fK 1/07 Endtinger

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

„Mami, ich hab geträumt – vom Papi, er hat ins Loch reingeschaut!“ (Kevin; 3;4)

Ein daseinsanalytisch-phänomenologischer Zugang zur Traumwelt des Kindes

von Silke Endtinger-Stückmann

Wie träumen Kinder? Lässt sich die Traumentwicklung von Kindern und Jugendlichen phänomenologisch beschreiben? Wie unterscheiden sich die Traum-Welten der Kinder?

Der Kindertraumforschung wurde bis heute erst wenig Forschungsinteresse zuteil. Die vorliegende, hier verkürzt wiedergegebene Studie mit der daseinsanalytischen Auslegung von 244 Träumen von Kindern und Jugendlichen soll einen Beitrag zu einem phänomenologischen Verständnis von Kinderträumen leisten. Ihr zugrunde liegt die Hypothese, dass Traumphänomene als solche betrachtet und verstanden werden können. Es wird angenommen, dass das träumende Kind, die träumende jugendliche Person nichts hinter den sich zeigenden Phänomenen „erfindet“, sondern die Phänomene sich selbst mittels der je eigenen individuellen Sprache erzählen, welche die träumende Person in ihrem ganzen Da-sein ausmacht. Weiter wird davon ausgegangen, dass nur das detailliert geträumt und entsprechend erzählt werden kann, wozu der/die Träumende einen Zugang, einen Bezug hat. Durch die Art und Weise des je eigenen Verhaltens im Traum, so die weitere Annahme, zeigt sich die entwicklungspsychologische Reife des jeweiligen Kindes.

Zur Analyse der Entwicklung der kindlichen Welt-Entwürfe wurden über 300 Träume von Kindern und Jugendlichen in ihrem alltäglichen Lebens-Umfeld erhoben, von denen 244 auswertbar waren.
In der aktuellen Traumforschung ist heute anerkannt, dass Träumen ›Hirnarbeit‹ ist. Der Schlaf wird aufgrund der Hirnstrommuster in verschiedene Stadien eingeteilt: Stadien mit schnelleren und langsameren EEG-Wellen (Elektro-Enzephalogramm-Wellen, hirnelektrische Aktivitätskurven), die sich in etwa 90-Minuten-Perioden wiederholen. Im Schlaf sind mit den schnellen EEG-Wellen auch rasche Augenbewegungen, die REM (Rapid Eye Movements) nachweisbar. Während man lange davon ausging, dass Träume nur Erinnerungen beim Wecken aus dem REM-Stadium sind, weiss man heute, dass Träume auch schon beim Wecken kurz nach dem Einschlafen erinnert werden. Alle Sinnesmodalitäten können im Traum wahrgenommen werden, und das oft mit subjektiv grösserer Intensität als im Wachleben.

Die Traumdeutung ist so alt wie die Menschheit und hängt vom jeweiligen kulturellen Verständnis und Geist der Epoche ab. Während Jahrtausende lang die Traumdeutung in den Händen von Propheten, Dichtern und Heiligen lag, befasst sich seit Freuds ›Traumdeutung‹ im Jahre 1900 die psychologische Forschung mit den ›Botschaften aus dem Unbewussten‹, und nicht selten suchen Menschen nach Antworten auf ihre Fragen heute auch im unwissenschaftlichen Bereich der Esoterik.

Traumverständnis verschiedener psychologischer Richtungen
Die verschiedenen psychologischen Richtungen haben ein je unterschiedliches Verständnis von Traumdeutung. In der klassischen Freud‘schen Psychoanalyse wird davon ausgegangen, dass Träumen die Funktion unbewusster Wünsche hat, basierend auf triebhaft-unbewusst Verdrängtem der Kindheit. Hinter dem manifesten explizit ausgeführten Trauminhalt wird ein versteckter latenter Trauminhalt angenommen, den es zur Aufdeckung der unbewussten verdrängten Triebwünsche mittels Assoziationen zum Traum zu entschlüsseln gilt.

