fK 1/02 Laewen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Selbstbildung des Kindes fördern

Zum Verhältnis von Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen

von Hans-Joachim Laewen

Bildung sei ein „deutsches Container-Wort“ hat Dieter Lenzen vor einigen Jahren geschrieben und darauf hingewiesen, dass der Container, seit Wilhelm von Humboldt ihn vor ca. 200 Jahren in Umlauf brachte, mit sehr verschiedenen, gelegentlich auch widersprüchlichen Inhalten gefüllt war. Und die Unklarheit über den Bedeutungsgehalt des Wortes dauert an: „Die Rede von Bildung“, so formulierte es Heinz-Elmar Tenorth in einem Vortrag am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, „ist immer noch diffus, versammelt Unvereinbares, bietet methodisch Differentes, manchmal auch nur dunkles Gerede. Darüber hinaus werde Bildung zugleich als Prozess und als Produkt verstanden, ohne dass beide immer mit der nötigen Sorgfalt unterschieden würden. Dabei sei jedoch, so Tenorth weiter, ungeachtet der Ungewissheit über seine Bedeutung, der Bildungsbegriff „innerhalb wie außerhalb der Erziehungswissenschaft (…) und der bildungspolitischen Öffentlichkeit nahezu inflationär in Gebrauch“.

Exemplarisch für die Einwände gegen ein unreflektiertes Umgehen mit dem Bildungsbegriff sei hier die Aussage Hans-Georg Gadamers angeführt, der vor 30 Jahren zu bedenken gab: „‚Bildung‘ ist ein Wort, dessen organische Herkunft wir nie ganz aus dem Ohr lassen sollten. Bildung ist etwas, was man nicht machen kann und was man nicht wollen kann. ‚Bildungsziele‘ gehören zu dem schlechtesten Jargon der Pädagogik. Bildung ist etwas, was wachsen muss, Zeit braucht und am Ende keinen überzeugenden Ausweis zu haben scheint.“ Es scheint, als ob Bildung zwar als ein wichtiger Begriff für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gilt, dass sich darin aber ein Ärgernis verbirgt, das ihm innewohnt und das ihn sperrig macht gegenüber allen Bemühungen, ihn zur Grundlage der Konstruktion wohlgeordneter Verhältnisse zu gebrauchen. Bildung als vielleicht wichtigste Hoffnung für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens stellt sich bei genauerem Hinsehen als etwas dar, was sich nicht machen lässt.

Das Kind als Werk der Natur, seiner selbst und der Gesellschaft

Was also ist Bildung nun eigentlich und was insbesondere bedeutet Bildung für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen? Dazu möchte ich zunächst vorschlagen, zwischen Bildung und Erziehung sorgfältig zu unterscheiden. Dies ist in der deutschen Sprache möglich, seit Wilhelm von Humboldt den Bildungsbegriff in die Diskussion eingebracht hat. Die anderen europäischen Sprachen kennen diese Trennung nicht. Wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass die Trennung des Bildungsbegriffs von dem der Erziehung zwar beabsichtigt war, aber nicht gut gelungen ist, so dass Bildung immer noch mit Vorstellungen von Erziehung vermischt ist, so eröffnet sich ein neuer und in mancher Hinsicht ungewohnter, aber – wie sich herausstellen wird – fruchtbarer Blick auf das Problem.

Mit Blick auf Erziehung finden sich seit der Zeit des Comenius, also seit rund 350 Jahren, Aussagen von Pädagogen, auf deren Arbeit wir uns heute sowohl in der Wissenschaft als auch in der Ausbildung von Erzieherinnen berufen, die Gadamers Zweifel hinsichtlich der Machbarkeit von Bildung nicht unbegründet erscheinen lassen. Ludwig Liegle hat die Argumentationslinie ein Stück weit nachgezeichnet, und zitiert in diesem Zusammenhang Amos Comenius mit der Bemerkung, dass in der Erziehung „nichts geformt werden darf (und kann), was sich nicht selber formt.“ Wenn wir versuchsweise unterstellen, dass Bildung das Ziel von Erziehung sein könnte oder zumindest sein sollte, fällt eine gewisse Übereinstimmung dieser Aussage mit der Gadamers sofort ins Auge.

