fK 2/07 Goecker

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter

von David Goecker und Alexander Korte

Die Geschlechter-Differenzierung „Mädchen oder Junge“ bzw. „Mann oder Frau“ ist die erste Frage der sozialen Orientierung. Das Geschlecht eines anderen Menschen ist die erste Information, die in der sozialen Interaktion (meist unbewusst) registriert wird. Jeder kennt das Gefühl einer Art Irritation, wenn keine eindeutige Zuordnung vorgenommen werden kann.

Die Geschlechtsidentität entspricht unhinterfragt und selbstverständlich zumeist dem eigenen biologischen Geschlecht. Kinder können bereits mit Beginn der Sprachentwicklung, d.h. ab dem 18. Lebensmonat, das eigene Geschlecht zuordnen. Die Mehrheit der Vorschulkinder ist auf Nachfrage nicht bereit, das eigene Geschlecht zu wechseln. Geschlechtsrollenvorstellungen sind im Kindesalter durch oftmals ausgeprägte Stereotypien geprägt. Möglicherweise hilft dies den Kindern, sich in unserer zweigeschlechtlichen Welt zu orientieren.

Folgende Faktoren sind für die Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität von Bedeutung:
(1) Körperlich-genitale Empfindungen und Erfahrungen sowie sexuelle Fantasien
(2) Interaktion mit Mutter und Vater bzw. mütterlichen und väterlichen Bezugspersonen
(3) Identifikation mit Mutter- und Vater(bild)
(4) Selbstdefinitionsprozesse und Lernen der Geschlechtsrolle (stark kulturabhängig)

Im klinischen Alltag sexualmedizinischer, kinder- und jugendpsychiatrischer sowie kinder- und jugendendokrinologischer Spezialeinrichtungen stellen sich zunehmend Eltern mit ihren Kindern vor, weil das körperliche Erscheinungsbild und Verhalten als nicht übereinstimmend mit dem biologischen Geschlecht erlebt wird – von den Kindern selbst und/oder den Eltern. Wie Befragungen von Kinderärzten zeigen, werden Jungen drei bis sechs Mal häufiger als Mädchen vorgestellt. An Ärzte und Psychologen wird der Wunsch nach fachlicher Beratung herangetragen und oftmals auch eine umfassende körperlichen Untersuchung inklusive Hormon- und Chromosomenstatus sowie Ultraschalluntersuchung gefordert („Vielleicht hat mein Sohn ja zwei X-Chromosome oder eine Gebärmutter“). Nicht selten verlangen Eltern bereits bei Kindern im Grundschulalter – und später die Jugendlichen selbst – möglichst rasch körperverändernde Maßnahmen, d.h. eine hormonelle und/oder operative Geschlechtsumwandlung, vorzunehmen.

Geschlechtsidentitätsstörungen (GIS) manifestieren sich bereits ab dem späten Kindergartenalter. Die Betroffenen verlangen oder bestehen darauf, dem anderen Geschlecht anzugehören. Sie bevorzugen (Rollen)Spiele, Kleidung und Spielkameraden des anderen Geschlechts und zeigen geschlechtsatypische Verhaltensweisen. Mitunter kommt es zur Ablehnung bis zur Verleugnung der eigenen Genitalien oder zu der Überzeugung, die Genitalien des Gegengeschlechts zu haben oder zu bekommen.

Gegengeschlechtliche Verhaltensweisen im Kindesalter sind im einstelligen Prozentbereich bei beiden Geschlechtern zu beobachten und können bei deutlicher Ausprägung fälschlicherweise die Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung zur Folge haben. Geschlechtsatypische Verhaltensweisen korrelieren deutlich mit einer gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung im Erwachsenenalter, jedoch kaum mit einer späteren transsexuellen Entwicklung. Nach einer Längsschnittstudie sind Jungen, welche im Kindesalter ausgeprägte gegengeschlechtliche Verhaltensweisen zeigen, im Erwachsenenalter zu etwa 75 Prozent gleichgeschlechtlich orientiert, 20 Prozent gegengeschlechtlich und nur 5 Prozent entwickeln eine irreversible Geschlechtsidentitätsstörung im Sinne eines Transsexualismus.