Im Traumverständnis der analytischen Psychologie Jungs wird der Traum als im Schlaf auftretende Phantasie verstanden, die einen kompensatorischen Ausgleich für das einseitige Erleben und Handeln im Alltag eines Menschen schafft. Der Traum mache damit auf eine nicht gelebte Seite eines Menschen aufmerksam und dränge nach Bewusstheit. Die Traumdeutung erfolgt auf zwei Ebenen: Auf der Objektstufe wird eine im Traum erlebte Person auf diese auch bezogen, auf der Subjektstufe aber wird die geträumte Person als Teil des Träumers selbst gesehen. Der Traum dient als Weg zur Individuation eines Menschen und offenbart sich häufig in Symbolen der Mitte, wie etwa durch Mandalas. Weiter ging Jung davon aus, dass sich im Traum auch Urgestalten des Lebens zeigen, welche er ›Archetypen‹ nannte, die in grosser Tiefe, dem kollektiven Unbewussten, liegen. Mit der Methode der Amplifikation, der Erweiterung eines Bildes bis zur Sichtbarkeit durch Sammeln von Einfällen zum geträumten Bild, versuchte Jung, an den Traumsinn heranzukommen. So wird etwa ein geträumter Regenbogen verstanden als symbolhafte Verbindung von oben und unten, von Geist und Materie, von Bewusstsein und eigenem Schatten.

In der Individualpsychologie Adlers wird der Aspekt der Ganzheit des Menschen betont. Im Traum zeigt sich der Lebensstil eines Menschen, die Bewegung zwischen Selbstwert, Ziel und Gemeinschaft. Traumsymbole werden auf dem Hintergrund des individuellen Lebensstils verstanden – die Entwertung eines anderen im Traum steht so für die Kompensation einer im sozialen Kontext wahrgenommenen Minderwertigkeit.

Aktuelle Kindertraumforschung
In der Kindertraumforschung wird Foulkes als Pionier angesehen. Er führte zahlreiche Studien über in der REM-Phase im Schlaflabor gewonnene Kinderträume durch. Foulkes definiert Träumen als reflektive Fähigkeit, in Bildern zu denken, so dass erst drei- bis vierjährige Kinder dazu in der Lage sind. In einer Langzeitstudie wurden die Träume von 14 Kindern während fünf Jahren alle zwei Jahre erfasst: Drei- bis Fünfjährige träumen häufig von Tieren, die nicht in sozialer Interaktion stehen. Der Träumer ist keine Traumfigur. Angstträume werden wenig beschrieben, Gefühle praktisch keine, so dass Foulkes diese den Träumen von Kleinkindern grundsätzlich abspricht. Fünf- bis Neunjährige erzählen längere Träume mit sozialer Interaktion und aktiver Teilnahme am Traumgeschehen bei Abnahme von Tierträumen. Neun- bis Fünfzehnjährige zeigen eine weitere Zunahme an Selbstteilnahme. Foulkes sieht eine Traum-Entwicklungsfähigkeit in Parallele zur Entwicklung der Fähigkeit, ein Bewusstsein von sich selber zu erlangen.

Daseinsanalytisches Traumverständnis
Das daseinsanalytische Traumverständnis ist das phänomenologische Verständnis einer menschlichen Existenzweise, des träumenden Seins. Wachen und Träumen sind zwei autochthone, wenn auch unterschiedliche Existenzweisen eines ganzheitlichen menschlichen Da-seins. Ob wachend oder träumend, ist es immer dasselbe Da-sein, das sich als eine Identität durch Wachen und Träumen hindurchhält. So ist das Geträumte immer der Traum eines bestimmten Menschen, dem die existenziellen Wesenszüge wachend und schlafend zugrunde liegen. Mittels der Methode der phänomenologischen Auslegung wird das in einem Traum anschaulich Gegebene gesehen und mit seinem Verweisungszusammenhang beschrieben. Es gilt das So-sein-Lassen-Prinzip: Ein Hund ist und bleibt ein Hund und steht nicht symbolhaft für etwas anderes. Er verweist von seinem Wesen her auf den Bereich der nicht-menschlichen Natur und zeigt sich je nach Rasse unterschiedlich. So ist das einem im Traume begegnende Wesen mit dem je eigenen unverwechselbaren Charakter zu erhellen. Der Träumer verhält sich im Traume auf eine bestimmte Art und Weise dem ihm Begegnenden gegenüber. Die je eigene Art des Verhaltens wird in daseinsanalytischem Sinne beschrieben und zeigt den Weltbezug eines Menschen, der in der je eigenen Sprache mit der je eigenen Wortwahl eines Menschen wiedergegeben wird. Weil Sprache, Denken und Handeln eins sind und sich in der Sprache eines Menschen der je eigene Welt-Entwurf zeigt, ist dieser auch in den Träumen eines Menschen verstehbar, in den Träumen, die in der je eigenen Sprache eines Da-seins erzählt werden.