Liegle wendet sich dann Pestalozzi zu, der das Kind als ein Werk der Natur, seiner selbst und der Gesellschaft beschreibt und alle drei Bestimmungen gleichzeitig und nebeneinander gelten lässt. Das Kind als Werk der Natur anzusehen ist einsichtig und – berücksichtigt man die Forschungsergebnisse der Neurobiologie in den letzten Jahren – vielleicht nur noch nicht in seiner vollen Bedeutung erkannt. Aber dass das Kind ebenso Werk seiner selbst sein soll wie das der Gesellschaft widerspricht zumindest allen Vorstellungen von vorhersagbarer Umsetzbarkeit vorgegebener Erziehungsziele.

Liegle argumentiert weiter: „Erziehung als Werk-Zeug der werdenden Person meint das Handeln des heranwachsenden Kindes selber in seiner Anpassung an die und Auseinandersetzung mit der Welt der Menschen und der Dinge. Durch Selbsttätigkeit entwickelt sich das Kind. Diese selbsttätige Entwicklung nennen wir Lernen. Lernen bedeutet Informationsverarbeitung, Selbstveränderung, Selbsterziehung, Autopoiesis. (…) Erziehung muss sich daher, ob es ihr gefällt oder nicht, darauf einstellen, dass die Entwicklung des Kindes die Gestalt einer dauernden Autopoiesis hat.“ Anders ausgedrückt, Erziehung muss sich damit abfinden, dass das Kind sich selbst schafft, zwar Werk der Natur ist, aber eben auch Werk seiner selbst. Offen bleibt an dieser Stelle die Frage, in welchem Verhältnis Erziehung und die Autopoiesis des Kindes zueinander stehen.

An dieser Stelle müssen wir mit den Einwänden umgehen, die sich gegen die Aussage, das Kind schaffe sich selbst, sofort zu erheben pflegen: Ist ein Kind nicht abhängig von der Fürsorge der Erwachsenen, von Wärme, Schutz und Nahrung, die sie ihm zukommen lassen? Verdankt es seine Entwicklung nicht der Zuwendung, die ihm seine Eltern und andere Erwachsene zuteil werden lassen, ohne die es gar nicht leben könnte? Sind es nicht die Familien der Kinder und die Kindergärten, die über die Qualität ihrer Bildung entscheiden, im Guten wie im Schlechten? Was soll das also heißen: Das Kind schafft sich selbst?

In der Tat sind Präzisierungen notwendig und ich greife zunächst die Aussage Pestalozzis auf, das Kind sei Werk der Natur. In moderner Sprache ausgedrückt ist das Kind Werk der Natur in seiner genetischen Struktur und der darin angelegten Möglichkeiten. Diese betreffen, wie wir inzwischen wissen, keineswegs nur die Farbe der Augen oder das Geschlecht des Kindes, sondern stellen dem Kind eine umfassende Ausstattung zur Verfügung, die ihm hilft, seinen Zugang zur Welt zu finden und zu strukturieren. Die Entfaltung der in der genetischen Struktur der Kinder angelegten Möglichkeiten bedarf dabei zwar all der erwähnten Unterstützungen: Wärme, Nahrung, Schutz, Zuwendung um nur einige der wichtigsten Hilfeleistungen der Erwachsenen zu nennen. Aber schon bei der Frage, was sich da eigentlich entfaltet, der Frage nach der genetischen Struktur also, müssen wir zugeben, dass das Kind von weiter her kommt als nur von seinen Eltern, die ihm all diese Hilfe anbieten. Die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Art dauert, soweit wir heute wissen, seit mindestens 4½ Millionen Jahren an, die Entwicklung des Lebens auf der Erde seit etwa 3½ Milliarden Jahren. Die Molekularbiologen sagen uns, dass sich vor etwa 700 Millionen Jahren die Entwicklungslinien der menschlichen Vorfahren von denen der Bäckerhefe getrennt haben, und dass die Gene der Bäckerhefe – wenn auch mit anderen Funktionen – immer noch zu unserer Struktur gehören. Die Evolution unserer Art dauert also genau genommen nicht nur die erwähnten 4½ Millionen Jahre, sondern seit unüberschaubar langen Zeiträumen an, und ihr jeweils individuelles Ergebnis findet seinen Ausdruck in jedem Kind, das sozusagen als das neueste Modell dieser sehr langen Entwicklungsreihe geboren wird. Kinder werden zwar durch uns Eltern in die Welt gesetzt, aber was da in die Welt gesetzt wird, kommt zum wenigsten von uns, sondern hat sich aus der langen Reihe menschlicher und nicht-menschlicher Vorgänger gänzlich ohne unser persönliches Zutun entwickelt. Loris Malaguzzi – der Mitbegründer der Reggio-Pädagogik – hat einmal gesagt, dass Kinder bei Ihrer Geburt eine Milliarde Jahre alt seien und hat damit eben diesen Sachverhalt gemeint. Das, was sich da mit unserer Hilfe entfaltet, kommt also in keinem nennenswerten Umfang von uns, sondern gehört dem Kind als Mitglied seiner biologischen Spezies. Das Werk der Natur ist weithin schon getan, bevor wir dem Kind begegnen können, aber ob die darin angelegten Möglichkeiten sich in mehr oder weniger vollem Umfang entfalten können und mit welcher Akzentuierung, hängt von den Bedingungen ab, die wir für diese Prozesse bereithalten. Was aber entfaltet sich da und wie?

