fK 3/03 Böhme

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Fliegende Teppiche und Feuerblitz

Was Kinder an Medien fasziniert

von Karin Böhme-Dürr

Was sind gute Erzählungen für Kinder? Welche Voraussetzungen müssen Kinder mitbringen, damit sie eine Geschichte verstehen können? Welches Medium ist der beste Geschichtenerzähler?

„Es war einmal… vor vielen, vielen Jahren…“. So oder ganz ähnlich beginnen zahlreiche Geschichten für Kinder. Kleinere bekommen sie erzählt oder vorgelesen. Über das gute Geschichtenerzählen haben die meisten von uns klare Vorstellungen. Dazu gehört ein halbdunkler Raum. Kerzenlicht und Kaminfeuer flackern. Großmutter oder Mutter sitzen im Schaukelstuhl, die Kinder zu Füßen. Wenn Großvater oder Vater vorlesen, werden die Kleinen auf den Schoß genommen. Ab und zu stellen sie Fragen: „Und wisst ihr, wie es dann weiter ging?“ Ein Geschehen knüpft an das nächste an: „…und dann…und dann…und dann“. Wird es gar zu spannend, kuscheln sich die Kinder aneinander oder an die Vorlesenden. So fühlen sie sich sicher und geborgen. Falls sie nicht schon eingeschlafen sind, sind sie über das meist viel zu frühe Ende „Und wenn sie nicht gestorben sind,…“ ein wenig enttäuscht. „Und wie geht’s weiter?“ wollen die kleinen Zuhörer wissen.

Dieses Szenarium ist zwar nicht allen aus eigenen Erfahrungen vertraut, aber die meisten kennen es, weil es in Geschichten über das Geschichtenerzählen so erzählt wird. Ein weitgehend medienunabhängiger Aspekt, der dafür offenbar von zentraler Bedeutung ist, wird in verschiedenen Beschreibungen immer wieder erwähnt. Es ist die warme, vertraute Geborgenheit, die die Kinder bei der Rezeption von Geschichten erleben. Sie steht mitunter in scharfem Kontrast zu den fremden, manchmal furchterregenden oder sogar gruseligen Stories oder auch zur unwirtlichen Umgebung „da draußen“. Doch was charakterisiert eine gute Erzählung? Welche Inhalte begeistern Kinder (und auch Erwachsene)?

Gute Geschichten haben Suspense

Zu guten Geschichten gehören zumeist Grundkonflikte zwischen Gut und Böse, Feigheit und Tapferkeit, Leben und Tod, und damit eine beunruhigende und geheimnisvolle Spannung – das, was Filmemacher „Suspense“ nennen. Dieses Wort hat immer etwas mit Überhöhung und Übertreibung zu tun. François Truffaut definierte es als „die Dramatisierung des Erzählmaterials“ oder als „die intensivste Darstellung dramatischer Situationen, die möglich ist“. Darüber hinaus meint Suspense den vorübergehenden Ausschluss (Suspendierung) von Ungläubigkeit und rational-kritischer Distanzierung.

Die derzeit erfolgreichsten Kinderbücher, die Harry Potter-Romane der schottischen Autorin Joanne Rowling, die monatelang die Bestsellerlisten der New York Times und der Londoner Times anführten und einen veritablen „Harrycane“ ausgelöst haben, enthalten viel Suspense. Fantasievolle Emotionalisierungen haben sie sogar im Übermaß. Harry Potter ist z.B. kein Junge aus einer Durchschnittsfamilie mit einem Durchschnittsaussehen, sondern ein Waisenkind mit blitzförmiger Narbe auf der Stirn, das bei Verwandten aufwächst, die ihn zutiefst verachten. An seinem elften Geburtstag kann er seinem Elend entfliehen, als er eine Einladung in das Zauberinternat Hogwarts enthält, in sich selbst magische Kräfte entdeckt und dann auch noch in einem scharlachroten Express ins Abenteuer fährt.

Sinnvoll wird Harrys Geschichte nicht nur durch die Aneinanderreihung von Geheimnisvollem, sondern vor allem durch Erklärungen. Davon leben auch die Handlungen einer Geschichte. Nur durch Kausalzusammenhänge sind Geschichten nachvollziehbar. So ist der Satz „Der König starb, und dann starb die Königin.“ zwar eine Geschichte, aber erst durch die Nennung von Gründen („Der König starb, und deshalb starb die Königin vor Schmerz.“) wird daraus eine Handlung. Erklärungen werden in spannenden Geschichten oft hinausgezögert. Den kindlichen Lesern wird z.B. nicht gleich verraten, warum Harry Potter nachts lernen musste.