Forschungsdesign
Bei der folgenden Studie handelt es sich um Feldforschung. Verzerrungen durch künstliche Bedingungen, wie Schlafen in einem Schlaflabor, an Elektroden ›gebunden‹, nächtliche Weckungen in Abhängigkeit von der Schlafphase etc. sollen vermieden werden. Es interessiert das, was ein Kind selbst erinnert im alltäglichen Leben, was ihm bedeutsam erscheint, was es als erzählenswert erinnert und vor allem, was sich mit zunehmendem Alter im Traumleben dem Kinde zeigt und verändert. Um in der vorliegenden Studie den ›Traumalltag‹ des Kindes in seinem natürlichen Umfeld zu belassen, wurde auf direkte Traumbefragung durch eine außenstehende Person bewusst verzichtet, um Verzerrungen durch Hemmungen oder andere Gefühle wie etwa Scham zu vermeiden. Vielmehr sollten die Träume im alltäglichen Kontext aufgenommen werden. Daraus folgernd wurden folgende Personen und Institutionen zur Mitarbeit gebeten: Eltern im Freundes- und Bekanntenkreis der Autorin wurden gebeten, über einen Zeitraum von einigen Wochen die spontan erzählten Träume ihres Kindes möglichst wortwörtlich zu notieren und sie gegebenenfalls nach dem Aufwachen zu fragen, ob und was sie geträumt hätten. Zusätzlich sollte auf die Stimmung geachtet werden, die im Traum und seiner Erzählung zum Ausdruck kam und gegebenenfalls nach dieser nachgefragt werden.

In einer stadtzürcherischen Krippe wurde ein eigentliches ›Traumprojekt‹ durchgeführt, bei dem die Kinder, die etwas geträumt hatten, dies erzählen durften. Eine Kindergärtnerin sammelte zahlreiche Träume, in dem sie grundsätzlich den Kindern die Möglichkeit gab, ihr die Träume zu erzählen. Verschiedene Lehrpersonen – ausgewählt, um eine möglichst gute Verteilung über die verschiedenen ›Schulalter‹ zu erhalten – sammelten Träume, wie es ihnen am besten entsprach: sie schrieben sie selber auf nach mündlicher Erzählung (einzeln), liessen die Kinder auf ein Tonband sprechen oder die Träume von den Kindern selbst zu Papier bringen. So wurde auch Wert darauf gelegt, Träume aus verschiedenen Schulhäusern, unterschiedlichsten Wohngebieten und unterschiedlichster Schulungsformen zu erheben, geht es doch um grundsätzliche Aussagen zu Kinderträumen.

Auf diese Weise kamen 244 auswertbare Träume von 108 Kindern und Jugendlichen zusammen. Es wurde besonders berücksichtigt, die genaue Wortwahl – sowohl bei mündlichen als auch bei selbst aufgeschriebenen Träumen – zu belassen, wie sie gegeben wurde, in der Annahme, dass die Art der Verschriftung, die Wortwahl, im daseinsanalytischen Sinne Ausdruck des In-der-Welt-seins eines Kindes ist. So sind Träume, welche von den Kindern selbst aufgeschrieben wurden, mitsamt den Schreibfehlern ins Transkript aufgenommen worden.