Wesentlich höher liegt die zu vermutende Prävalenz für Geschlechtsidentitätsstörungen im Jugendalter, weil sich in der Pubertät unter dem Einfluss der Sexualhormone die Sexualstruktur manifestiert. Die Sexualstruktur umfasst die Gesamtheit sexueller Vorlieben sowie die sexuelle Orientierung. Sie bleibt nach heutigen Erkenntnissen lebenslang weitgehend unverändert bestehen. Die Faktoren, welche bei der Herausbildung der Sexualstruktur eine Rolle spielen, sind bis heute weitgehend unbekannt. Es wird ein Zusammenspiel von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren angenommen. Die wichtigsten Differentialdiagnosen für Transsexualismus, wie transvestitischer Fetischismus (sexuelle Erregung durch das Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung) und ich-dystone homosexuelle Orientierung (Ablehnung der eigenen sexuellen Orientierung auf das gleiche Geschlecht) manifestieren sich erst in der Pubertät und werden dann von den Betroffenen gegebenenfalls der Selbstdiagnose „Transsexualismus“ zugeführt.

Klinische Erfahrungen liegen bisher vor allem mit erwachsenen Patienten vor. Hiernach reichen Geschlechtsidentitätsstörungen von eher leichtgradigen Formen der Unzufriedenheit mit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit bis zur schwersten Form, der Transsexualität. Menschen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung lehnen ihr biologisches Geschlecht, dessen körperliche Merkmale und die von der Gesellschaft hieran geknüpften Rollenanforderungen mehr oder weniger vehement ab. Sie empfinden sich dauerhaft als Angehörige des anderen Geschlechts und sind bestrebt, mittels medizinischer Maßnahmen dessen körperliche Merkmale zu erlangen und mittels juristischer Feststellungen in dieser Rolle sozial anerkannt zu leben.

Folgende Aspekte sind vor der Einleitung körperverändernder Maßnahmen immer zu berücksichtigen:
– „Transsexualität“ ist in der Regel zunächst eine selbst gestellte Diagnose des Patienten bzw. seiner Eltern. Es gibt kein einzelnes „objektives“ Kriterium – keinen Laborwert und keinen psychometrischen Test – für die Irreversibilität einer Geschlechtsidentitätstransposition im Sinne einer „Transsexualität“.
– Diese Irreversibilität ist aber eine der Voraussetzungen zur Indikation für eine Umwandlungsbehandlung. Eine solche Indikation kann nur im Ergebnis eines längerwährenden diagnostisch-therapeutischen Prozesses gestellt werden. Dabei kommt dem mindestens einjährigen Alltagstest eine entscheidende Bedeutung zu.
– Ein Verschleppen der Behandlung, ein Vertrösten des Patienten ohne tatsächliche Hilfsangebote zum Ausloten seines tiefgreifenden Lebenskonflikts mit ihm gemeinsam kann letztlich letale Folgen haben, da viele Patienten in der „Umwandlung“ die letzte lebbare Möglichkeit sehen.
Andererseits kann auch ein vorschnelles Einleiten weitgehend irreversibler körperverändernder Maßnahmen ohne ausreichende diagnostisch-therapeutische Abklärung deletäre Konsequenzen haben, weil nach klinischen Erfahrungen die meisten Geschlechtsidentitätsstörungen nicht als Ausdruck einer Transsexualität aufgefasst werden können.

Diagnose- und leitlinienorientierte Behandlungsempfehlungen
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie hat Leitlinien zu den ICD-10-Diagnosen „Störungen der Geschlechtsidentität“ (F64) und „Psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung“ (F66) veröffentlicht. Hierzu konform sind die „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“ der Akademie für Sexualmedizin e.V. (ASM) und der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS).

Die Leitlinien enthalten anerkannte Kriterien für die störungsspezifische Diagnostik – differenziert nach Kindern und Jugendlichen. Die wichtigsten Differentialdiagnosen sind erfasst und der empfohlene „Entscheidungsbaum“ ist praktisch umsetzbar.

