fK 1/06 Lange

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Blitzlichter auf Familie und Mobilität heute

von Andreas Lange und Corinna Daeschner

Ein gelingendes Familienleben trägt zur Zufriedenheit und zu guten Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern bei. Die aktuellen Mobilitätsanforderungen beeinflussen – positiv wie negativ – die alltägliche Lebensführung von Müttern, Vätern und Kindern. Deshalb scheint es von Bedeutung, dem bislang randständigen Forschungsfeld Familie und Mobilität unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive der Kinder mehr Beachtung zu schenken.

Dimensionen von Mobilität

Herausforderungen durch Mobilität an Familien lassen sich anhand der „Auslöser“ von Mobilität sowie ihrer Häufigkeit, Regelmäßigkeit und Reichweite aufschlüsseln. Zu nennen sind da einerseits die „ganz normalen“ Anforderungen des Alltags. Andererseits ist das Mobilitätsregime des (veränderten) Berufs- und Familienlebens zu beleuchten. Ferner sind „familienexogene“ Anforderungen von „familienendogenen“ zu unterscheiden. Familien wird also nicht nur von außen Mobilität abverlangt, wie im Falle der Berufsmobilität oder den notwendigen Wegen zu Verwaltungen und Dienstleistungsanbietern, sondern Familien generieren diese Anforderungen teilweise selbst durch Trennung oder auseinander gezogene Wohnorte sowie vielfältige Aktivitätsbereiche.

Alltagsmobilität meint den Weg zur Arbeit, Wege für Kinderbetreuung, aber auch für Erledigungen und Freizeitaktivitäten (Arztbesuche, Besorgungen, Kinobesuche etc.). Auch Kinder und Jugendliche sind heute in vielfältiger Weise alltagsmobil, wenn sie in die Schule, in den Verein oder zur Nachhilfestunde laufen, radeln oder im Familienauto dorthin gebracht werden.

Berufsmobilität hat in sich nochmals ganz unterschiedliche Ausprägungen:
-Tagespendeln: Ganz egal ob fünf Minuten oder Stunden, fast jeder Berufstätige pendelt zur Arbeitsstelle, außer der Job kann von zu Hause aus erledigt werden. Je nachdem wo sich die Arbeitsstelle befindet, müssen Pendler längere oder kürzere Wege zurücklegen. Eine Belastung tritt oft bei besonders langen Arbeitswegen ein.
– Wochenendpendeln: Liegt der Arbeitsplatz zu weit entfernt, um täglich zu pendeln, ist ein zweiter Haushalt unumgänglich. Bei diesen so genannten „Shuttles“ muss vieles doppelt angeschafft werden und das Familienleben verschiebt sich teilweise auf das Wochenende. Ein solches Leben verlangt Familien ein hohes Maß an Organisation ab.
– Fernpendeln: Auch Wochenendpendler gehören zu der Gruppe der Fernpendler. Doch haben sie von der Entfernung und den Arbeitsumständen her die Möglichkeit, jede Woche zu ihren Familien zu fahren. Manche Jobs dagegen fordern aber eine besonders große Flexibilität von ihren Arbeitnehmern. Solche Jobs liegen oft weit entfernt in einem anderen Land oder sogar – bedingt durch wirtschaftliche Globalisierung – auf einem anderen Kontinent. Familien haben dann die Wahl entweder umzuziehen, oder sich über längere Zeiträume nicht zu sehen und fern zu pendeln.
– Mobilität zwischen verschiedenen Arbeitsorten: Führungskräfte, aber auch Vertreter, Außenmitarbeiter oder andere Berufsgruppen zählen zu den „Varimobilen“ und wechseln häufig zwischen mehreren Arbeitsorten.