Im Rahmen der von uns Erwachsenen gesetzten Bedingungen beginnt nach der Geburt das Werk des Kindes, das sich selbst schafft. Es ist dies vielleicht die für Pädagogen unbehaglichste Einsicht in die Bildungsprozesse von Kindern, das die Aneignung von Welt autopoietischer Natur sein soll und auf der Selbsttätigkeit des Kindes beruhe. Aber der Stand unseres Wissens erlaubt die Aussage, dass Kinder uns als Fremde geboren werden, die – kaum dass die Nabelschnur durchgeschnitten ist – ihre eigenen Wege gehen. Angetrieben von starken, genetisch verankerten Impulsen wenden sie sich ihrer Umwelt zu – den Personen und den Dingen – und setzen sich in Beziehung zu ihnen. Im tätigen Umgang mit ihr machen sie sich ein Bild von der Welt und streben hinsichtlich ihrer Bedürfnisse und Interessen mit all ihren Kräften nach Handlungsfähigkeit. Dabei eigenen sie sich die Welt in einer besonderen Weise an: Sie nehmen die Welt nicht in sich hinein, indem sie sie nach innen abbilden, sondern indem sie eine zweite Ebene der Realität in sich selbst errichten: Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Welt konstruieren sie eine eigene innere Welt in ihren Köpfen und Körpern.

Die Frage danach, wie Kinder sich die Welt aneignen, sich bilden, ist ein gutes Stück weit identisch mit der Frage, was ein Kind eigentlich ist. In den letzten Jahren haben die Neurobiologie und andere Wissenschaftsdisziplinen einige Anhaltspunkte dazu geliefert, die in unserem Zusammenhang nützlich sein können und eine erste Antwort lautet: Kinder sind biologisch hochstrukturierte und -kompetente Systeme, die von weiter her kommen, als nur von ihren Eltern. Sie verfügen über sozusagen vorinstallierte Methoden der Wahrnehmungsstrukturierung, die ihnen helfen, sich in der Welt, in die sie hinein geboren wurden, zu orientieren. Dazu gehören visuelle „Schablonen“, die ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Muster lenken, z.B. Gesichter. Sie können elementare Muster erkennen, z.B. Vierecke und Kreise in Punktmengen, sie können zwischen den Wahrnehmungssystemen Verbindungen herstellen (z.B. von durchbrochenen Linien zu unterbrochenen Tönen) und sie können im visuellen und akustischen Bereich ganz allgemein Regelhaftigkeiten der Anordnung erkennen. Kinder unterscheiden sich kohärent bewegende Form- bzw. Farbstrukturen als Gestalt von einem Hintergrund und ergänzen die visuelle Gestalt um gleichzeitig auftretende Eindrücke aus anderen Sinnesorganen (z.B. einem Gesicht eine Stimme zuordnen). Sie unterscheiden feinste Lautunterschiede in der Sprache der Erwachsenen – ohne ihre Bedeutung zu verstehen – und haben mit zwölf Monaten bereits gelernt, die Laute, die für die eigene Sprache nicht wichtig sind, zu überhören.

