fK 2/06 Masaracchia

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die erste Zeit nach der Geburt eines Babys mit einer Lippen-, Kiefer-, Gaumenfehlbildung

von Regina Masaracchia

Mit dem englischen Wort „Bonding“ ist die innere Gefühlsverbindung gemeint, die Eltern zu ihrem Baby entwickeln, wenn ihnen nach der Geburt die Möglichkeit zu intensivem Blick- und engem Körperkontakt, Streicheln, Schmusen, Berührung und intensivem Sprechen miteinander gegeben wird. Sie ist die Basis für eine dauerhafte, einzigartige Beziehung, und diese Liebe und Verbundenheit ist eine wichtige Voraussetzung für die Sicherheit und das gesunde Gedeihen des Babys.

Das Hormon Oxytocin, das „Liebeshormon“, versetzt die Mutter in die Lage, sich in ihren Säugling so richtig zu verlieben. Der Oxytocinspiegel ist in der ersten Stunde nach der Geburt ganz besonders hoch. Hautkontakt, Blickkontakt, Geruch, suchende Bewegungen und Lautäußerungen von Seiten der Mutter wie des Kindes wirken gegenseitig stimulierend. Biologisch gesehen sind Mutter und Kind also bestens ausgerüstet, damit dieser Bindungsprozess, der bereits in der Schwangerschaft begonnen hat, unmittelbar nach der Geburt seine Intensivierung und Fortsetzung findet. Das Bindungsverhalten, von dem das Stillen ein ganz wichtiger Teil sein kann, muss durch die Klinikroutine unterstützt werden. Aber genau das passiert häufig nicht und besonders fehlgebildete Kinder werden der Mutter oft nach Geburt entrissen, bevor Bonding stattgefunden hat. Dabei wäre es gerade in diesem Fall wichtig, dass dieser magische Moment unmittelbar nach einer normalen Geburt nicht unterbrochen wird.

Das generelle Risiko einer angeborenen Fehlbildung liegt in der Bevölkerung bei drei Prozent. Jedes 500ste Baby wird mit einer Spaltfehlbildung geboren, was bedeutet, dass diese Fehlbildung die zweithäufigste ist und gleich nach den Herzfehlern kommt. Sie kann jeden treffen, denn nur zu 15 Prozent tritt die Spaltfehlbildung in Familien auf, wo bereits Spalten vorgekommen sind. Bei jedem fünften Kind besteht eine familiäre Vorbelastung, die auch Generationen zurückliegen kann.

Insgesamt werden in Deutschland circa 1.500 Kinder im Jahr mit der Spaltfehlbildung geboren. Am häufigsten (80 Prozent) sind die einseitigen, durchgehenden Spalten, wo die Lippe, der Kiefer und der Gaumen betroffen sind (im Volksmund „Hasenscharte“ genannt; mittelalterlicher Sprachgebrauch mit Vergleichen aus der Tierwelt ist für Betroffene jedoch diskriminierend und sollte unbedingt vermieden werden!). Die Spalte kann auch beidseitig und durchgehend sein, manchmal ist auch nur die Lippe, Lippe plus Kiefer oder isoliert der Gaumen betroffen, die Mikroform ist das gespaltene Zäpfchen. Da die Spaltfehlbildung reparabel ist, ist die Behinderung meist nur vorübergehender Natur.

Eine Lippen-, Kiefer-, Gaumenfehlbildung ist sehr offensichtlich, sieht aber meist „schlimmer“ aus, als sie tatsächlich ist, denn das Neugeborene befindet sich ja nicht in akuter Lebensgefahr. 98 Prozent der Kinder haben keine weiteren Fehlbildungen oder ein Syndrom, so dass sie ganz normale, gesunde Babys sind und demnach auch so behandelt werden sollten. Verständlicherweise ist das Krankenhauspersonal, welches nicht häufig mit spaltfehlgebildeten Babys zu tun hat, zunächst um die Sicherheit des Kindes besorgt, doch sollte der erste Gesundheits-Check ruhig ablaufen und dabei liebevoll mit dem Neugeboren gesprochen werden. Eine längere Trennung von der Mutter und das Legen von Magensonden ist meist völlig unnötig und wird für Mutter und Kind zum ersten traumatischen Erlebnis. Denn leider stellt sich die intensive Bindung bei vielen Müttern nicht automatisch nach der Geburt ein, sondern sie ist ein Prozess, der durch viele Einflüsse und Erfahrungen geprägt wird. Studien zeigen, dass das Unterbrechen des Bondings durch Klinikroutine Konsequenzen hat auf Stillerfolg und Stilldauer, auf den Zustand des Kindes und das fürsorgliche Verhalten der Mutter.