Die Leitlinien sehen bei der Erfüllung der Kriterien für eine Geschlechtsidentitätsstörung bis zur Pubertät die Diagnose „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“ (F64.2) vor. In Anbetracht der Plastizität der Geschlechtsidentitätsentwicklung in Pubertät und Adoleszenz kann die Diagnose einer transsexuellen (d.h. irreversiblen) Geschlechtsidentitätsstörung erst nach einem qualifizierten längerfristigen therapeutisch-diagnostischen Prozess gestellt werden, in dem kinder- und jugendpsychiatrisch sowie sexualmedizinisch relevante Informationen kontinuierlich gesammelt werden. Diese betreffen aus sexualmedizinischer Sicht mit Beginn der Pubertät die regelmäßige Exploration von sexuellen Fantasien und Verhalten bezüglich Masturbation und Sexualität mit einem Partner, insbesondere zum Ausschluss einer ego-dystonen homosexuellen Orientierung.

Aus jugendpsychiatrischer Sicht ist die frühzeitige Erfassung möglicher „transsexuellogener Einflüsse“ und psychopathologischer Auffälligkeiten von Familienangehörigen von essentieller Bedeutung. Vor Abschluss der psychosexuellen Entwicklung kann die Diagnose nicht gesichert werden – was entsprechend frühestens mit Abschluss der somatosexuellen Differenzierung möglich wird, da während der körperlichen Sexualentwicklung die psychosexuelle auf jeden Fall noch im Gange ist. In der Gesamtschau sollte also keinesfalls das kalendarische Alter, sondern das biologische und das psychosexuelle Alter im Sinne einer abgeschlossenen somato- und psychosexuellen Differenzierung entscheidend und handlungsleitend sein. Infolgedessen kann auch die Indikation für die Hormonbehandlung erst nach Abschluss der somato- und psychosexuellen Differenzierung erfolgen, da erst hiernach die Diagnose gesichert werden kann. Vor diesem Hintergrund empfehlen die Leitlinien, Transsexualismus (F64.0) erst dann zu diagnostizieren, wenn nach der Pubertät der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben, und der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung mindestens zwei Jahre durchgehend bestehen.

Die „Leitlinien“ sehen als primäres Ziel der Behandlung von Kindern mit Geschlechtsidentitätsstörungen, die sich aus dem Anderssein, der psychischen und sozialen Außenseiterstellung entwickelnden Konflikte zu vermindern. Insbesondere bei jüngeren Kindern kommt der Einbeziehung der Eltern in die Therapie eine besondere Bedeutung zu. Psychische Auffälligkeiten der Eltern, Erziehungsmethoden und die familiäre Gesamtsituation können insbesondere im Kindesalter die Entwicklung von Geschlechtsidentitätsstörungen induzieren, die über ein bloßes Unwohlsein im Geburtsgeschlecht hinausgehen. Sie sind als eine schwere Störung einzustufen und daher ist die Indikation für eine psychotherapeutische Behandlung immer zu stellen. Die betroffenen Kinder zeigen oftmals psychopathologische Auffälligkeiten (Ängstlichkeit, Depressivität, verminderte soziale Kompetenzen) und berichten von massiven Ausgrenzungserlebnissen gegenüber Gleichaltrigen und auch Erwachsenen. In der Therapie gilt es das Zugehörigkeitsgefühl zum anderen Geschlecht zwar zu akzeptieren, jedoch nicht zu fördern, z.B. durch die Ausstaffierung mit Kleidung und Spielzeug des anderen Geschlechts oder durch Komplimente: „Mein Junge, oh wie süß siehst Du in dem Kleidchen aus! Was bist Du für ein hübsches Mädchen!“ Es gilt daher im Gegenteil, die Kinder im Geburtsgeschlecht zu bestärken. Dies bedeutet jedoch nicht, betroffenen oder auch nicht betroffenen Kindern geschlechtsatypische Verhaltensweisen zu untersagen.