Die Kenntnisse des Kindes über seine Umwelt erweitern sich erheblich, wenn es seine Motorik soweit kontrollieren kann, dass Bewegung im Raum möglich wird. Von nun an kann es die Strukturen, die es bislang nur beobachten (und belauschen) konnte, durch Erfahrungen ergänzen, die es aus der Manipulation der Dinge gewinnt. Zugleich verlangt die Manipulation von Dingen, dass das Kind seine motorischen Muster und die der Auge-Hand-Koordination ständig rekonstruiert und den Dingen anpasst. Und dieser Umgang mit den Dingen hat Folgen für das Kind: Es konstruiert motorische Muster, die den Umgang mit den Dingen in zunehmend komplexerer Weise möglich machen und entwickelt Handlungsabsichten, die sich auf diese Muster stützen. Piaget hat diese Entwicklung als ein Wechselspiel von Akkomodation (Entwicklung neuer z.B. motorischer Muster) und Assimilation (Anwendung dieser Muster sowohl auf die Dinge, an denen sie entwickelt wurden, als auch auf andere Dinge, für die sie geeignet scheinen) beschrieben.

Je nach Komplexitätsgrad der Dinge und der möglichen Umgangsweisen mit ihnen sowie der Strukturen, die beobachtet (und belauscht) werden konnten, entwickelt das Kind unterschiedlich komplexe motorische und kognitive Muster. Eine Schlussfolgerung aus dieser Einsicht ist, dass den Kindern von Beginn an der Zugang zu komplexen Strukturen ermöglicht werden sollte, anstatt die für sie erfahrbaren Dinge so einfach wie möglich zu gestalten. Die letztere Strategie führt möglicherweise dazu, dass das Kind damit beginnt, einfache Strukturen den komplexeren vorzuziehen, wenn es nur für solche Handlungsstrategien entwickelt hat. Alle diese angeborenen Talente, die den Kindern helfen, ihre Wahrnehmungen von der Welt zu strukturieren, sind Dispositionen, die in einer langen evolutionären Entwicklung entstanden sind und die sich in aktiver Auseinandersetzung mit der Welt entfalten müssen.

Wenn Kinder auf derartige Dispositionen zurückgreifen können, dann muss andererseits der Schluss gezogen werden, dass sie solche Hilfsmittel auch benötigen, denn sonst hätten sie sich in der Evolution nicht ausgebildet. Diese Überlegung führt zu der Frage, was Kinder eigentlich wahrnehmen. Erwachsene, auch Pädagogen, gehen für gewöhnlich davon aus, dass Kinder beispielsweise dasselbe sehen, wie sie selbst. Dann wären die erwähnten Hilfsmittel jedoch überflüssig und wir müssten daraus schließen, dass Kinder die Welt in anderer Weise wahrnehmen, als wir Erwachsene. Was also nimmt ein Kind wahr, wenn es in die Welt gesetzt wurde?

Die Welt ist dem Kind über seine Sinnessysteme zugänglich, wobei aber die elektro-chemischen Signale dieser Systeme nur einen gleichförmigen Input liefern, der durch die Verknüpfung der Sinnesorgane mit bestimmten Hirnarealen als Hell-Dunkel-Kontraste, Farbabstufungen, Geräusche, Druckinformationen, Geschmacks- und Geruchsnuancen interpretiert wird. Sie übermitteln jedoch keine Bedeutung, keinen Sinn. Auch die Sprache der Eltern ist für das Kind zunächst nur Geräusch und auch wenn es (relativ schnell) beginnt, Muster und Klangfarben wahrzunehmen (und zu interpretieren): Es versteht die Sprache nicht. Obwohl seine Sinnessysteme spätestens nach dem ersten Lebenshalbjahr im technischen Sinne fast so perfekt funktionieren wie die des Erwachsenen: Es weiß nicht, ob ein heller Fleck mit gerundeten Kanten, den es sieht, Teil des Hintergrunds ist oder ein davon getrennter Gegenstand, etwa eine Tasse. Wie erkennt das Kind, was eine Tasse ist? Niemand kann es ihm erklären, da es Sprache nicht versteht und Gesten nicht deuten kann. Anders ausgedrückt: Das Kind kann zunächst über die Welt und seine Beziehung zu ihr nicht belehrt werden, da es die Lehrenden nicht verstehen könnte. Wie orientiert sich also das Kind? Wie kann es sich ein Bild von der Welt machen, die es umgibt, und schließlich von sich selbst als einem Teil dieser Welt?