Die Traumauslegungen werden anhand einiger zentraler daseinsanalytischer Existenzialien vorgenommen. Dabei werden die Träume vom jeweiligen Alter des Kindes in 3 grobe Kategorien eingeteilt, welche sich aus pragmatischen Gründen in Anlehnung an aktuelle entwicklungspsychologische Begriffsverwendungen anlehnen: Die frühe Kindheit (0-4 Jahre), die Kindheit (4-11 Jahre) und das Jugendalter (11-17 Jahre). Von den über 300 eingegangenen Träumen wurden all jene ausgeschieden, von denen Eltern oder Bezugspersonen die Bemerkung angefügt hatten, dass sie möglicherweise erfunden seien oder sie aber nichts anderes als eine Nacherzählung eines Filmes darstellten.

Traumentwicklung/konkrete Auslegung der Träume
Die Analyse von 244 Kinderträumen im Alter von 2;5 bis 15;9 Jahren zeigt die Entwicklung der kindlichen Welt-Entwürfe:

Kleinkindalter (null bis vier Jahre)
Das Kleinkind (bis ca. vier Jahre) träumt häufig von realen Begebenheiten, die es erlebt hat oder erleben könnte, was in Bezug also zum alltäglichen Sein steht. Häufig sind es Bezugspersonen des Alltags, die im Traum vorkommen und Handlungen aus der alltäglichen Auseinandersetzung mit der Welt. So erzählt nach dem Aufwachen etwa die 2;9 Jahre alte Anna entsetzt: „Ich hab die Hand offen, weil ich vom Fahrrad gefallen bin!“ – oder dieselbe Anna einen Monat später, ganz stolz: „Ich hab von dir (Mutter) geträumt. Ist Blut rausgekommen (Menstruation) – und wenn ich gross war, ist bei mir auch Blut rausgekommen!“
Die Dinge im Traum ›geschehen einfach‹, und so unterschiedlich die Kinder sind, so unterschiedlich fallen ihre je eigenen Reaktionsweisen aus: Das Be-wirken von Etwas durch Sprache wie etwa beim Nein-sagen ebenso wie das Flüchten zu einer vertrauten Person in einer bedrohlichen Situation. Das kleine Kind lebt im Hier-und-Jetzt, seine Träume werden in Gegenwarts- oder Vergangenheitsform wiedergegeben. Keineswegs stehen Angstträume im Vordergrund. Die unterschiedlichsten Stimmungen kommen zum Ausdruck, wobei das Kleinkind selbst explizit die Unterscheidung von Weinen und Sich-freuen trifft. Das Weinen steht für eine negativ erlebte Stimmung schlechthin, ›schöne‹ Träume verkörpern entsprechend positive Stimmungen. Ein erstes Konzept von ›gut‹ und ›böse‹ wird deutlich. Die kleinkindliche Grundgestimmtheit ist durch eine staunende Weltoffenheit gekennzeichnet.