Mobilität kann auch durch familiäre Ereignisse bedingt sein. Nicht zuletzt durch Trennungen und Scheidungen, Auflösung von Mehrgenerationenwohnformen und große Entfernungen zwischen Familienangehörigen und Verwandten kristallisiert sich ein neuer Blick auf die „Hausgemeinschaft Familie“ heraus. Menschen sehen sich heute auch dann als Familie und empfinden ein Zugehörigkeits-, Intimitäts- und Solidaritätsgefühl, wenn sie nicht mehr im gleichen Haushalt leben – sprich eine multilokale Mehrgenerationenfamilie bilden.

„Familienmitglieder auf Achse“: Empirische Facetten der Mobilität
Berufsgruppen wie z.B. Pilot(inn)en, Stewards und Stewardessen, Seeleute, Soldat(inn)en, Fernfahrer oder Gastarbeiter sind gewissermaßen die Mobilitätspioniere der Moderne, da sie seit längerem mit hohen Mobilitätsanforderungen auch im familialen Alltag umgehen müssen. Diese bestehen beispielsweise darin, aufgrund der langen Abwesenheiten und unregelmäßigen gemeinsamen Zeiten neue familiale Rituale des Zusammenseins erfinden zu müssen. Es ist absehbar, dass auch Vertreter(innen) anderer Berufsgruppen zunehmend flexibel-mobil sein müssen und daher ihre familiale Lebensführung modifizieren werden.

Mütter haben komplexere Wegeketten zu bewältigen als Väter
Das gesamte Spektrum von Mobilität ist markanten Veränderungen unterworfen. Trotzdem sind Mobilitätsmuster geschlechtsspezifisch konturiert, weil Frauen nach wie vor für die Organisation und Koordination des Familienalltags zuständig sind. Ganz konkret haben sie daher die komplexeren Wegeketten zu bewältigen (siehe Abbildung). Zum Beispiel sind Wege zu Kinderbetreuungseinrichtungen, unabhängig davon, ob Mütter berufstätig sind, in erster Linie Frauensache. Kramer vermutet, dass diese die Wege für Kinderbetreuung mit Wegen für den Haushalt koppeln und somit zu erklären ist, weshalb die Wege von Männern für den Haushalt bei der Gründung einer Familie systematisch abnehmen.

Arbeitswege werden tendenziell länger
Nach den Ergebnissen des Mikrozensus vom März 2004 (Statistisches Bundesamt 2005) ordneten sich von 35,7 Millionen Erwerbstätigen 30,3 Millionen als Berufspendler ein, die regelmäßig zwischen Wohnung und Arbeitsort pendeln. Circa 77 Prozent dieser Arbeitnehmer(innen) sind Tagespendler, deren Wege zur Arbeit maximal 30 Minuten betragen. Die überwiegende Mehrheit der Erwerbstätigen arbeitet auch weiterhin in der nahen Umgebung ihres Wohnorts, aber die Wege zur Arbeit werden tendenziell länger. So nahm von 1996 bis 2004 der Anteil an Pendlern, die 25 oder mehr Kilometer Arbeitsweg zurücklegen mussten, von 14 auf 17 Prozent zu.

Männer pendeln weiter – und verdienen mehr
Es sind meist die Männer, die die besser bezahlten Berufspositionen annehmen und dafür auch weite Strecken in Kauf nehmen. Das Statistische Bundesamt (2005) bestätigt, dass sieben Prozent der Pendler ein höheres Gehalt (ab 2.300 Euro) verdienen und dafür Arbeitswege ab 25 Kilometer aufwärts zurücklegen. Im Gegensatz dazu entsprachen nur ein Prozent Frauen der gleichen Konstellation von Entfernungen und Gehalt. Wesentlich weniger Frauen als Männer haben folglich gut bezahlte Jobs mit langen Wegen. Und die wenigen Frauen, die in solchen Kontexten tätig sind, haben nur selten eine Familie.