Bei Jugendlichen empfehlen die Leitlinien bei der Diagnose „Transsexualismus“ den Grundregeln der Behandlung erwachsener transsexueller Patienten zu folgen. Im Wesentlichen bedeutet dies die psychotherapeutisch begleitete Erprobung der gewünschten Geschlechtsrolle in allen Lebensbereichen (Beruf, Partnerschaft und soziales Umfeld) für die Dauer von mindestens einem Jahr. Dieses Vorgehen bezeichnet den so genannten „Alltagstest“. Zu prüfen sind dabei insbesondere: (1) die innere Stimmigkeit und Konstanz des Identitätsgeschlechts und seiner individuellen Ausgestaltung, (2) die Lebbarkeit der gewünschten Geschlechtsrolle, (3) die realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen somatischer Behandlungen. Der Alltagstest hat sich als wirksames Mittel erwiesen, die Anzahl von postoperativen Rückumwandlungsbegehren zu minimieren.

In der Pubertät (oder sogar vorpubertär) eingeleitete konträrgeschlechtliche körperverändernde Maßnahmen sind in der wissenschaftlichen Communitas in hohem Maße umstritten. In einzelnen Fällen wird die medikamentöse Verzögerung der Pubertät mit LHRH-Agonisten als ein adäquates diagnostisches Hilfs- und Behandlungsmittel gesehen. Einerseits soll diese Behandlung dazu dienen, dem Therapeuten und dem Patienten mehr Zeit einzuräumen, um die Diagnose „Transsexualismus“ zu verifizieren, andererseits soll der Patient durch die verhinderte Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale entlastet und damit letztlich einer psychiatrischen Co-Morbidität vorgebeugt werden. Es wird überdies argumentiert, dass die Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation in fortgeschrittenem Alter ohne eine frühzeitige Suppressionsbehandlung zur Verhinderung der Hormoneinwirkung während der Pubertät eher zu einem niedrigeren psychischen, sozialen und sexuellen Funktionsniveau führt.

Folgende Punkte sprechen dagegen, dass Betroffene vor Abschluss oder sogar im Vorfeld der Pubertät eine hormonelle Behandlung erhalten:
– Die mit der Pubertät einhergehenden physiologischen Veränderungen, insbesondere auf hormoneller und cerebraler Ebene, und das dadurch veränderte sexuelle Erleben in Fantasie und Verhalten haben einen entscheidenden Einfluss auf die geschlechtliche Identität. Eine medikamentöse Behandlung während bzw. vor der Pubertät verhindert diese cerebrale Ausdifferenzierung und kann somit nicht als diagnostisches Hilfsmittel dienen.
– Da es bisher keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber gibt, wie sich eine hormonelle Behandlung vor bzw. während der Pubertät auf die weitere Entwicklung der Geschlechtidentität tatsächlich auswirkt, kann der behandelnde Arzt den Betroffenen nicht über Folgen, Risiken und Nebenwirkungen aufklären. Es ist nicht auszuschließen, dass hierdurch iatrogen ein Transsexualismus induziert wird.
– Fraglich ist, inwieweit ein Kind bzw. Jugendlicher die nötige emotionale und kognitive Reife besitzt, in eine mit lebenslangen Veränderungen einhergehende hormonelle und/oder chirurgische Behandlung einzuwilligen.
– Mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten ist prä- bzw. peripubertär bisher keine sichere diagnostische Zuordnung möglich.

Vor dem Hintergrund steigender Patientenzahlen wurde an der Charité in Berlin eine Spezialprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörungen eingerichtet. Hierbei kooperieren die Abteilung für pädiatrische Endokrinologie des Sozialpädiatrischen Zentrums für chronisch kranke Kinder (Leiterin: Prof. Grüters), die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Leiterin: Prof. Lehmkuhl) und das Institut für Sexualmedizin (Leiter: Prof. Beier).

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. med. David Goeckerist Mitarbeiter am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin im Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften sowie in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Charité in Berlin.

Dr. med. Alexander Korteist Mitarbeiter in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Charité in Berlin.

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