fK 3/00 Sauer

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Was brauchen Pflegekinder? Was bieten Pflegefamilien?

von Heidrun Sauer

In Deutschland lebten 1998 rund 42.000 Kinder und Jugendliche – für einen befristeten Zeitraum oder dauerhaft – in Pflegefamilien. Unabhängig von der jeweils angedachten Perspektive Hinter stehen hinter dieser Zahl verbirgt sich eine Vielfalt von PflegefFamilienformen, nämlich alle Familienkonstellationen, in denen Frauen und Männer, als Paare oder alleine, mit oder ohne eigene Kindern, soziale Elternschaft für Kinder und Jugendliche aus einer anderen Familie übernommen haben.

Pflegekinder befinden sich in einer speziellen Lebenssituation. Sie haben mindestens eine gravierende Trennung von wichtigen Bezugspersonen erlebt, sie kommen häufig aus einer Situation, in der Grundbedürfnisse nicht ausreichend befriedigt wurden, und sie haben nicht selten traumatisierende Erfahrungen gemacht.

Durch den Sachverhaltdiese Ausgangsbedingungen dass ‚fremde’ Kinder in einer ‚fremden Familie leben` entstehen für Pflegekinder ganz spezifische Bedürfnisse und für Pflegeeltern ein Spektrum an spezifischen Anforderungen. Dennoch brauchen Kinder und Jugendliche, die nicht in ihrer eigenen Familie leben, zunächst das, was alle Kinder brauchen, nämlich Personen, die ihre grundlegenden Bedürfnisse erfüllen.

Diese Grundbedürfnisse lassen sich in sechs große Bereiche zusammenfassen:
(1) Liebe, Akzeptanz und Zuwendung, (2) stabile Bindungen, (3) Ernährung und Versorgung, (4) Gesundheit bzw. Gesundheitsfürsorge, (5) Schutz vor materieller und sexueller Ausbeutung, (6) Wissen, Bildung und hinreichende Erfahrung. Bei Kinder brauchen sicherlich noch mehr und es ist für jedes Kind wünschenswert, dass auch noch andere Bedürfnisse erfüllen werden. Doch ddieser Aufzählung handelt es sich um genannten Basisbedürfnisse (basic needs of children), die sich auch in der UN-Kinderrechtskonvention wiederfinden, . Sie beschreiben Mindeststandards im Bereich des Schutzes und der Förderung von Kindern.

Zunächst klinkt es wie eine Selbstverständlichkeit, dass Pflegeeltern die basic needs ihrer Pflegekinder erfüllen wollen und sollen. Pflegeeltern, die ein Kind in Ihre FamilieIn aufnehmen, haben selbstverständlich das Ziel, dessen Grundbedürfnisse möglichst gut zu befriedigen. In der Praxis machen sie dann aber die Erfahrung, dass dieser Vorsatz nicht so leicht umzusetzen ist und häufig andere Verhaltensweisen von ihnen fordert, als sie es im Umgang mit ihren eigenen Kindern gewohnt sind.müssen Pflegeeltern dann aber die Erfahrung machen, dass dieser Anspruch ganz andere Verhaltensweisen von ihnen fordert, als sie es bspw. im Umgang mit ihren eigenen Kindern gewohnt sind. Pflegekinder befinden sich in einer speziellen Lebenssituation. Sie haben mindestens eine gravierende Trennung von wichtigen Bezugspersonen erlebt, sie kommen häufig aus einer Situation, in der Basisbedürfnisse nicht ausreichend befriedigt wurden und sie haben nicht selten traumatisierende Erfahrungen gemacht.

Zuwendung und stabile Bindungen

Pflegefamilien sind prinzipiell ein sehr geeigneter Rahmen, um dem Bedürfnis der Kinder nach regelmäßiger Zuwendung und stabilen Bindungen gerecht zu werden. Wenn Pflegekinder aber neu in die Pflegefamilie kommen, müssen sie zunächst die Trennung von ihren Eltern verarbeiten und gleichzeitig neue Bindungen aufbauen. Für einige Kinder ist dies sehr schwierig, da sie bereits Bindungs- und Distanzstörungen mitbringen. Sie haben Schutzmechanismen entwickelt, die sie vor einer möglichen neuen Trennung bewahren. Es fällt ihnen schwer, neue Beziehungen einzugehen. Sie ziehen sich zurück oder wenden sich ohne Auswahl beliebig jeder Person zu.

Pflegeeltern, die ihrem Pflegekind mit Liebe und Zuwendung helfen wollen, die neue Situation besser zu bewältigen, stoßen mit ihrem Vorhaben zunächst auf Widerstand. Damit beginnt für sie eine Gratwanderung. Sie müssen immer wieder ihre Bereitschaft zu Bindungs- und Zuneigungsangeboten signalisieren, dem Pflegekind aber keinesfalls etwas aufdrängen, was es noch nicht annehmen kann, und dabei auch eine eventuelle Zurückweisung akzeptieren.