Kindheit vier bis elf Jahre
Das Kind im Alter zwischen vier und elf Jahren erlebt sich zwischen Gefühlen von Allmacht und Ohnmacht. Mit zunehmendem Sprachverständnis und zunehmender verbaler Ausdrucksmöglichkeit entwickelt sich die Phantasie. Neben dem ausgeprägten Offen-sein für Tierträume finden auch Geister, Gespenster, Zauberer und Hexen Eingang in die Traumwelt, was in der Literatur vielfach belegt ist. So träumt etwa die 4;7 Jahre alte Sonja: „Eine Schar Schweine kommt ins Zimmer und die ziehen mich an und geben mir zu essen“.
Mit etwa sieben Jahren nehmen die Tierträume wieder ab und machen den alltagsbezogenen Träumen Platz. Ort des Traumgeschehens ist häufig die reale Alltagswelt. Mit zunehmendem Alter löst sich das Räumlich-sein vom Erstaunen über die Möglichkeiten der konkreten Dinge der Welt hin zu einer Auseinandersetzung mit den Dingen und Möglichkeiten in der Interaktion mit Mitmenschen. Eigene Handlungsmöglichkeiten treten hinzu. – So etwa die 7;9 Jahre alte Anja: „Ein Mann sass auf einer Schaukel und hatte eine Zigarette in der Hand und rauchte. Ich kam und spielte mit ihm. Plötzlich fragte er mich, ob ich einen Zug von der Zigi wolle. Ich sagte nein und erwachte“. Medieneinflüsse zeigen sich in den Träumen durch das Auftreten von Ereignissen im Traumgeschehen, welche real nicht den Erfahrungshintergrund des Kindes widerspiegeln, so etwa bei Träumen, die auf das Attentat auf das World Trade Center in New York Bezug nehmen – „… Aber sie ist in das falsche Flugzeug nach New York gestiegen. Weil eine Bombe im Gepäckraum liegt, explodiert das Flugzeug wie am 11. September 2002…“ (Pedro, 11;1). Computer und Handy dringen nur selten bis in die Träume vor, obwohl sie eine Realität im Wachleben vieler Kinder darstellen. Auch im Leiblich-sein drückt sich die wachsende Phantasieentwicklung aus, und das Kind hebt nicht selten ab zu einer abenteuerlichen Entdeckungsreise, bei der geflogen und geschwommen wird. Daneben bestimmen alltägliche Handlungen das Traumgeschehen. Erfolgreiches Selbst-Handeln im Traum erfüllt dabei mit Stolz. Das Zeitlich-sein verändert sich vom Kleinkind- zum Kindalter darin, dass aus dem Augenblickswesen ein Wesen der Möglichkeiten wird. Dies zeigt sich durch vermehrte Verwendung von Möglichkeits- bzw. Konjunktivformen und Bezugnahme auf verschiedene Möglichkeiten und Zeitpunkte. Sprachlich wird auch auf die Zukunft vermehrt Bezug genommen. Der überlegende Umgang mit verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten, mit dem Sollen, dem Können und dem Müssen und der Möglichkeit, etwas trotzdem nicht zu tun, bestimmen träumend die Gedanken um die Konsequenzen, die eigenes Tun oder Lassen haben kann. Die Gestimmtheit wird differenzierter ausgedrückt und ist je nach Kind unterschiedlich. Bereits Kinder im Alter von fünf Jahren können über eine metaphorische Sprache verfügen, die in der Beschreibung des Traum-Bildes die Gestimmtheit sehr deutlich werden lässt. Die traurige Gestimmtheit wird nur ein einziges Mal verbalisiert. Angstträume beinhalten nicht mehr die allgemeine Angst vor etwas Bösem, sondern eine Furcht vor einem klar beschriebenen bestimmten Etwas, wie etwa Gefressen-zu-werden. Angst ist ein Grundphänomen menschlichen Da-seins und ist Angst des Da-seins zur Nicht-ung, dem Nicht-mehr-da-sein. Doch mehr als zwei Drittel der Kinderträume drücken eine zufriedene oder zumindest neutrale Gestimmtheit aus. Nachdem das Kleinkind vorwiegend für einzelne Bezugspersonen offen ist, zeigt sich im Kindesalter ein Weiten des Offen-seins für verschiedene Bezugssysteme wie die Schule oder die Verwandtschaft. Vater und Mutter nehmen zwar noch eine grosse Bedeutung ein, treten aber zunehmend in einen Sicherheit vermittelnden Hintergrund. Die Allmacht elterlicher Präsenz schwindet zunehmend zugunsten einem Wichtiger-werden der Peergroup.

