fK 3/06 Scheufele

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Der bunte Baustein, das ist Jesus“

Religiöse Erziehung im Kindergarten der Auferstehungsgemeinde Berlin

von Tobias Scheufele

Mittwoch. Karwoche. Das Wetter passt. Es ist grau, kalt und niesselig. Nur die unuberhörbar zwitschernden Vogel lassen erahnen, dass Fruhling ist, dass Ostern vor der Tur stehen könnte. Aber noch ist es ja nicht soweit. Noch geht es nicht um Auferstehung und Freude uber das neue Leben. Es geht um schwierigere Themen, um Passion und Kreuzigung, um Leiden und Tod. Das ist es, was der Kalender des Kirchenjahres vorgibt. Und so stehen diese Themen fur viele Christen alljahrlich im Mittelpunkt, auch bei den Kindergartenkindern der evangelischen Kirchengemeinde Auferstehung im Berliner Stadtteil Friedrichshain.

Das Leben mit dem Kirchenjahr ist hier wichtig, sagt Irmela Kirchner, Leiterin des Kindergartens: „Wir leben die Feste mit den Kindern, so dass die Feste nicht nur den Osterhasen und den Weihnachtsmann, sondern auch die christlichen Inhalte wiedergeben.“ Eine wichtige Rolle spielt dabei der tagliche Morgenkreis. Um kurz vor neun versammeln sich alle Kinder mit einer Erzieherin und beginnen gemeinsam den Tag. So auch heute. Frau Kirchner sagt im hellen Gruppenraum Bescheid, dass es Zeit fur den Morgenkreis sei, und schon machen sich die flinken Beine der Zwei- bis Funfjahrigen auf den Weg den langen Gang entlang hin zum Raum fur den Morgenkreis. Dort angekommen greift sich jedes Kind eines der bunten Sitzkissen, die in einem Schrank in der Ecke bereit liegen. Schnell fullt sich der etwas kuhle Linoleumboden mit grunen, blauen, orangefarbenen und bunten Sitzkissen, auf denen die Kinder ihren Kreis bilden. Durch die großen Fenster, die fast bis auf den Boden reichen, sieht man blätterlose Baume und Straucher. Nach dem langen Winter ist noch kein Grun zu sehen. Aber etwas weiter hinten, etwa dreihundert Meter entfernt, steht die in den 1990er Jahren restaurierte Auferstehungskirche. Sie schaut freundlich heruber und gibt dem Ausblick eine besondere Atmosphäre.

Gerade werden noch einige Kinder von ihren Eltern in den Kindergarten gebracht. Sophia, ein zierliches zweijahriges Madchen, schluchzt laut, weil sie ihre Mama gehen lassen muss. Der funfjahrige Lockenkopf Julius fragt: „Warum ist Sophia traurig?“ Sophia ringt um Worte, sagt aber tapfer durch ihre Tranen hindurch: „Na, weil meine Mama wieder weg ist.“ Frau Kirchner nimmt Sophia behutsam auf den Schoß und tröstet sie. Jetzt beginnt der Morgenkreis. Los geht es mit Bewegungsspielen und Liedern. Die kleine Clara wunscht sich als erstes Hansel und Gretel und darf auch gleich die Gretel spielen.

Etwa 20 Kinder sitzen heute im Morgenkreis zusammen. Die meisten kommen aus christlichen Elternhausern, die sich bewusst fur einen evangelischen Kindergarten entschieden haben. Auch jene Eltern, die selber keiner Religion angehören, sind sehr interessiert, kommen gern zu den Familiengottesdiensten und wollen ihren Kindern die Möglichkeit eröffnen, sich einmal selbst fur oder gegen ein Leben mit Religion entscheiden zu können. Zu religiös empfindet den Kindergarten dabei keiner. Manche Eltern wurden sich eher im Gegenteil manchmal mehr Eindeutigkeit wunschen. Aber „Religion ist keine Wissensvermittlung“, sagt Frau Kirchner, „sondern eine Lebensform, ein Miteinandersein, das in allen Bereichen gelebt werden muss.“ Damit ist religiöse Wertevermittlung eine Alltagsaufgabe, die immer stattfindet, sei es beim freien Gebet im Morgenkreis oder einfach im sozialen Zusammensein. Der Kindergarten soll eine sichere Basis bieten, wo sich die Kinder aufgehoben fuhlen. Sie sollen lernen können, sich ihrer selbst bewusst zu werden und ihre Gefuhle äußern zu können.

