fK 2/11 Largo

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Es kann für ein Kind eine positive Erfahrung sein zu erleben, wie seine Eltern auf eine faire Weise auseinandergehen“

Prof. Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. Dr. Remo Largo, Kinderarzt und ehemaliger Leiter der Abteilung „Wachstum und Entwicklung“ an der Universitäts-Kinderklinik Zürich

Maywald: Ein von Ihnen gemeinsam mit Monika Czernin geschriebenes Buch trägt den provokanten Titel „Glückliche Scheidungskinder“. Was soll dieser Titel zum Ausdruck bringen?

Largo: Der Titel soll der verbreiteten Meinung entgegenwirken, dass eine Scheidung die Kinder zwangsläufig unglücklich macht. Die Kinder müssen keinen Schaden nehmen, wenn sich ihre Eltern trennen. Wenn dem so wäre, würden jedes Jahr mehr als hunderttausend Kinder ins Unglück gestürzt. Entscheidend für das Wohlbefinden eines Kindes ist nicht die Trennung an sich, sondern die Qualität der Betreuung und die Verlässlichkeit der Beziehungen zwischen Kindern und Eltern sowie anderen Bezugspersonen vor, während und nach der Trennung. Ich kenne Kinder, deren Wohlbefinden durch die Scheidung der Eltern nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt worden ist, weil deren körperliche und psychische Bedürfnisse immer ausreichend befriedigt wurden und ihre Beziehungen stabil geblieben sind.

Maywald: Früher wurden die von einer Elterntrennung betroffenen Kinder häufig als „Scheidungswaisen“ bezeichnet. Heute sprechen viele Fachleute von Transitionen, also Übergängen, die infolge der Trennung von den Kindern bewältigt werden müssen. Verharmlost eine solche Terminologie das Leid der Kinder?

Largo: Wenn es dem Kind nicht gut geht, ist daran nicht die Scheidung an sich schuld, sondern dass seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse – Ernährung, Pflege, Schutz, Nähe, Geborgenheit, Zuwendung, Entwicklungserfahrungen – nicht mehr ausreichend befriedigt werden und sich die Beziehungsqualität verschlechtert hat. Die meisten Eltern unterschätzen die Belastungen, die mit der Trennung und Scheidung auf sie zukommen, zum Beispiel die Finanzen, Administratives, Umzug oder rechtliche Belange betreffend. Darunter leiden dann oft auch die Kinder, sie fallen sozusagen betreuungsmäßig durch den Rost, und das in einer Zeit, wo auch sie vermehrte Zuwendung bräuchten. Die Eltern sollten sich daher im Interesse der Kinder frühzeitig, das heißt bereits vor der Trennung, um Beratung und Unterstützung bemühen.

Maywald: Die deutsche Rechtsordnung geht nach einer Scheidung vom Normalfall der weiter bestehenden gemeinsamen Sorge aus, in etwa neunzig Prozent der Fälle wird tatsächlich so verfahren. Gibt es Ihrer Erfahrung nach Konstellationen, in denen die Alleinsorge für das Kind die bessere Alternative ist?

Largo: Wenn sich die Eltern einig sind, ist die rechtliche Regelung weitgehend belanglos. Ich sehe ein großes Problem darin, dass die Eltern erwarten, dass die Rechtsordnung, also Gerichte und Richter, ihre Beziehungsprobleme lösen würden. Das können aber weder Richter noch Anwälte oder Therapeuten leisten. Oft kommt es dadurch zu einem jahrelangen Hickhack zwischen den Eltern. Dabei sind sie es, die in der Verantwortung stehen. Sie können ihre Aufgabe als Eltern nicht delegieren. Wenn es den Kindern schlecht geht, ist es ihre gemeinsame Schuld. Die Gerichte sollten den Eltern frühzeitig klar machen, dass nur sie selbst ihre familiären Probleme lösen können und dass dies – und zwar zum Wohl des Kindes – von ihnen auch erwartet wird. Weder das gemeinsame noch das getrennte Sorgerecht können eine gute Elternschaft gewährleisten. Das können nur die Eltern selbst.

Maywald: Das Fortbestehen der gemeinsamen Sorge nach einer Scheidung bedeutet häufig nicht das Ende von Konflikten. Viele Eltern und in zunehmendem Maße auch Großeltern streiten erbittert um das Umgangsrecht, nicht selten vor Gericht. Was bedeutet dies für die betroffenen Kinder?

