fK 3/04 Kühn

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Großeltern von heute

Fels in der Brandung, Vertraute und familiäre Feuerwehr

von Elvira Kühn

Die Rolle der Großeltern sich gewandelt: Sie übernehmen nicht mehr wie selbstverständlich die Rolle der Babysitter. Sie sind aktiver, selbstbewusster und unabhängiger von der Nähe zu ihren Kindern geworden. Das Verhältnis zwischen den Generationen muss individuell ausgehandelt werden.

Der kleine Nickolas, seit einem Jahr in der Schule, gibt nun schon eine kleine Ewigkeit hingebungsvoll den Robinson Crusoe unter dem Sofatisch: Affengeschrei, wilde Kämpfe mit gefährlichen Schlangen und dann auch noch der weiße Hai… Davon unberührt sitzt Sarah, acht Jahre alt, auf dem Sofa daneben, tief gebeugt über die Häkelarbeit. Nach jeder gelungenen Randmasche ruft sie beglückt: „Oma, schau mal“! Oma schaut und lobt. Bis zur nächsten Randmasche. Wenn die dann aber misslingt, muss Oma sofort retten, was zu retten ist.

Zwischendurch erzählt Oma Lena von ihren Enkeln: Drei Jungs und vier Mädchen, der Jüngste ist sieben Monate alt, die Älteste ist 17. „Es ist einfach schön, nun auch die Enkel heranwachsen zu sehen“, sagt sie nicht ohne Stolz. Sie hat selbst vier Kinder groß gezogen, hat das Haus immer voll gehabt von quicklebendigen Rabauken und später jungen Erwachsenen. „Ich bin es gewöhnt, dass es bei uns laut und lebendig zugeht. Und das hält mich jetzt jung.“

Angesichts des üppig gedeckten Kaffeetisches drängt sich die Frage auf, ob Oma Lena ihre Enkel nicht manchmal ein bisschen zu sehr verwöhnt. „Nein“, sagt sie entschlossen. „Kinder dürfen nicht verwöhnt werden.“ Aber sie dürfen als erste den Kuchen probieren, im Winter Eis essen oder sich aussuchen, wie sie den Nachmittag mit Oma verbringen wollen. „Das kann doch nicht schaden…“ Und ein wenig verschmitzt fügt sie hinzu: „Ich habe mir früher eine Oma gewünscht, die Zeit für mich hat. Vielleicht hätte ich dann ja auch meine Hausaufgaben sorgsamer gemacht.“

Warum sind Omas und Opas eigentlich so wichtig in unserem Leben? Weil sie bereits Kinder erzogen, dabei Fehler gemacht und viele eingesehen haben. Weil sie da sind, auch wenn die Eltern sich streiten oder gar trennen. Weil sie wissen, dass viele Wege nach Rom führen und nur ein einzelner leicht falsch sein kann. Weil sie sich Zeit nehmen wollen für die kleinen Kinderfreuden, die so wichtig sind für jede Entwicklung. Weil sie ihre Kinder genauso lieben wie ihre Kindeskinder und deshalb zwischen beiden vermitteln können. Und es gibt noch so viel mehr Gründe…

Früher war es selbstverständlich, dass sich die Omas um die Kinder kümmerten: Die Mütter machten den Haushalt und bestellten die Felder, die Väter gingen – vor sehr langer Zeit zum Jagen – später zur Arbeit. Die älteren Frauen garantierten die Aufzucht der Nachkommen.

Die Werbung zeigt uns heute ein ganz anderes Bild: Mit schön gestärkter Rüschenschürze gewandet backt die liebe Omi den Lieblingskuchen oder der liebe Opi schenkt seinem Enkel die Karamelbonbons, die er als Kind selber so gerne mochte. Beide umsorgen die Kleinen, sind ohne eigene Ansprüche – und sie sind vor allem geeignetes Objekt, um die so beworbenen Produkte mit dem schönen Gefühl der Behaglichkeit zu verkaufen. Aber sind das die Omas und Opas von heute?

Dank gestiegener Lebenserwartung kann das Großeltern-Dasein heute rund ein Drittel der gesamten Lebensphase einnehmen. Sieben von acht Müttern über 60 Jahre sind Großmütter. Und es gibt immer mehr Urgroßmütter. Sollten die alle etwa Zupfkuchen backen und ihre Familie mit Kaffee verwöhnen? Nein, das tun sie wirklich nicht. Die Rolle der Großeltern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vielmehr gewandelt.