Jugendalter (ab elf Jahren)
Im Jugendalter räumt sich die jugendliche Person selbsthandelnd ins Traumgeschehen ein, mit den Themen, die im Jugendalter an Bedeutung gewinnen: Die Peergroup und Annäherungen an das andere Geschlecht mit ersten sexuellen und/oder Liebeserfahrungen. Die Ablösung von den Eltern wird durch eine Einbüssung derer Allmacht deutlich. Die verschiedenen Hobbys wie Handball spielen oder Snowboarden bestimmen zunehmend die Traumhandlungen. Die Art des Sich-Einräumens in die Bezüge zur Um- und Mitwelt ist dabei vom jeweiligen kulturellen Umfeld abhängig. Eine Orientierung an Idolen, wie sie Jugendlichen im Wachleben häufig attestiert wird, zeigt sich in den Träumen sehr selten. Auch bei den Jugendlichen nehmen nur zwei Träume Bezug auf neue Kommunikationsmittel wie Computer und Handy, aber auch Bücher haben Einfluss aufs Traumgeschehen (Herr der Ringe). Jugendliche zeigen unterschiedliches Offen-sein für das andere Geschlecht. Anhand der sprachlichen Formulierungen zeigt sich, dass im Traum nicht etwas gefühlt und gehandelt werden kann, was im Wachleben noch nicht konkret erfahren wurde. Besonders im Bereich der Sexualität zeigt sich dies deutlich: Generalisierte Formulierungen wie »In der Disco hatte ich ein Verhältnis mit diesem Jungen« lassen ebenso viel Handlungsspielraum zu wie das »Miteinander-schlafen« und verweisen auf Vor-stellungen vom Beisammensein mit dem anderen Geschlecht, während hingegen eine Formulierung wie »Unsere Hände berührten sich lange, war geil!« auf konkrete Erfahrungen verweist, die ebenso konkret benannt werden können. In der je unterschiedlichen Austragungsart des Leiblich-seins zeigt sich das jeweilige Weltverständnis eines/einer Jugendlichen. In Bezug auf die Sexualität etwa verweist eine sprachliche Formulierung wie »eine super Leistung erbringen« auf ein Erleben von Sexualität als etwas, das es zu leisten, zu können, zu erbringen gilt. Mädchen scheinen sich tendenziell mehr mit einer aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Sexualität zu befassen, während Jungen sich eher einem passiven Umworben-werden hingeben. Grundsätzlich stellt sich mit der Ablösung von den Eltern die Frage nach den je eigenen Verhaltensweisen. Der/die Jugendliche weiss um seinen/ihren späteren sicheren Tod, was sich im Zeitlich-sein zeigt. Die eigene Geschichtlichkeit des Da-seins wird erkannt, mit der Möglichkeit des Tuns und Lassens eigener Verhaltensweisen. Die Zukunft bestimmt nun als Lebensdimension ebenso das Da-sein wie die Vergangenheit und Gegenwart. Mit der Zukunft tritt auch das eigene Sterblich-sein in den Offenheitsbereich. Jugendliche träumen so auch vom eigenen Tod oder dem anderer, während Kinder häufig noch aus einem bedrohlichen Traum vor dem eigenen Tot-sein aufwachen. Die Gestimmtheit steht im Jugendalter zwischen den beiden Polen von enger Verbundenheit oder aber dem Ausgeschlossensein. Das Alleinsein wird in der Abwesenheit von anderen erlebt und ist häufig mit Angst verbunden. Mit dem Wissen um die Begrenztheit des eigenen Lebens treten Todesträume auf und Träume, die sich mit der Versehrtheit des eigenen Körpers beschäftigen. Dabei geht es um Möglichkeiten des Selbst-Handelns und der Selbst-Verantwortung.

Fazit
Bei der daseinsanalytisch-phänomenologischen Auslegung der Kinderträume zeigte sich, dass anhand der ontologischen Grundstrukturen menschlichen Seins eine Entwicklung des Träumens im Verlaufe der Kindheit beschrieben werden kann, die keiner symbolhaften Umdeutung in einen vermeintlich anderen Traumsinn bedarf, sondern ganz bei den sich zeigenden Phänomenen verweilt. Während das kleine Kind im Traume staunend offen ist für die Dinge, die in der Welt geschehen, erlebt sich das ältere Kind zunehmend als einen Teil eines grösseren Gefüges, das auch durch das eigene Verhalten mit-bestimmt wird.