Largo: Das wichtigste Anliegen der Eltern sollte das Wohlbefinden ihres Kindes beziehungsweise ihrer Kinder sein. Das heißt, sie sollten eine qualitätsvolle und kontinuierliche Betreuung – nicht nur durch sie selbst – gewährleisten, und ihre Beziehung zum Kind sollte die oberste Priorität haben. Stellen die Eltern ihre persönlichen und partnerschaftlichen Probleme jedoch über die Bedürfnisse des Kindes und belasten es durch ihre andauernden Streitigkeiten, tun sie genau das nicht. Den Eltern ist oftmals zu wenig bewusst, dass, wenn sie dem anderen Elternteil den Kontakt zum Kind verweigern, dies langfristige Folgen haben wird, für das Kind, den anderen Elternteil, aber auch für sie selbst. Ich habe mehrmals erlebt, dass ein erwachsen gewordenes Kind den Kontakt zu dem Elternteil völlig abbrach, der sich schuldig gemacht hatte. Was ein solcher Vater oder eine solche Mutter ebenfalls zu verantworten hat, ist, dass ihr Kind in seiner Beziehungsfähigkeit bleibend beeinträchtigt sein kann.

Maywald: Viele Eltern leiden nach einer Trennung unter Schuldgefühlen und befürchten Nachteile für die Entwicklung ihrer Kinder. Was würden Sie diesen Eltern sagen?

Largo: Es ist in einer gewissen Weise eine paradoxe und sicherlich schwierige Situation für die Eltern. Sie verstehen sich als Partner nicht mehr, müssen als Eltern aber zusammenhalten. Was heißt das nun im Einzelnen? Sie sollten im Interesse der Kinder regelmäßig miteinander kommunizieren, sich ausreichend Zeit für Vereinbarungen nehmen, sich gegenseitig unterstützen und nie in Gegenwart der Kinder streiten. Sie dürfen einander den Kontakt zum Kind nicht erschweren oder gar verunmöglichen. Die Eltern sollten das Zuhause des anderen Elternteils und seinen Erziehungsstil bei den Kindern nie schlecht machen. Sie sollten mit den Kindern keine Geheimnise haben, die den anderen Elternteil benachteiligen oder verunsichern, beispielsweise einen neuen Partner. Eine solche Grundhaltung und ein solches Kommunikationsverhalten ist eine große Herausforderung. Meine Erfahrung ist: Immer mehr Eltern schaffen es.

Maywald: Nach einer Trennung bzw. Scheidung verliert rund ein Drittel der Kinder längerfristig den Kontakt zum Vater. Welche Ursachen sind hierfür verantwortlich und was müsste geschehen, damit Kinder mehr als bisher vom Vater profitieren können?

Largo: Es gibt Mütter, die dem Vater den Kontakt mit seinen Kindern erschweren oder gar verunmöglichen. Sie sind eine Minderheit, deren Verhalten jedoch nicht toleriert werden darf. Die meisten Mütter hingegen wollen den Kontakt zwischen den Kindern und dem Vater erhalten, zum Wohle der Kinder, aber auch im eigenen Interesse, weil dies eine Entlastung darstellt. Manche Mütter sind von den Vätern enttäuscht, weil sie nicht mehr Zeit für die Kinder aufbringen. Und für viele Väter führt die Trennung zu Zusatzbelastungen – Wohnung- und Arbeitsstelle suchen, finanzielle Belastung, Verlust des sozialen Netzes, weniger Erholungs- und Freizeit etc. –, die sie überfordern. Wenn der Kontakt zwischen Kindern und Vätern verloren geht, ist für mich der wichtigste Grund der folgende: Nur Väter, die bereits vor der Trennung ihre Kinder umfassend betreut haben und eine tragfähige Beziehung zu ihren Kindern eingegangen sind, haben nach der Trennung auch gute Voraussetzungen, dass ihre Beziehung zu den Kindern langfristig erhalten bleibt. Die Kinder müssen vor der Trennung die Erfahrung gemacht haben, dass der Vater nicht nur ein Unterhalter ist, sondern ihre körperlichen und psychischen Bedürfnisse umfassend befriedigen kann.

Maywald: Nicht selten überlassen Eltern nach ihrer Trennung wichtige Entscheidungen wie zum Beispiel die über den Lebensort oder die Umgangsgestaltung dem Kind. Wird dies dem Kindeswohl gerecht?