Großeltern gehen heute nicht mehr wie selbstverständlich ihren familiären „Pflichten“ nach. So, wie sie ihr Leben zuvor gestaltet haben, gestalten sie auch ihre Großeltern-Rolle. Hinzu kommen auch Faktoren wie Alter der Enkel, Gesundheitszustand der Großeltern und die räumliche Entfernung.

Gesa Bruch und ihr Mann Harald haben sich zum Beispiel für ihren Ruhestand vorgenommen, endlich lange Reisen zu unternehmen. Während ihres Berufslebens waren beide erwerbstätig und auch außerhalb der Familie aktiv. „Jetzt wollen wir unsere Ruhe haben und uns endlich um uns selbst kümmern“, sagt die 63-jährige. Die zwei Töchter, beide berufstätig, haben dafür Verständnis.

Wenn Gesa und Harald allerdings wieder Zuhause in Lankwitz sind, steht den drei Enkeln die Tür offen. „Wir verbringen dann oft ein ganzes Wochenende zusammen oder fahren in den Ferien gemeinsam an die Ostsee.“ Gesas Augen strahlen bei der Erinnerung an den letzten Ausflug. „Es ist immer etwas ganz besonderes. Wir unternehmen ganz verrückte Sachen und die Kinder sind überglücklich.“

Oma Ursel hat dagegen weniger Freude mit ihren Enkeln. Es sind neun an der Zahl, zwischen 13 und 24 Jahre alt. Zwei davon haben sie und ihr Mann fast selbst groß gezogen, denn die Eltern hatten sich damals scheiden lassen und der Sohn kam nicht allein mit den beiden Jungs zurecht. Die beiden Enkel, doch eigentlich auch „ihre“ Kinder, lassen sich heute nur noch selten blicken: „Sie sagen immer, wir haben keine Zeit. Dabei hätten sie mir neulich beim Renovieren der Wohnung ruhig mal helfen können.“ Ursel hatte sich in den vergangenen Jahren ganz den Enkeln gewidmet, genau so, wie sie vorher immer nur für die Familie da war. Jetzt lebt die 72-jährige allein, ihr Mann ist verstorben. Und wenn die 13-jährige Enkelin vorbeischaut, „will sie immer nur Fernsehen.“ Oma Ursel versteht dann die Welt nicht mehr.

Kinder gehen als junge Erwachsene aus dem Haus, Enkel verlieren meist schon mit fünf oder sechs Jahren das ungetrübte Interesse an Ihren Großeltern. „Enkel lernen in dieser Zeit gerade die große Welt kennen“, erklärt Dr. Frieder R. Lang, Entwicklungspsychologe an der Humboldt-Universität Berlin, diese Lebensphase. Das, was Großeltern ihnen in jungen Jahren geben können – Fürsorge, Geduld, Erfahrung und auch den indirekten Einfluss über die Eltern – haben sie erhalten. Die Kinder hatten Gelegenheit, „die von den Eltern erworbenen Regeln und Normen zu überprüfen bzw. einzuüben und dabei zugleich andere Sichtweisen und Beziehungsformeln kennenzulernen.“ Großeltern haben damit eine ihrer möglichen Aufgaben, die sogenannte Brückenfunktion, erfüllt. Jetzt können sie, wenn sie wollen, andere Aufgaben übernehmen.

„Die Perspektiven der beiden Partner sind in dieser Situation völlig entgegengesetzt“, will Lang die ‚Schuld‘ nicht nur den Kids geben. Viele Ältere konzentrieren sich mit zunehmendem Alter immer stärker auf die ihnen wichtigen Beziehungen, und dabei suchen sie gerne einen stärkeren emotionalen Kontakt zu den jüngeren Familienmitgliedern. Diese sind aber eben viel zu sehr mit ihrer neuen Lebenswelt beschäftigt, statt der Oma beim Renovieren zu helfen. Sie müssen sich ihren Platz in dieser Welt erst erobern.