Bereits Kleinkinder äussern explizit (selbst verbalisiert) und implizit (durch Intonation etc. eruierbar) positive und negative Stimmungen. Die ängstliche Gestimmtheit entwickelt sich von einer eher abstrakten Angst vor ›dem Bösen‹ hin zu konkreten Gefühlen vor konkreten Situationen oder Dingen, wie etwa schlechten Schulnoten oder dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein.
Das Schulkind zeigt sich in den Träumen sehr bemüht, es seiner Mit-welt recht zu machen und setzt sich allmählich damit auseinander, dass die Vorgaben der Eltern nicht unbedingt den eigenen Vorstellungen entsprechen, die Eltern aber dennoch häufig Schutz in verunsichernden Situationen geben. Träumend erlebt es die Konsequenzen eigenen Handelns und ringt zum einen um Anerkennung in der Peergroup, zum anderen aber auch zum Durchsetzen eigener Vorstellungen und Wünsche. Jugendliche sind stark mit sich selbst beschäftigt, distanzieren sich deshalb auch wieder von der Peergroup und sind auf der Suche nach dem eigenen Platz im Mit-sein. Mit dem wachsenden Interesse am anderen Geschlecht spiegeln die Träume auch die ersten sexuellen Erfahrungen wider. Keineswegs kann mit dieser Studie Freud zugestimmt werden, der besagte, dass im Traum stets triebhaft-unbewusst Verdrängtes zum Ausdruck komme. Vielmehr verweist das ausschliessliche Um-deuten von Trauminhalten in sexuelle Triebhaftigkeit auf das Abwesende in diesem Denken, nämlich die alltägliche Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Welt, die bei phänomenologischer Betrachtung sich zeigt. Auch erübrigt sich bei phänomenologischer Betrachtung eine Trennung in Subjekt und Objekt im Sinne Jungs. Adler kommt von den verschiedenen psychologischen Richtungen mit seiner Aussage, der Traum spiegle den Lebensstil eines Menschen, wohl der phänomenologischen Annäherung am nächsten, wenn er zugleich doch Symboldeutungen vornimmt.

Die aktuelle Traumforschung kommt der daseinsanalytischen Herangehensweise an Kinderträume am nächsten. Viele Aussagen, die im Rahmen der aktuellen standardisierten Traumforschung gemacht wurden, konnten im Rahmen dieser Studie belegt werden. Während aber aufwändige Forschungsstudien im Schlaflabor zu neutral feststellenden Aussagen kommen, etwa, dass die Ich-Beteiligung des Träumers mit zunehmendem Alter zunimmt, so kann die Daseinsanalyse darüber hinaus Aussagen zum grundsätzlichen In-der-Welt-Sein des Kindes machen und einen Beitrag zum Verständnis der kindlichen Seins-Art leisten. Dazu ist keine standardisierte künstliche Laborsituation nötig, sondern das alltägliche Leben, welches mit den alltäglichen Traumerzählungen von Kindern genügend Sprachmaterial zur Auslegung bietet.

Bezug nehmend auf den hier gewählten Titel des Artikels »Mami, ich hab geträumt – vom Papi, er hat ins Loch reingeschaut!“ (Kevin; 3;4), ist zu sagen – hinter dem „Loch“ verbirgt sich nicht latent die weibliche Vagina, noch symbolisiert der schauende Vater die männliche Komponente oder das männliche Glied oder gar den Akt des Eindringens vom Glied „ins Loch“ bzw. den Kastrationskomplex – Kevin äussert nämlich ganz neutral, der Vater schaue „ins Loch vom Baum“; natürlich könnte auch hier spekuliert werden, der Baum stehe für das männliche Glied, doch bleibt man bei den Phänomenen, die sich zeigen, so ist ein Baum schlichtweg ein natürliches Ge-wächs, das mit den Wurzeln in der Erde steht und Früchte tragen kann, mit Wind und Wetter bei genügender Nährstoffzufuhr gedeiht – der Vater blickt also „ins Loch vom Baum“, wobei dem kleinen Kevin mit seinen 3;4 Jahren die Sicht ins gleiche „Loch“ nicht gegeben ist, was ihm auch nichts auszumachen scheint; offenbar nimmt er aber schon gelassen zu Kenntnis, dass der Papa Dinge sieht, die er (noch?) nicht sieht.
Kurzum – Was dem jeweiligen Kind im Traum begegnet und wie es sich dem Gegenüber verhält, ist so unterschiedlich wie die Menschen schlechthin und bietet deshalb besonders diagnostisch-therapeutische Handlungsansätze.

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels, erschienen in: Jahrbuch der Daseinsanalyse 2005. Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Silke Endtinger-Stückmannist Dipl.-Logopädin und Dipl.-Psychologin (FH) in Zürich.

Buchhinweis
Silke Endtinger-Stückmann
Traumwelt von Kindern und Jugendlichen
Entwicklung – Verständnis – Therapeutischer Zugang
Karger Verlag 2006

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