Die überzeugendste Antwort auf diese Fragen ist: Zur biologischen Grundausstattung gehört auch die Fähigkeit zur sinnstiftenden Interaktion mit Menschen und Dingen, soweit sie für das Kind zugänglich sind. Das Kind ist durch die Evolution darauf vorbereitet, sich von Beginn an selbst und mit all seinen Kräften zu bemühen, sich ein Bild von der Welt zu machen. Es setzt seine Sinneseindrücke mit eigenen Aktivitäten in Zusammenhang und ordnet ihnen auf diese Weise Bedeutung zu. Es konstruiert selbsttätig und in Interaktion mit der belebten und unbelebten Umgebung in Kopf und Körper eine komplexe Struktur, die mehr ist als ein bloßes Abbild der Umgebung. Sie besteht einerseits aus mehr oder weniger vernetzten und mit emotionalen Wertigkeiten (Gefühlstönungen) verknüpften Detailwahrnehmungen auf den verschiedenen Sinnesebenen und ist andererseits mit Handlungen, Handlungsabsichten, Handlungskontexten verbunden, die den Wahrnehmungen eine (subjektive) Bedeutung zuweisen. Wir meinen dieses selbsttätige Bemühen des Kindes um Weltsicht und Handlungskompetenz, wenn wir von Bildung als Selbstbildung in einem doppelten Sinn sprechen: Bildung durch Selbst-Tätigkeit und Bildung des Selbst als dem Kern der Persönlichkeit. Bildung so verstanden wäre also der Anteil des Kindes an seiner eigenen Entwicklung.

Dieser Eigenbewegung des Kindes, die wir Selbstbildung nennen, steht nun in einem zunächst widersprüchlich erscheinendem Verhältnis Erziehung gegenüber. Und wenn Erziehung mit Blick auf Pestalozzi das Werk-Zeug der Gesellschaft wäre und erreichen soll, was aus der Sicht der Erwachsenen als unvermeidlicher Kanon der vom Kind zu erwerbenden Kompetenzen und Kenntnisse erscheint, stünden Bildung als Selbst-Bildung und Erziehung als kultureller Imperativ in letzter Konsequenz in einem gegensätzlichen Bezug zu einander, der Pädagogik ins Dilemma bringt. Wenn, wie bereits Comenius wusste, „nichts geformt werden kann und darf, was sich nicht selber formt“, welche Rolle bleibt dann den Erwachsenen, der Pädagogik?

Ein Kind betritt diese Welt mit einer umfangreichen biologischen Ausstattung, und seine nach außen orientierten Sinnesorgane versorgen es mit einem Strom von Eindrücken, parallel über mehrere Kanäle. Das Kind bringt zugleich das Bedürfnis mit, diesen Eindrücken Bedeutung zuzuweisen. Es reagiert deshalb auf diese Eindrücke mit (vorwissenschaftlichen) Forschungen, die zunächst den eigenen Körper und den körpernahen Raum betreffen und schnell auf die weitere Umgebung ausgreifen. Dies geschieht mit beträchtlicher Anstrengungsbereitschaft und unbestreitbarem Vergnügen. Ein Gegenstand der kindlichen Untersuchungen hebt sich dabei sehr schnell aus der Menge der anderen heraus und gewinnt eine große Faszination für das Kind: Durch evolutionär entwickelte visuelle „Schablonen“ vorbereitet erkennt es Gesichter von Menschen und bringt sie sehr bald in Verbindung u.a. mit den Empfindungen des Aufgenommen-Werdens, der Behebung von Mangelzuständen und der Wahrnehmung von akustischen Eindrücken, die es später als Sprache identifizieren wird.