Großeltern haben nun die Chance, eine andere wichtige Aufgabe für ihre Enkel zu übernehmen: Sie können Vertraute und Ruhepol werden. Und wenn die Enkel herangewachsen sind, werden sie mit ihren Erfahrungen vielfach als kompetente Gesprächspartner über die Vergangenheit geschätzt. Großeltern können aber in jedem Enkel-Alter vor allem die Rolle der familiären ‚Feuerwehr‘ übernehmen: Wenn Oma Ursels Enkelin Friederike zum Beispiel bei ihr immer nur Fernsehen will, kann das auch heißen, dass Friederike Zuhause nicht Fernsehen darf. Kopfschütteln hilft da nicht: Es bedarf vielmehr des Großeltern nun mal eigenen Fingerspitzengefühls, die Eltern mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass sich auch Friederike der Medienwelt nicht verschließen möchte. Oder Oma Ursel, sollte Friederike schon ‚viereckige‘ Augen haben, macht ihre Enkelin behutsam darauf aufmerksam, dass es weitere interessante und erlebenswerte Dinge neben dem Fernseher gibt, die zu zeigen ihr die Eltern vielleicht noch keine Zeit – oder auch kein Interesse – hatten.

Großeltern – sie können nicht nur Berater und Vergnügungspartner sein: Sie sind häufig auch so etwas wie der Fels in der Brandung. Das kann gerade dann wichtig werden, wenn Ehen zerbrechen. Seit 1970 hat sich die Zahl der Alleinerziehenden mehr als verdoppelt: Neben 18 Millionen Kindern, die mit beiden Elternteilen zusammenleben, gibt es rund 3,8 Millionen Kinder, die bei einem Alleinerziehenden leben. Die meisten von ihnen haben eine Trennung miterlebt. Für die Kinder bedeutet das den Zusammenbruch der bisherigen Lebenswelt und oft sind nur die Großeltern der vertraute und verläßliche Part in ihrer neuen Welt.

Die veränderten Lebensgewohnheiten führten auch dazu, dass heute viele Mütter ganz- oder halbtags erwerbstätig sind. Rund die Hälfte dieser Kinder werden regelmäßig von den Großeltern betreut, manche davon sogar bis zu 20 Stunden pro Woche. Wenn es auch viele Omas mit so guten Nerven wie die der Oma Lena gibt: Diese Betreuung der Kinder, die nicht die eigenen sind und schon deshalb sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Verantwortungsgefühl erfordern, kostet Kraft. Wir das zuviel oder stimmt nicht mehr mit den eigenen Vorstellungen vom genußreichen Ruhestand überein, sollten selbst Großeltern den Mut finden, einfach ‚nein‘ zu sagen. „Auch Großeltern müssen ihre eigene Form des Lebens finden und vor dem Zugriff anderer schützen“, sagte dazu der Familienberater Elmar Struck in einem Gespräch mit dem Kuratorium Deutsche Altershilfe. Es gilt, die Verteilung der Rollen ganz individuell auszuhandeln.

Oma Brigitte zum Beispiel hat geholfen, sieben Enkel groß zu ziehen. Die jüngste ist natürlich ihr kleiner Liebling, und sie ist über jeden Besuch dankbar. Doch dann kam Paule. Der ist ein vierbeiniges kleines Hundekind, überaus liebenswert zwar – doch: „Er stinkt!“ Und das stört Oma Brigitte. Sie hatte schon vorher ihrer allein erziehenden Tochter mitgeteilt, dass sie ihn nicht in ihrer Wohnung haben möchte, weil sie Hunde schlichtweg nicht mag. Paule kam trotzdem und nun wird die früher immer selbstverständliche Übernachtung der Enkelin bei ihr zum Problem: Oma Brigitte verweigert sich hartnäckig dem neuen Familienmitglied.

Für den Familienberater Struck ist das eine Selbstverständlichkeit, doch er kennt auch die Probleme: „Man muß dabei einen psychischen Druck aushalten, der beträchtlich sein kann.“ Junge Menschen, auch die eigenen Kinder, müssen eben lernen, dass für die Großeltern bei aller Liebe zum Enkelkind auch Ruhe und Zurückgezogenheit sowie bestimmte Gewohnheiten wichtige Lebensbestandteile sind.

Zu Konflikten im sonst eher einträchtigen Verhältnis kann es natürlich aus vielerlei Gründen kommen: Kinder sind heute lauter, unbekümmerter und weniger diszipliniert als früher. Das haben die Großeltern schon vor Jahrzehnten erfahren müssen und angemerkt. Gerade den heutigen Omas und Opas wird es aber viel besser mit raffinierten Tricks gelingen, die Enkel pünktlich an den Tisch oder weg vom Spielplatz zu lotsen. Und ist das nicht auch das wunderbare daran? Statt Termindruck und Erwartungen einfach nur die Freude über strahlende Kinderaugen und den schönsten Satz der Welt: „Oma und Opa sind die Besten!“

Elvira Kühn ist Journalistin in Berlin

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