Trennung von Mutter und Kind vermeiden
Eine Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt sollte vermieden werden, weil – die Mutter ihr Kind aktiv erlebt und das Gefühl hat, dass, „trotz der Fehlbildung“ „alles funktioniert“; – Eltern, welche die Bondingphase mit ihrem Baby nach der Geburt ungestört erleben können, sich kompetenter fühlen und dies auch sind; sie sind achtsamer und selbstbewusster im Umgang mit dem Baby, besonders, wenn es sich um Babys mit speziellen Bedürfnissen handelt; – Mutter und Vater glücklicher und zufriedener sind; der Blickkontakt mit dem Baby ist länger, Berührungen sind häufiger; – Bonding auch das Verarbeiten der Fehlbildung erleichtert; – das erste Stillen zum Bonding dazugehört und es später weniger Probleme beim Stillen gibt; die Mutter wird motivierter sein, auch schwierige Stillsituationen meistern zu wollen, da ernährungsbezogenes Stillen, wenn auch der Gaumen betroffen ist, erschwert ist; oft ist es erforderlich, nach der Geburt mit dem notwendigen Abpumpen der Muttermilch zu beginnen, um die Milchbildung optimal zu fördern; – ein Kontakt zwischen Mutter und Kind auch bei einer notwendigen Verlegung besonders wichtig ist und ermöglicht werden muss; ein Foto vom Kind kann der Mutter helfen und ein Besuch beim Baby sollte so schnell wie organisiert werden; – auch bei Babys mit einer Spaltfehlbildung der Saugreflex in der ersten Stunde nach der Geburt besonders intensiv ist; wenn ein erster Gesundheits-Check nach der Geburt für unerlässlich gehalten wird, sollte es danach aber unbedingt zurück in die Arme der Mutter und in leicht aufrechter Position an die Brust gelegt werden; – das erste Stillen Teil der Bondingphase ist; Stillen ist ein wesentlicher Bestandteil des Fortpflanzungsprozesses und eine einzigartige biologische und emotionale Basis für die Entwicklung des Kindes; die optimale vollwertige und von der Natur vorgesehene Form der Säuglingsernährung ist die Milch der Mutter; – auch leichtes Nuckeln an der Brust die Hormonproduktion und mütterliches Verhalten fördert und das Neugeborene das erste Kolostrum bekommt; Kolostrum enthält sehr hohe Anteile an Immunfaktoren und lebenden Zellen, welche die Darmwände auskleiden, vor Allergien und schädlichen Bakterien schützen; Kolostrum hat auch einen hohen Mineralgehalt, der ernsten Flüssigkeitsverlusten vorbeugt, und enthält alle essentiellen Eiweiße und Fettsäuren; Enzyme in der Vormilch sind förderlich für die Verdauung und Hormone und Wachstumsfaktoren für die Darmreifung; Kolostrum fördert auch die Mekoniumausscheidung (erster Stuhlgang, das so genannte „Kindespech“) und damit wird das Risiko einer Neugeborenengelbsucht verringert; – das Neugeborene mit mütterlichen Keimen in Kontakt kommt und über das Stillen die Mutter riechen, schmecken und fühlen kann und es sich somit wieder geborgen fühlen und Eins mit der Mutter werden kann; – Bonding zwar über Haut- und Blickkontakt auch später nachgeholt werden kann, es aber wichtig ist, postpartale Traumen bei Mutter und Kind auf ein Minimum zu reduzieren; besonders Frauen mit einem fehlgebildeten Baby sollten eine längere Zeit nach der Geburt fürsorglich und liebevoll betreut werden.

Bonding ist die Basis für all das
Positiver Zuspruch und einheitliche, umfassende Informationen sind für betroffene Eltern ganz wichtig. Eine kompetente Stillberaterin muss zur Verfügung stehen, damit gewährleistet ist, dass die Mutter ausreichend geduldig und entspannt beim Stillen ist und den intimen Augenblick mit ihrem Kind genießt. Sie muss optimal angeleitet werden, damit sie korrekt abpumpt und nicht saugverwirrend zufüttern kann. Der Mutter sollte unbedingt vermittelt werden, dass Stillen nicht nur eine Ernährungsform ist, sondern für Mutter und Baby viel mehr bedeutet. Hier muss ‚Stillen können’ einfach anders definiert werden, denn auch, wenn dem Kind Nahrung zugefüttert werden muss, kann die Stillbeziehung als erfolgreich gelten. Am besten ist es, dem Kind, während es an der Brust nuckelt, abgepumpte Milch durch den Fingerfeeder (Spritze, mit weichem Ernährungsaufsatz) in den Mundwinkel zu träufeln. Gerade Babys mit Spaltfehlbildung müssen in den Genuss der allumsorgenden Mutterbrust kommen und sollten keine künstlichen Mutterbrustersatzprodukte in den Mund gesteckt bekommen, denn nur die Brust ist ideal hinsichtlich des Aufbaus der Mundmuskulatur und eine Saugverwirrung wird verhindert.

Selbsthilfevereinigung für Lippen-Gaumenfehlbildungen e.V. (Wolfgang-Rosenthal-Gesellschaft) unter www.lkg-selbsthilfe.de.

Regina Masaracchia ist diplomierte Krankenschwester und Mitglied der La Leche League Italien.

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