Im Raum des Morgenkreises ist es ganz ruhig geworden. Nachdem sich alle Kinder in Spielen bewegen und bei Liedern mitsingen konnten, liegen sie nun gespannt wartend auf ihren Kissen, den Kopf nach unten, die Augen geschlossen. Frau Kirchner hat eine bronzefarbene Schale auf einen bunten Hocker in die Mitte des Raumes gestellt. Jetzt schlagt sie mit einem Holzschlägel gegen die Schale: Gooonnnng – ein heller Ton erschallt, wie von einer großen Glocke. Der Ton scheint immer weiter in die Ferne zu reichen und wird dabei leiser und leiser. Die Kinder versuchen ihm so lange es geht nach zu lauschen, ehe sie sich wieder aufrichten und nun den zweiten Teil des Morgenkreises erwarten. Dieser beginnt mit einem Lied und einem Gebet fur den Tag. Danach gehen die Jungsten hinaus und die anderen Kinder rucken zusammen, um sich besser unterhalten zu können.

„Ostern ist eines der schwersten Feste“
Jetzt geht es um Ostern und Karfreitag. Die meisten Kinder wissen schon, was in den nachsten Tagen passiert. „Ostereier verstecken.“ „Jesus ist auferstanden.“ „Der Osterhase kommt“, rufen sie durcheinander, und Frau Kirchner beginnt zu erzahlen, dass es zunachst ja gar nicht nach einem fröhlichen Fest aussah, dass die Jünger von Jesus ganz schön suchen mussten, ehe sie wieder froh sein konnten. Sie hat große farbige Seidentucher in die Mitte des Kreises gelegt und fragt nach den Farben und wie einem zumute ist, wenn man bestimmte Farben sieht. Die Kinder antworten und zahlen die Farben auf. Rot ist eine besonders interessante Farbe. Die ist fröhlich, aber auch gefahrlich, steht auch fur Feuer, Blut und Wut. Gelb und Grun dagegen sind heitere Farben. „Die sind wie Sommer“, ruft der funfjahrige Fabian. Als nachstes stellt Frau Kirchner Bauklötze zu den Tuchern. Ein bunter Klotz steht neben orangefarbenen, etwas weiter weg stehen große dunkelblaue Steine.

„Ostern ist eines der schwersten Feste“, sagt Frau Kirchner spater. Um es naher an die Kinder heranzubringen, versucht sie, es an einen roten Faden zu knupfen, der die Kinder schon seit langerem begleitet. Seit dem Winter haben sie sich immer wieder mit Farben beschaftigt und damit, welche Gefuhle mit unterschiedlichen Farben verknüpft sein können. Und so wird dieses begleitende Thema nun auch Bestandteil der Ostergeschichte. Auch dass Jesus bei den Menschen seiner Zeit mitunter auf Ablehnung stieß, wurde schon besprochen, etwa an der Geschichte des Zachaus, dem sich Jesus zuwandte, dafur aber von vielen Unverstandnis und Feindseligkeit erntete.

Die Figuren dieser Geschichten stehen auch heute mitten im Morgenkreis: „Der bunte Baustein, das ist Jesus“, sagt Julius und Frau Kirchner antwortet: „Ja, Jesus ist bunt, das passt sehr gut, denn Jesus ist alles, von Traurigkeit bis Freude.“ Der bunte Baustein steht zwischen den orangefarbenen, die die Junger reprasentieren, aber da stehen auch die großen dunklen Bausteine, die an die Pharisaer erinnern. Sie haben sich uber Jesus geargert und wollen ihn loswerden. In der Ferne auf einem Hocker steht noch ein weiterer blauer Stein. „Das ist der Kaiser“, weiß Judith und Frau Kirchner erzahlt, wie sich die Machtigen uber Jesus geargert und ihn schließlich zum Tod am Kreuz verurteilt haben. Das Kreuz, das sie hochhält, besteht aus zwei dunklen Zweigen. „Und dann waren die auch traurig“, sagt die dreijahrige Anna und meint Jesus‘ Freunde. Sie ist ganz bei der Sache und beobachtet, wie Frau Kirchner ein schwarzes Tuch zu den anderen Tuchern legt.

