

Schließlich gilt es die BauNVO (§ 3 Abs. 3) neu zu fassen, da dort in reinen Wohngebieten Kindertageseinrichtungen nicht ausdrücklich benannt sind. Dies führt dazu, dass gegen den Bau von Kindertageseinrichtungen geklagt werden kann, die insbesondere in Wohngebieten dringend benötigt werden. Diese Gesetzeslücke steht dem Vorhaben der Bundesregierung entgegen, bis zum Jahr 2013 die Krippen- und Tagespflegeplätze für Kinder unter drei Jahren auf 750.000 zu verdreifachen.

Die UN-Kinderrechtskonvention ist seit dem 5. April 1992 geltendes Recht in Deutschland. Bei dem in der Konvention bereichsunabhängig formulierten Vorrang des Kindeswohls handelt es sich um unmittelbar anzuwendendes Völkerrecht. Durch die Unterzeichnung der EU-Grundrechtecharta hat die Bundesregierung jüngst diese Vorrangstellung untermauert. In Artikel 24 Absatz 2 ist festgelegt: „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“. Damit diese Zielstellung auch für die einfachgesetzliche Ebene Wirkung zeigt und ein vorrangiges Entscheidungskriterium für Politik und Verwaltung wird, müssen Kinderrechte endlich im Grundgesetz verankert werden. Erst hierdurch wird im Gegensatz zur UN-Kinderrechtskonvention oder EU-Grundrechtecharta eine einklagbare Rechtsposition geschaffen.

Einstweilen bleibt Eltern, Vereinen und Kommunen nur, bereits im Vorfeld den möglichen Streitigkeiten um das lautstarke Spiel im Wohnumfeld durch die Einbindung von Interessenverbänden, Kinder- und Jugendbüros, Mieterbeiräten, Stadtteilarbeiter(inne)n oder Mediator(inn)en entgegen zu wirken. Die Austragung von Konflikten vor Gericht sollte aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes immer nur ein letztes Mittel sein, sie hat oft keinen Gewinner, alle Beteiligten zahlen ihren Tribut an Geld und Nerven. Sinnvoller erscheint, dass sich die Konfliktparteien direkt miteinander austauschen, für gegenseitiges Verständnis werben und einvernehmliche Lösungen finden. Denn eine freundliche und konflikterprobte Hausgemeinschaft oder Nachbarschaft steigert die Lebensqualität aller Menschen. Mit seinen Partnern im „Bündnis Recht auf Spiel“ hat das Deutsche Kinderhilfswerk ein Netzwerk aus Fachkräften und Sachverständigen unterschiedlicher Berufe, Institutionen und Organisationen gebildet, das sich als Lobby für Kinderspiel im öffentlichen Raum stark macht und betroffenen Familien Unterstützung bietet (www.recht-auf-spiel.de).

Holger Hofmann ist Spielraumexperte im Deutschen Kinderhilfswerk in Berlin.

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