Ernährung und Versorgung

Ein Teil des Anforderungsprofils, das daraus für Pflegefamilien entsteht, veranschaulichen die folgenden ausgewählten Beispiele.
Pflegeeltern die ein Kind in ihre Familie aufnehmen wollen diesem selbstverständlich Zuneigung entgegenbringen und neue Bindungen ermöglichen. In vielen Fällen kommen die Pflegekinder mit Bindungs- und Distanzstörungen in die Pflegefamilie. Ihre bisherigen Erfahrungen verhindern deshalb, dass sie sich auf alles was mit Nähe zu tun hat, einlassen können. Mit der Erfahrung und dem Wissen über die Notwendigkeit von Zuwendung und Bindung für eine positive kindliche Entwicklung, bleibt Pflegeeltern in solchen Situationen nichts anderes übrig, als sich geduldig auf eine Gradwanderung zu begeben. Sie müssen Ihre Bereitschaft immer wieder signalisieren, dürfen aber ihrem Pflegekind keinesfalls etwas aufdrängen, was es noch nicht annehmen kann und müssen eine eventuelle Zurückweisung akzeptieren. Wenn man bedenkt, wie schnell die Ablehnung liebevoll gemeinter Angebote zu Kränkungen führen kann, wird sicherlich deutlich, dass es für die betroffenen Pflegeeltern nicht immer einfach ist, konstruktive Wege der Bewältigung zu entwickeln.

Jede Familie entwickelt im Bereich der Ernährung und Versorgung ihre eigenen Gewohnheiten und Abläufe. Pflegekinder bringen ihre vertrauten Gewohnheiten mit, so dass in der Pflegefamilie unterschiedliche Erfahrungswelten aufeinander treffen. Die anderen Essgewohnheiten der Pflegekinder passen häufig nicht in das Regel- und Wertesystem der Pflegefamilie. Besonders gravierend wirkt sich aus, wenn Pflegekinder in durch extrem erlebten Mangel ein grenzenloses Nachholbedürfnis haben. Ohne Sättigungsgefühl schlingen sie alles Essbare hinunter oder horten es an geheimen Orten. Ersteres kann zu Erbrechen führen, Letzteres zu verdorbenen Lebensmitteln im Kleiderschrank. Der Balanceakt für Pflegeeltern besteht dann darin, diesem Nachholbedürfnis gerecht zu werden, es dennoch ihrem Pflegekind allmählich mit den neuen Familiengewohnheiten und -regeln vertraut zu machen einen Weg in das vorhandene System von Gewohnheiten und Regeln aufzuzeigen ohne sein eigenes völlig zu negieren und zugleich aufzupassen, dass der Familienalltag nicht völlig durcheinander gewirbelt wird.

Gesundheitsfürsorge

Wenn Familien längere Zeit in Belastungs- und Krisensituationen leben, wird nicht selten die Gesundheitsfürsorge vernachlässigt. Dokumente über ärztliche Untersuchungen fehlen, wichtige Impfungen oder Therapien wurden versäumt. Pflegeeltern müssen auch bei von dieser unsichern Basislückenhaftem Wissen reagieren, wenn ihr Pflegekind erkrankt. Befriedigende Lösungen sind hier nur durch kooperative Zusammenarbeit mit engagierten Kinderärzten möglich. Viel Zeit und Geduld kann es kosten, wenn in kurzer Zeit Versäumnisse nachgeholt werden müssen: Impfungen, Zahnbehandlungen, dringende krankengymnastische Therapien u.ä. Besonders gefordert sind Pflegeeltern, wenn frühere Krankheiten ihrer Pflegekinder durch fehlende Behandlung einen schweren Verlauf genommen und zu dauerhaften Schädigungen geführt haben. Dann heißt es mit den Folgen, z.B. mit einer durch unbehandelte Mittelohrentzündungen entstandenen Schwerhörigkeit, umzugehen, dem Kind die entsprechende Förderung zukommen zu lassen und gleichzeitig mögliche eigene Gefühle wie Ärger und Wut über das Geschehene zu bewältigen.