Warum ist es ausgerechnet die Farbe Schwarz, die uns an Traurigkeit und Ungluck erinnert? Thomas schlagt vor: „Weil einem dann richtig finster wird. Und draußen kommen dann die Krahen.“ Auch Julius denkt an die Nacht und Frau Kirchner sagt: „Genau, deshalb ist schwarz auch die Farbe der Traurigkeit, weil einem Traurigkeit oft auch nachts überkommt.“
Die kleine Sophia schluchzt ein bisschen, ihre Sachen sind zu eng. Frau Kirchner hilft ihr, die Strickjacke und den Pullover auszuziehen. „Wenn einem so eng ist, kann man auch traurig werden“, sagt sie und fährt fort von Jesus zu erzählen, wie er Angst hatte und traurig war, aber weitergegangen ist. „So fangt Ostern eigentlich ziemlich traurig an“, sagt sie, „aber ihr habt ja schon gesagt, die Geschichte geht noch weiter, sie endet nicht hier, dass Jesus am Kreuz hangt, sondern Gott hat gesagt: dabei soll es nicht bleiben, Jesus soll auferstehen, alles soll wieder gut werden. So wie wenn der Morgen kommt und Thomas seine Mama sieht, dann wird es ihm wieder hell.“ Die Kinder stimmen zu „hhmm“. „Dann kann er wieder lachen. Oder wenn Sophia ihre Jacke auszieht und sich nicht mehr so eng fuhlt, dann kann sie wieder lachen.“ „Hhmm.“

Auch der große Fabian kann wieder lachen. Er sagt: „Heute bin ich gar nicht traurig, weil ich hab‘ nur Knete im Kopf.“ Die anderen Kinder nehmen seine Idee auf und lassen ihrer Phantasie freien Lauf. Sie rufen durcheinander, was sie fröhliches oder trauriges im Kopf haben: Knete, Ostereier, Marmelade. „Auch Tod darf man im Kopf haben“, sagt Julius. Andere denken an Blumen oder Luftballons.

Inzwischen hat Frau Kirchner die Zweige des Kreuzes auseinander genommen und zeigt sie herum. Ihre ruhige Stimme bringt die Aufmerksamkeit der Kinder noch einmal zuruck. An den dunklen Zweigen sind kleine Knubbel dran – Knospen, die man schon sehen kann und die die Zweige grun werden lassen, wenn man sie ins Wasser stellt. „Das Kreuz sah ganz traurig und tot aus“, sagt sie, „und auf einmal ist es wieder lebendig. Gott hat gesagt: Ja, das Leben soll bleiben. Jesus lebt. Ihr könnt ruhig bunte Knete oder Marmelade im Kopf haben. Ich habe Euch versprochen, dass alles wieder gut wird.“ Zum Abschluss singen alle zusammen ein Osterlied „Freut euch, freut euch, Ostern ist da.“ Der Morgenkreis ist zu Ende, die Kinder legen ihre bunten Kissen zuruck in den Schrank, laufen den langen Gang des Flachbaus zuruck und biegen ab in die Garderobe. Sie wollen heute draußen spielen. Das graue niesselige Wetter schreckt sie nicht.

Die Namen der Kinder wurden geandert.

Tobias Scheufele studiert Geschichte, Politikwissenschaft und Publizistik an der Humboldt Universitat und der Freien Universitat in Berlin.

Der Kindergarten der Auferstehungsgemeinde Berlin

Der Kindergarten wurde 1926 gegrundet und war in den Raumen des Gemeindehauses an der Auferstehungskirche in Berlin-Friedrichshain untergebracht. Bis zu einhundert Kinder wurden damals von zwei Diakonatsfrauleins und einigen Hilfskraften betreut.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gemeindehaus vollständig und die Kirche zu großen Teilen zerstört. Der Kindergarten brauchte eine neue Bleibe und fand sie in den Raumen des Berliner Missionshauses etwa einen Kilometer von der Kirche entfernt.
Im Zuge der Verstaatlichung der Kinderbetreuung durch die DDR-Regierung sah sich die Gemeinde gezwungen, die Größe des Kindergartens auf 37 Platze zu verringern. Trotz kirchenfeindlicher Maßnahmen des Staates und stark zuruckgehender Gemeindegliederzahlen behielt der Kindergarten aber seine betont christliche Ausrichtung und seinen Anspruch auf religiöse Erziehung bei. Diese Tradition wurde auch nach der Wende nicht aufgegeben.
Seit 1994 befindet sich der Kindergarten wieder in unmittelbarer Nahe zur Auferstehungskirche.

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