Durch Konzentration auf Details und Irreales, durch Polarisierungen und Ausschmückungen in Erzählungen, Mythen, Märchen und Fabeln nehmen Kinder nicht nur Abstand von der Direktrealität, sondern gewinnen auch die Chance, in fremde Welten einzutauchen, ihre Fantasie zu aktivieren, angenehme Gefühle und manchmal auch ihre „Angstlust“ zu verstärken sowie Widersprüche zu akzeptieren. Geschichten sprechen Kinder auch deshalb an, weil sie ihnen das Gefühl schmerzloser und sogar äußerst angenehmer Kontrolle vermitteln, wobei das ständige Wiederholen von Geschichten ein Feedback für ihre eigenen Wahrnehmungen ist und damit ihr Kontrollgefühl verstärkt. Kinder mögen in Geschichten immer wiederkehrende Figuren und Handlungen. Dadurch lernen sie inmitten von Entwicklung und Wandel, ihren eigenen Eindrücken zu vertrauen.

Jede fesselnde Geschichte lässt Kinder (und Erwachsene) das Medium vergessen, in dem sie erzählt wird. Obwohl sich Medien in ihrer „Erzähltransparenz“ unterscheiden, begeistern sich Kinder, sobald sie mit einem Medium vertraut sind, in erster Linie nicht für ein Medium, sondern für eine gute Geschichte.

Wissen über innerpsychische Prozesse

Um Geschichten verstehen zu können, müssen sich Kinder die Welt, die ihnen durch Geschichten nahe gebracht wird, vorstellen können. Die Fähigkeit von Heranwachsenden, diese „Kopfwelten“ zu erzeugen, die nichts mit anfassbaren Gegenständen und selbst mit dem Hier und Jetzt nichts zu tun haben, ist weder von Geburt an vorhanden noch folgt sie dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Es ist noch gar nicht so lange her, da sprach man allgemein Vorschulkindern mentale Repräsentationen ab. Auch der Entwicklungspsychologe Jean Piaget behauptete, dass Kinder unter sechs Jahren noch nicht über innere Prozesse reflektieren können und dass sie „psychologische Realisten“ sind, also nicht zwischen konkreten Objekten und dem Denken über konkrete Objekte unterscheiden können.

Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre zeigen jedoch, dass Kinder schon in einem sehr frühen Alter Vorstellungen über psychische Vorgänge entwickeln. Grundlage für diese Entwicklungen ist ihr Interesse an sinngebendem Leben. Bereits kurz nach der Geburt ziehen Babys soziale Reize nicht-sozialen vor. Etwas später orientieren sie sich in unsicheren Situationen an den (zustimmenden oder ablehnenden) Reaktionen von Erwachsenen. Im Alter zwischen achtzehn Monaten und fünf Jahren fangen Kinder an, äußere Realität und innerpsychische Prozesse zu unterscheiden. Deshalb können sie schon in dieser frühen Phase ihr eigenes mentales Leben reflektieren (indem sie sich selbst als Objekt erleben). Sie können zudem zwischen dem Essen einer Süßigkeit und der Vorstellung, eine Süßigkeit zu essen, differenzieren. Und sie können auf der Grundlage der Worte und Taten anderer Leute auf deren Wahrnehmungs-, Wunsch-, Gefühls- und Denkwelten schließen.

Dies lässt sich an ihren Aktivitäten ablesen, vor allem an ihren „Als-ob-Spiel-Handlungen“. Wenn Zweijährige Puppen füttern, wissen sie sehr wohl, dass Puppen keine Bedürfnisse, Wünsche und Fantasien haben. Manchmal beziehen sie sich sogar explizit auf das Innenleben ihrer Spielobjekte („Weil die Puppe mich mag, lässt sie sich von mir füttern.“). Das kindliche Vermögen, mentale Repräsentationen in Bezug auf das eigene Innenleben und auf das anderer Leute zu generieren, ist nicht nur eine Basis für Empathie und Perspektivenübernahme, sondern auch eine Grundlage für das Verstehen von Geschichten. Medien helfen ihnen dabei. Das Reflektieren über Medieninhalte und -formen gelingt – zumindest ansatzweise – schon manchen Dreijährigen. Dennoch haben Vorschulkinder zumeist Probleme, Fantasie und Realität, Programm und Werbung zu unterscheiden. Sowohl die kritische Distanzierung zum Medieninhalt – die „In-lusion“ – als auch das bewusste Eintauchen in Mediengeschichten verlangen Illusionskontrolle.