Zwölf Prozent mehr Wochenendpendler seit 1996
Problematisch für die Alltagsbewältigung wird es, wenn die Strecken zur Arbeitsstätte länger werden. Oft sind die Wege dann so weit, dass diese nicht mehr täglich zurückgelegt werden können. Ein zweiter Haushalt wird notwendig. Wochenendpendler mit einem Zweitwohnsitz haben laut Statistischem Bundesamt seit 1996 um zwölf Prozent auffallend zugelegt. Dabei kommen besonders viele Wochenendpendler aus Bayern, nämlich fast ein Viertel. 60 Prozent der Wochenendpendler sind Männer. Männer und Frauen, die sich auf Wochenendpendeln einlassen, sind sehr oft Führungskräfte. Daraus lässt sich folgern, dass ein attraktiver Job Wochenendpendeln eher wahrscheinlich macht.

Familien mit Kindern „entgrenzen“ ihre alltägliche Lebensführung außer Haus
Heutige Eltern versuchen ihren Kindern möglichst vielfältige Erfahrungsfelder zu erschließen. Gleichzeitig möchten viele Kinder von sich aus eigenständig in den Sportverein, den Hort oder die Pfadfindergruppe gehen. Die Konsequenz ist eine partielle Entgrenzung des familialen Zuhauses. So konnte bei einem Vergleich der Unternehmungen von Kindern und ihren Familien zwischen 1990 und 2003 festgestellt werden, dass die heutige Elterngeneration mehr Zeit mit ihren Kindern aushäusig verbringt, nicht nur beim klassischen Sonntagsausflug, sondern auch beim Einkaufsbummel und Schwimmbadbesuch. Ergänzend ist beizufügen, dass die heutige Kindergeneration auch im Urlaub Mobilitätserfahrungen macht, die einen Italienbesuch als nichts Aufregendes mehr erscheinen lassen.

Das Auto ist heute ein wichtiges „Familienmitglied“
Das Auto ist dabei heute aufgrund des unzureichenden Angebotes an flexiblem und familien- und kindgerechtem öffentlichen Nahverkehr, vor allem in ländlich strukturierten Gebieten, nicht nur eine kaum hinterfragte Ressource der familialen Lebensführung. Mit seiner Nutzung sind überdies gesellschaftliche Vorstellungen über kindgerechtes Aufwachsen und speziell die Förderung der eigenen Kinder verbunden – das Auto fungiert gewissermaßen als Bildungsvehikel. Es wird als Instrument gesehen, den Kindern einen möglichst gleichmäßigen und durchstrukturierten Tagesablauf zu ermöglichen. Die vielschichtigen Modernisierungen, beispielsweise die Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern, sollen in ihrer Wirkung für die Kinder abgemildert werden. Gleichzeitig trägt die massenhafte Verwendung des Autos dazu bei, dass die Wohnumfeldbedingungen von Kindern aus Sicht ihrer Eltern gefährlicher werden.

Heute hier und morgen dort: Kinder zwischen zwei Haushalten
Da immer mehr Kinder einen familienbiograpischen Umbruch in Form von Trennung und Scheidung der Eltern erleben, wird das Mobilitätsmanagement zwischen den Haushalten der beiden Sorgeberechtigten zu einer Herausforderung. Kinder müssen, je nach konkreter Ausgestaltung des Umgangsrechts, zwischen den beiden Haushalten pendeln, was unter Umständen auch die Bewältigung langer Wegestrecken, beispielsweise mit dem Zug, impliziert. Wie Kinder damit umgehen, wie sie zwei „Zuhause“ erleben und welche Belastungen daraus resultieren, ist weitgehend „terra incognita“ der Familien- und Kindheitsforschung.