Schutz vor Gefahren

Oft ist die Unterbringung in einer Pflegefamilie an sich schon ein Schritt, um dem Kind Schutz vor Gefahren zu gewähren. Meistens Viele Pflegekinder habenhaben Kinder dann schon seelische Verletzungen durch sexuellen Missbrauch, andere Formen der Gewaltanwendung oder starke Vernachlässigung seelische Verletzungen davongetragen. Da diese schwer mit Worten mitzuteilen sind, tun sie dies mit Verhaltensweisen, die für die Pflegefamilie zunächst unverständlich erscheinen. Die damit verbundenen Gefühle und die zunächst unverständlichen Verhaltensweisen bringen sie in Pflegefamilie mit. Solche Wunden können nur Nur in einem langwierigen Prozess und kann dem Kind immer wiedermit Unterstützung heilen zur Verarbeitung und Bewältigung angeboten werden. Dies kann die Pflegefamilie sehr belasten und erfordert von allen Beteiligten viel Geduld und Verständnis. und kann enorme Belastungen für eine Pflegefamilie bedeuten In einer noch nicht geklärten Situation kann aber ein,Der bedrohliche familiäre Hintergrund des Pflegekindes kann auch auch direkt Sorge und Angst in die Pflegefamilie hineintragen, z.B. wenn Gewaltanwendungen bekannt sind. Dann müssen so dass besondere Schutzvorkehrungen getroffen werden müssen. und die Eltern dürfen z.B. Besuche finden dann nur außerhalb der Pflegefamilie statt und Name und Wohnort der Pflegefamilie nicht erfahren.

Kindgemäße Erfahrungen

Oft haben Pflegekinder nicht altersgemäße Erfahrungen machen müssen, die der Erwachsenenwelt zugehören. Viele kindgerechte Erfahrungen dagegen machen sie in der Pflegefamilie zum ersten malMal. Für die Pflegeeltern völlig überraschend, reagieren sie in Alltagssituationen mit Ängsten, Unsicherheit oder Überforderung. . Pflegeeltern wissen oft nur wenig über die Vorgeschichte ihrer Pflegekinder und erleben für sie zunächst unverständliche Reaktionenn und Verhaltensweisen. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein 4-jähriges Kind zum ersten Mal in einem Sandkasten sitzt und ihm die Situation so fremd ist, dass es nur schreit. Hier Auch hier sind Pflegeeltern gefordert, sich gemeinsam mit dem Kind auf einen Weg zu machen und wie bei den anderen Bereichen geduldig Neues anzubieten, das Kind nicht zu überfordern und mit seinen Defiziten und Ressourcen konstruktiv umzugehen. Dabei werden sie immer wieder mit Verhaltensweisen und Angewohnheiten konfrontiert, die nicht leicht zu akzeptieren sind. Sie müssen daher ihrem Pflegekind signalisieren, dass die fehlende Akzeptanz bestimmter Verhaltensweisen nichts mit der Akzeptanz seiner Person zu tun hat.Sie müssen aber unbedingt versuchen dies von der Akzeptanz dem Kind als Person gegenüber zu trennen.

Wenn Pflegeeltern die Basisbedürfnisse ihrer Pflegekinder befriedigen wollen, begeben sie sich zunächst auf einen unbekannten Weg. Aber nicht selten werden sie auf Meistens schaffen sie es auch, aber es ist kein einfacher Weg, sondern einer der durch Kurven und Hindernisse gekennzeichnet ist. Auf diesem weg Weg werden sie aber nicht selten zu Experten für Kinder in einer besonderen Situation.

Diese kleine Auswahl, gibt nur einen Teil von Aspekten wieder, die den 24-Stunden-Alltag von Pflegfamilien bestimmen und für den das gesamtes Familiensystem, einschließlich ihrer Kinder, ihrer Eltern, ihren Verwandten und Freunden zur Verfügung steht. Pflegeeltern können Pflegekindern viel bieten. Einen ganz normalen Alltag, aber auch Unterstützung bei der Bewältigung ihrer speziellen Situation. Dafür stellen sie ihr gesamtes Familiensystem einschließlich ihrer Kinder, Eltern, Verwandten und Freunde 24 Stunden pro Tag zur Verfügung.

Um dieses Angebot auch auf Dauer in einer guten Qualität mit Leben zu füllen, brauchen Pflegefamilien Qualifizierung und die Unterstützung durch einen professionellen Rahmen. Dazu gehören eine systematische Vorbereitung und Begleitung durch kontinuierliche kompetente Fachkräfte, die Zeit für Themen und Probleme von Bewerbern und Pflegeeltern habenBeratung sowie Supervisions-, Gruppen- und Fortbildungsangebote. Aber auch dies kann nur eine positive Wirkung haben, wenn hinter jeder Unterbringung von Anfang an eine solide Hilfeplanung steht, die alle Beteiligten – auch die Kinder und Jugendlichen selbst – mit einbezieht. Nur so kann eine tragfähige Perspektive für die Pflegekinder entwickelt werden, die ihnen die Chance einer positiven Entwicklung gibt.

Heidrun Sauer ist Soziologin und Psychodramaleiterin. Sie ist im Arbeitskreis zur Förderung von Pflegekinder e.V. in Berlin für den Bereich Kurz- und Dauerpflege verantwortlich.

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