Wie bei den „Als-ob-Spiel-Handlungen“ muss bei der Perspektivenübernahme, die im Allgemeinen erst bei älteren Vorschulkindern und Grundschülern beobachtet werden kann, die eigene Position temporär „suspendiert“ werden. Das Hineinschlüpfen in die Rollen anderer ist eine Simulation, bei der Kinder eigene Wünsche und Sichtweisen ignorieren müssen. Je mehr sich eine neue Rolle von den bisherigen Erfahrungen unterscheidet, desto schwieriger ist die Simulation. Auch dann, wenn sich Kinder in Erzählwelten hineindenken, lassen sie den Alltag hinter sich.

Kulturen sind Geschichten

Dennoch müssen die tagtägliche Erfahrungswelt und die Erzählwelt verbunden sein. Dies trifft zwar nicht auf die Objekte der Erzählwelt zu (kein Kind stört sich an „fliegenden Teppichen“ in 1001 Nacht oder am „Feuerblitz“, dem Rennbesen in den Harry Potter-Romanen – im Gegenteil), wohl aber auf deren soziale Regeln. Ist eine Geschichte in ihrem sozialen Gefüge zu weit vom Alltagserleben entfernt, dann haben jüngere Kinder Schwierigkeiten, sich damit zu identifizieren. Frühestens im Schulalter können Heranwachsende Geschichten akzeptieren, in denen soziale Beziehungen umdefiniert werden. Um in Erzählungen Verstöße gegen gesellschaftliche Regeln nachzuvollziehen und soziale Absurditäten zu verstehen, muss man die Normen kennen. Die sittenstrenge und auf Konventionen achtende Queen Victoria las z.B. mit Begeisterung das Kinderbuch Alice im Wunderland, in dem die bestehende Ordnung umdefiniert wird.

Durch die Rezeption von Geschichten wachsen Kinder zum einen in eine spezifische oder globale Kultur hinein, und zum anderen konstruieren sie durch ihre Kommunikation Kultur und tradieren bewusst oder unbewusst deren Werte. Die kulturellen Werte, die die ältere Generation an die jüngere vermittelt, verraten die Zukunftsträume der älteren Generation. Geschichten dienen als Verhaltensmodelle. Erzählungen sind informelle Lehren. Die jeweilige Herkunft bzw. die Sozialisationsperspektive bestimmt, was ein Heranwachsender aufnimmt. Kulturen sind selbst Geschichten. Jedes soziale System hat eine eigene, unverwechselbare Vergangenheit, eine „Geschichte“, in der die ersten „Erzählschritte“ die Optionen für alle weiteren Erzählschritte festlegen. Jeder Werbespot, jede Nachricht, ja jede kommunikative Mitteilung spiegelt Kultur wider und schafft sie auch.

Verstehensmechanismen sind universell

Trotz unterschiedlicher Oberflächenstrukturen ähneln sich in allen Kulturen die Themen von Narrativen. Fast immer geht es um Gegensätze und Konflikte. Erstaunlich ist auch, dass trotz unterschiedlicher kultureller Perspektiven und Sichtweisen die Entwicklung von Selbst- und Fremdreflexion in vielen Kulturen ähnlich verläuft, die grundlegenden mentalen Mechanismen also universell sind. Der Erwerb der formalen Regeln von Eigen- und Fremdreflexionen ähnelt dem der formalen Grammatikregeln in der kindlichen Sprache. Beide „Instinkte“ sind nach dem heutigen Erkenntnisstand angeboren, aber nicht von Geburt an aktiv, sondern entwickeln sich sukzessiv in verschiedenen Stadien. Doch auch angeborene Fähigkeiten, die nicht prinzipiell modifiziert werden können, brauchen „Auslösesymbole“ aus der Umwelt. Verschiedene empirische Belege deuten darauf hin, dass einfache, soziale Reize dafür nicht ausreichen.

Notwendig sind „Interaktionssymbole“, wahrscheinlich sogar multisensorische Feedback-Prozesse. Letztere gehen bislang nur von Menschen aus, aber nicht von Medien. So fehlen selbst den digitalen, interaktiven Computertechnologien verschiedene Beziehungsqualitäten. Sie besitzen keine oder nur sehr eingeschränkt Tast-, Geruchs-, Geschmacks- und Wärmereize. Es ist möglich, dass Kinder Mediengeschichten nur dann adäquat erfassen, wenn sie bereits die intime Präsenz einer erzählenden Person und deren Anregungen, Kommentare und Nachfragen in einer symbolreichen Umwelt erfahren haben.