Largo: Im vorpubertären Alter müssen die Eltern die beste Lösung für das Kind finden. Das Kind sollten sie so weit mit einbeziehen, dass es sich auf die anstehenden Veränderungen einstellen kann. Wie und was dem Kind gesagt wird, ist für sein Wohlbefinden aber nicht entscheidend, denn die konkreten Auswirkungen kann es sich zumeist nicht vorstellen. Bedeutend ist vielmehr, ob die Betreuungs- und Beziehungsqualität vor, während und nach der Trennung erhalten bleibt. Ist dies der Fall, erleidet das Kind kaum einen Einbruch in seinem Wohlbefinden. Ganz anders sieht es in der Pubertät aus. Für die meisten Jugendlichen sind die Beziehungen zu den Gleichaltrigen, die Schule, das eigene Zimmer, die Nachbarschaft und die Freizeitaktivitäten mindestens so wichtig oder gar noch wichtiger als die Beziehung zu Mutter oder Vater. Ihr Wohlbefinden muss nicht, kann aber durch einen Umzug erheblich beeinträchtigt werden, wenn dieser Umzug etwa zum Verlust des gleichaltrigen Beziehungsnetzes führt. Jugendliche sollten so weit wie möglich mitentscheiden können. Und die Eltern sollten sich bemühen, die Jugendlichen dabei nicht in Loyalitätskonflikte zu verwickeln.

Maywald: In Deutschland wird derzeit etwa jede zweite Ehe geschieden, bei ungefähr der Hälfte der Scheidungen sind minderjährige Kinder betroffen, jedes Jahr circa hundertfünfzigtausend. Welche Risiken aber auch welche Chancen ergeben sich dadurch für kommende Generationen?

Largo: Entscheidend ist für mich nicht die Form des Zusammenlebens, sondern einmal mehr die Beziehungsqualität, die sich in den unterschiedlichen familiären Konstellationen ergibt. Letztere ist auch in einer vollständigen Familie keineswegs garantiert. Es kann für ein Kind eine durchaus positive Erfahrung sein zu erleben, wie seine Eltern auf eine faire Weise auseinandergehen, den Respekt voreinander bewahren und ihre Beziehung als Eltern erhalten. Ein solches Kind wird als Erwachsener eine partnerschaftliche Beziehung mit einer anderen inneren Einstellung eingehen als ein Kind, das während vieler Jahre unglückliche Eltern – zusammen oder getrennt – erlebt hat.

Maywald: Wenn Sie einmal zwanzig oder dreißig Jahre zurückblicken, was hat sich mit Blick auf Trennungs- und Scheidungskinder verändert?

Largo: Die Eltern haben nach einer Trennung weniger Schuldgefühle als vor dreißig Jahren. Durch die Emanzipation ist die Frau in vielfältiger Weise enorm gestärkt und damit auch selbständiger geworden. Früher war eine Scheidung für die meisten Frauen sozial und wirtschaftlich undenkbar, heute werden siebzig Prozent der Scheidungen von Frauen angestrengt. Im Gegensatz zu den Müttern hat die Stellung der Väter jedoch gelitten, in der Bildung, in existentiellen Belangen und in ihrer gesellschaftlichen Stellung. Der Mann ist definitiv nicht mehr das Oberhaupt der Familie. Er pocht wohl noch auf seine Rechte, kann aber oft seinen Pflichten nicht nachkommen, vor allem bei der Kinderbetreuung. Um mit der Frau gleichzuziehen, muss auch der Mann sich emanzipieren. Die Frau stellt an ihn als Partner und Vater weit höhere Anforderungen als früher. Beziehungsfähiger soll er sein und sich mehr an der Erziehung der Kinder beteiligen. Was die Gesellschaft betrifft, so fühlen sich viele Eltern in allen Formen familiären Zusammenlebens in der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder sehr alleingelassen. Die Gesellschaft muss bessere Rahmenbedingungen für Eltern und Kinder schaffen, durch gute Betreuungseinrichtungen, eine sinnvolle Elternzeitregelung und eine familienfreundliche Arbeitswelt, sonst wird es zukünftig noch weniger Kinder geben. Die jungen Menschen werden nur dann Kinder haben, wenn es auch Freude macht und sie dabei unterstützt werden.

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