Konsequenzen forcierter Mobilität
Schneider, Limmer und Ruckdeschel (2002) zeigen, dass Vorteile einer mobilen Lebensform vor allem in einem interessanten beruflichen Tätigkeitsfeld, einem hohen Maß an Autonomie und teilweise in positiven Auswirkungen auf die Qualität von Partnerschaften liegen. Finanziell hingegen wird das eher selten als positiv eingeschätzt, da ein mobiles Leben auch höhere Kosten verursacht. Hoch mobil zu sein heißt unter anderem, sich gegebenenfalls oft über längere Zeiträume nicht sehen zu können. Vereinzelt wird auch geäußert, dass solche Trennungen auf Zeit bereichernd für das Beziehungsleben sein können, da die wenige gemeinsame Zeit intensiver genutzt wird. Die Zeiten für gemeinsame familiale Lebensführung sind indes markant eingeschränkt. Kinder, aber auch Partner und Partnerin empfinden eine solche Verschiebung und Fragmentierung des Familienlebens eher als Belastung, denn als Bereicherung. Diese Belastungen fallen allerdings unterschiedlich aus. Diejenigen, die am „Hauptstandort“ bleiben, sind meist die Mütter. Sie sind noch intensiver für die Organisation des Alltages zuständig. Hingegen fehlt dem pendelnden Familienteil, meist dem Vater, der regelmäßige face-to-face Kontakt und der lebendige Austausch.

Berufsbedingte Mobilität kann Familiengründung und -alltag empfindlich stören
Arbeitnehmer geben in der Regel an, gezwungenermaßen mobil geworden zu sein, um Arbeit zu finden oder ihren Job nicht zu verlieren. Wochenend- und Fernpendler sind besonders unzufrieden mit ihrer Lebensplanung, wird doch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dadurch sehr aufwendig. Die erheblichste Auswirkung dieser neuen forcierten Mobilität liegt in Bezug auf Kinder auf der Hand: 42 Prozent der Männer und 69 Prozent der Frauen sagten in einer Studie des Bundesfamilienministeriums (Schneider, Limmer und Ruckdeschel 2002), ihre berufliche Situation behindere die Gründung oder Entwicklung einer Familie. Zugespitzt formuliert trägt die unreflektierte Forderung, immer mobil zu sein, um den Anforderungen des Arbeitsmarktes entgegenzukommen, in erheblichem Maße zum Kindermangel in Deutschland bei.

Forschung intensivieren
Bisher ist der Zusammenhang von Familie und Mobilität ein weitgehend unerforschtes Feld der Wissenschaft. Bemühungen in Richtung Erforschung des Spannungsfelds Familie und Beruf unter dem Aspekt erhöhter Mobilität sind nötig, um fundierte Aussagen über weitere Entwicklungen treffen zu können, Auswirkungen insbesondere auch auf Kinder zu beobachten und Wege zu einem gelingenden Familienleben trotz steigender Mobilitätsanforderungen aufzuzeigen.

Familienpolitik zur Unterstützung des Mobilitätsmanagements
Parallel dazu sind Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Männer und Frauen sich nicht aufgrund von forcierten Mobilitätsanforderungen gezwungen fühlen, zwischen Beruf und Familie entscheiden zu müssen. Alle politischen Akteure, von der Bundes- über die Landesebene sollten sich überdies engagieren, das alltägliche Mobilitätsmanagement von Familien zu unterstützen. Die Arbeitgeber können hierzu mit flexiblen Arbeitszeiten und kinder- und familienfreundlichen Strukturen beitragen. Die Kommunen sind aufgerufen, sich mit Anstrengungen zu einem familien- und kinderfreundlichen System öffentlichen Nahverkehrs, einer „Stadt der kurzen Wege“ und einer klugen Aufwertung der Wohnviertel durch verkehrsberuhigende Maßnahmen zu beteiligen. Nur wenn die unmittelbaren Wohnumfeldbedingungen aus Sicht ihrer Eltern von den Kindern gefahrlos exploriert werden können, gelingt es, Kindern eine autonome Mobilität zu ermöglichen, ohne immer auf elterliche Transportdienste angewiesen zu sein. Ansonsten wird in nicht allzu ferner Zeit das Bild der „Airbag-Kindheit“ und „Autokindheit“ irgendwann von einer journalistischen Formel zur harten Realität.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

PD Dr. Andreas Lange ist wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut e.V. in München.

Corinna Daeschner ist Diplom-Sozialpädagogin und ehemalige Mitarbeiterin des Deutschen Jugendinstituts e.V in München.

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