Sind in sensiblen Prägungsphasen keine Interaktionssymbole vorhanden, die die Instinkte auslösen, kommt es zu gravierenden Entwicklungsstörungen. Im Spracherwerb führen derartige Input-Defizite zum „Kaspar-Hauser-Syndrom“ und in der metasozialen Kognition zu einem mangelnden Verständnis innerpsychischer Prozesse sowie zu einem Empathiemangel. Anders als bei den formalen Regeln ist die Entwicklung der „inhaltlichen Konzepte“ gesellschafts- bzw. kulturabhängig. Die Umwelt, die direkte wie auch die mediale, beeinflusst in der Sprachentwicklung die Bedeutungskonzepte (Semantik) und in der Entwicklung der sozialen Metareflexionen die Art der Vorstellungs-, Wunsch-, Intentions-, Denk- und Gefühlsprozesse.

Die Wahl des Mediums für die Geschichte beeinflusst ihre Wirkung

Durch welches Medium Kinder Geschichten aufnehmen, hat durchaus einen Einfluss auf das, was sie aufnehmen. Technologische Medien unterscheiden sich nicht nur in ihrer Hardware, sondern auch in ihren Inhalten, in ihren typischen Nutzungsmöglichkeiten und -präferenzen sowie in ihren formalen Spezifika. Obwohl Kinder von einem Medium zumeist einen bestimmten Inhalt erwarten, also z.B. vom Fernsehen primär Unterhaltung und nicht Information, kann ein und dieselbe Geschichte in verschiedenen Medien erzählt werden. Allerdings maskiert die unterschiedliche Aufbereitung in verschiedenen Medien mitunter, dass es sich um ein und dieselbe Geschichte handelt. Eine spezifische Mediennutzung ist nicht nur alters-, geschlechts-, status- und bildungsspezifisch, sondern wird auch von gesellschaftlichen Entwicklungen und Konkurrenzmedien bestimmt. So sind beispielsweise die heutigen Kinder seltener als früher an Geschichten im Radio interessiert. Dafür begeistern sie sich eher an solchen auf Kassetten, CDs, Video, im Fernsehen oder im Internet.

Nicht inhaltlich, sondern formal unterscheiden sich Medien am deutlichsten und dauerhaftesten, und das in vierfacher Hinsicht: (1) durch die Art ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten, (2) durch den Anteil ihrer verbalen und nonverbalen Symbolsysteme, (3) durch die Art ihrer medienspezifischen Angebotsweisen und (4) durch ihre perspektivischen (zeitlichen, personalen und lokalen) Betonungen.

Diese formalen Unterschiede haben erhebliche Auswirkungen auf das Verstehen und Behalten von Geschichten von Kindern (und Erwachsenen). Bei den klassischen Massenmedien Print, Hörfunk, Film und Fernsehen können sie mediale Reize nur auditiv und/oder visuell wahrnehmen, aber die neuen, interaktiven Computertechnologien besitzen – wenn auch bislang nur in rudimentärer Weise – zusätzliche Tast- und Geruchsmöglichkeiten. Je größer das Wahrnehmungsangebot eines Mediums, desto mehr ähnelt es dem der Direktrealität. In allen Kindersendungen und vor allem in der Werbung werden außer der auditiven und der visuellen Wahrnehmung auch Geschmacks-, Geruchs-, Tast- und Wärmeempfindungen suggeriert. Die Teletubbies essen z.B. leckeren Toast, schnuppern an duftenden Blumen und kuscheln sich mit ihren molligen Bäuchen aneinander. Allerdings sind für kleinere Kinder Geschichten im Fernsehen und in den digitalen Medien kein Ersatz für die eingangs geschilderte multisensorische Nähe erzählender Erwachsener. Reizstarke Geschichten erlauben ein schnelleres Eintauchen in ein fiktives Geschehen. Auf Bilder und Musik sprechen Kinder besonders gut an.

Auditive und visuelle Wahrnehmungsmöglichkeiten sind nicht mit den verbalen und nonverbalen Zeichendarstellungen gleichzusetzen. Buchtexte sind z.B. nur visuell wahrnehmbar. In den Sprachmedien Hörfunk und Buch müssen ausführliche Beschreibungen die visuellen Eindrücke ersetzen. Deshalb ist in diesen Medien die Erzählkraft von Autoren – etwa ihre Fähigkeit, sich in Metaphern auszudrücken – wichtiger als in den audiovisuellen Medien. Im Fernsehen erzählen die (von Kameraleuten gedrehten) Bilder selbst. In Geschichten beachten Kinder Nichtsprachliches im allgemeinen früher und direkter als Sprachliches. Nonverbales wird auch besser erinnert. Vor allem wenn Kinder Geschichten nicht nacherzählen, sondern nachzeichnen, erweist sich das Fernsehen als besonders „eindrucksvolles“ Medium. Zwar fertigen Kinder nach dem Zuhören von Radiogeschichten die fantasievollsten Bilder an, aber Bilderbücher und insbesondere das Fernsehen fördern die Qualität von Zeichnungen, vor allem ihre Genauigkeit und Detailtreue.

Der Befund, dass das Fernsehen trotz seiner unbestreitbaren Qualitäten nicht generell „besser“ ist, wird auch durch weitere Forschung belegt. Zum Beispiel sind ihm die Printmedien und der Hörfunk in anderen Leistungsbereichen überlegen, etwa in der Förderung von Kreativität, Sprachpräzision und in der Aneignung von Lesefähigkeiten. Offensichtlich sind für Wirkungen Symbolentsprechungen ausschlaggebend. Verbale Medien begünstigen verbale Fähigkeiten von Kindern, nonverbale hingegen zeichnerische. Da sich Kulturkreise in ihren Sprachen unterscheiden, Bilder aber universell verständlich sind und somit global vermarktet werden können, werden Bilder (und in Zukunft vielleicht auch andere nonverbale Reize) für Kinder immer wichtiger. Durch die Bildorientierung ist in Zukunft mit einer noch umfassenderen Wirkung von Nonverbalem zu rechnen.

Printmedien betonen die Zeit, TV-Sendungen Personen und die interaktiven Medien den Raum

In intermediären Untersuchungen, in denen die Wirkungen von verschiedenen Medien auf Kinder (und Erwachsene) verglichen werden, hat man sich zwar vor allem auf Modalitätsunterschiede sowie Unterschiede in den Symbolsystemen und in den medienspezifischen Angebotsweisen konzentriert, doch gibt es auch Belege für die Wirkungen der perspektivischen Betonungen. So dominieren bei Geschichten in den Print- und Audiomedien durch die Fokussierung auf Sprache temporal-lineare Strukturen, im Fernsehen Personen und im Internet räumliche Dimensionen. Dies schlägt sich auch in den Wirkungen nieder.

„Print- und Audiokinder“ strukturieren ihre Nacherzählungen vor allem temporal, sequentiell und linear („Es war einmal…und dann passierte das und dann jenes…“). Für sie hat jede Geschichte einen Anfang und ein Ende. Der narrative Aufbau und die Logik der Geschichten sind für sie wichtiger als für „Fernsehkinder“. Sie achten mehr darauf, was erzählt wird, als darauf, wie etwas erzählt wird. Obwohl auch Film- und Fernsehinhalte zumeist auf linearen Geschichten aufbauen, verfügen sie nicht immer über eine logische Ordnung. Möglicherweise haben Kindersendungen ohne klare Anfang-Ende-Sequenz und ohne dramatische Höhepunkte in den letzten Jahren zugenommen. Beim Fernsehen sind Bilder, insbesondere solche mit Personen, entscheidender als die sprachlichen Beschreibungen. Dem Aussehen von Menschen wird große Beachtung geschenkt. Durch ihre bewegten Visualisierungen verraten Film und Fernsehen weitaus mehr als andere Medien etwas über Menschen, ihre Motive und ihre Beziehungen. Deshalb stützen sich „Fernsehkinder“ in ihren Schlussfolgerungen primär auf das Aussehen und auf das Verhalten der Charaktere, während das Äußere eines Menschen für „Print- und Radiokinder“ vergleichsweise unbedeutend ist. Im Fernsehen ist das Wie wichtiger als das Was.

Kommerzielle Interessen und eine weltweite Vermarktung sind allerdings nicht primär bei den klassischen Massenmedien zu finden, sondern in erster Linie bei den interaktiven Medien. Konsumorientierung, Multimedialität und Interaktivität gehen offensichtlich Hand in Hand. Besonders deutlich wird dies beim größten Hit in der Geschichte der multimedialen Vermarktung, bei Pokémon. Pokémon wurde 1996 als Nintendo-Spiel in Japan entwickelt, kam 1998 in die USA und wurde dort zu einem Videospiel-Bestseller. Mittlerweile gibt es ein multimediales Angebot (Filme, Poster, CDs, Kassetten, Hefte, Videos, Kartenspiele, Internet-Präsentationen) und natürlich auch eine breite Auswahl von Artikeln (Plüschtiere, Monopoly-Spiel, Schlüsselanhänger, Spardosen, etc.).

Die interaktiven Medien – Videospiele, CD-ROMs und das Internet – eröffnen Kindern neue virtuelle Raumerlebnisse, die übrigens auch in der Direktrealität zu finden sind, z.B. in den Freizeit- und Vergnügungsparks. Dadurch, dass Kinder bei den interaktiven Medien nicht mehr vorgegebenen linearen Wegen folgen müssen, sondern sich in multimedialen Welten mehr oder weniger frei orientieren können, haben sie auch mehr Möglichkeiten, sich selbst bzw. ihre eigenen Vorstellungen in die Geschichten einzubringen.

Kinder werden im Internet selbst zu Geschichtenerzählern

Das Internet als Prototyp der digitalisierten computervermittelten Kommunikation hat neben seinem vielfältigen zeitversetzten Nutzungspotential (E-Mail, Mailing-Listen, Newsgroups, WWW-Seiten) auch zeitgleiche Kommunikationsmöglichkeiten (Chats, MUDs, ICQ-Dienste, Internet-Telefonie und Internet-Videokonferenzen). Vor allem letztere eignen sich für den Austausch eigener und fremder Geschichten sowie für die Entwicklung neuer Geschichten. Welche Aktivitäten bevorzugen Kinder und Jugendliche im Internet? Vor allem jüngere Kinder (unter zwölf Jahren) wählen neben dem Versand von E-Mails und dem Anhören von Musik- und Sounddateien Netzspiele und MUDs (Multi User Dungeons/Dimensions). Damit unterscheiden sie sich deutlich von älteren Jugendlichen und Erwachsenen, die weniger an Eigenaktivitäten, dafür aber stärker an Empfangsmöglichkeiten (z.B. Buchbestellungen, Reise-Infos, Downloaden von Dateien) interessiert sind.

In die Computerprogramme der MUDs loggen sich Kinder ein, um in interaktiven Texten oder graphischen Umgebungen tätig zu werden. Durch den Zugang über den Telnet-Dienst können sich beliebig viele Nutzer, die sich an verschiedenen Orten befinden, in MUDs anonym bewegen. MUDs sind „Räume“ im Netz (z.B. Burgen, Schwimmbäder, Raumschiffe), in denen Nutzer in intensiven Dauerspielen (mehrere Stunden am Tag) ihre eigenen, meistens dramatischen Erlebnisse narrativ konstruieren. Dort können sie in Echtzeit virtuelle Welten erforschen und z.T. auch verändern, sich eigene Identitäten schaffen oder umgestalten und mit anderen kommunizieren. Dies geschieht nicht wie bei den Computerspielen durch Ausagieren und auch nicht durch sensorische Immersion in Datenanzügen, sondern psychologisch qua Imagination und aktives Sich-in-die-Situation-Hineinversetzen.

Digitales Erzählen hat vielerlei Vorzüge. So kann z.B. jeder Nutzer zugleich Autor und Rezipient sein, kann der Teilnehmerkreis beliebig erweitert werden, können multiple Perspektiven von Nutzern eingebracht, Geschichten und Charaktere verändert, gespeichert und mit multimedialen Dokumenten vernetzt werden. Allerdings haben die virtuellen Welten auch Nachteile. Durch den ständigen Wechsel gibt es kaum noch gemeinsame Erfahrungen, können oberflächliche Stereotypen verstärkt werden, sind viele Geschichten inkohärent und wiederholen sich ständig. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Aufmerksamkeit, Konzentration und Ausdauer von Kindern abnehmen. Die Schwächen der digitalen Medien sind zugleich Hinweise auf die Stärken anderer Medien. Noch ist das Fernsehen der beliebteste Geschichtenerzähler. Kohärente, multiperspektivische und professionell gemachte TV-Geschichten werden auch in Zukunft ihren Platz im Leben von Kindern haben. Genauso wie die, die sie von erwachsenen Bezugspersonen hören, die vielleicht auch in Zukunft ihre Geschichten beenden mit: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“.

Prof. Dr. Karin Böhme-Dürr ist Lehrstuhlinhaberin am Institut für Medienwissenschaft der Universität Düsseldorf

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