Bis zu diesem Punkt unterscheidet sich dieser zwar besonders interessante Gegenstand kindlicher Untersuchungen nicht wesentlich von anderen Dingen, auf die sich die Aufmerksamkeit des Kindes richtet. Die Gesichter von Erwachsenen aber kennzeichnen etwas, was sich in einer einmaligen und hervorgehobenen Weise von allen anderen Dingen unterscheidet: Das Wesen, dessen Gesicht (Geruch, Stimme …) das Kind sehr bald wiedererkennen kann, ist auf eine besondere Weise beeinflussbar! Es reagiert auf gewisse Handlungen des Kindes in vorhersehbarer (und doch immer wieder ein wenig überraschender) Weise, es kann veranlasst werden, Dinge heranzuholen, das Kind aufzunehmen oder abzusetzen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Zugang zu ermöglichen, und die Wahrnehmung seiner Sprache unterscheidet sich von allen anderen akustischen Eindrücken durch ihre Komplexität und durch ihre vielleicht vom Kind empfundene Nähe zu eigenen, noch unentwickelten Ausdrucksformen.

In der (zuverlässig zu erwartenden) Reaktion des Erwachsenen auf seine Einflussnahme erfährt das Kind, was eine Antwort ist und beginnt, diese Erfahrung in sein Handlungsrepertoire zu integrieren: Es antwortet selbst auf Aktionen des Erwachsenen. Ein elementarer Dialog entwickelt sich auf diese Weise zwischen dem Erwachsenen und dem Kind,

Bindung als Grundlage sozialer Orientierung

Die Bereitschaft des Kindes, in diesen Dialog einzutreten, ist ebenfalls genetisch vorgeformt und steht als Möglichkeit zur Verfügung. Ob und in welcher Weise er geführt wird, hängt wesentlich von dem Erwachsenen und den Erfahrungen ab, die er selbst in dieser Hinsicht in früher Kindheit gemacht hat. Die Konstruktion eines solchen Verständigungssystems zwischen ihm und dem Kind mündet in eine Beziehung von besonderer Art, die wir Bindung nennen. Sie schafft ein enges, mit starken Gefühlen verknüpftes Band zwischen dem Kind und einigen wenigen Erwachsenen und ist, insbesondere auch in Abhängigkeit von der Qualität der Beziehung, von größter Bedeutung für die soziale Entwicklung des Kindes. Ein zentraler Inhalt des Dialogs zwischen dem Kind und einer Bindungsperson ist dabei die Verfügbarkeit des Erwachsenen insbesondere in Situationen existenzieller Not, wenn das Kind etwa durch unerwartete Reaktionen der Umwelt auf seine Forschungen die Kontrolle über seine Handlungen und seinen Zugang zur Welt verliert. In solchen Situationen sucht das Kind aktiv die Nähe zu einem Erwachsenen, zu dem eine solche Beziehung existiert und gerät in eine kritische Verfassung, wenn keine Bindungsperson erreichbar ist.

Die Verfügbarkeit einer Bindungsperson ermöglicht dem Kind die sinnliche Erfahrung von Geborgenheit, vom Blickkontakt über die Distanz (visuell) bis hin zum engen Körperkontakt (berührt, gehalten werden, Geruch der Nähe, Wärmeempfindung, taktile Empfindungen, …). Die für das Kind erfahrbare Bereitschaft der Bindungsperson, sich als Ort der Geborgenheit zur Verfügung zu halten, ermöglicht es dem Kind, sich ohne Furcht vor Kontrollverlust bei unerwarteten Reaktionen der Welt auf Sinneserfahrungen/Wahrnehmungen einzulassen und ihnen handelnd (zunächst subjektiv bedeutungsvolle) Begriffe zuzuordnen.

Die Bindungen an die Erwachsenen seiner engsten Umgebung, die das Kind im Laufe der ersten Lebensmonate aufbaut, erlauben jeweils beiden Partnern einen intimen Zugriff aufeinander. Sie stellen dem Kind die „sichere Basis“ zur Verfügung, die es für seine Untersuchungen über die Welt und ihre Beschaffenheit benötigt und zugleich werden über die Aktionen der Bindungspersonen Impulse an das Kind herangetragen, deren Beachtung es sich nicht entziehen kann. Das Kind bringt also die Fähigkeit und das Wollen zum Konstruieren einer zweiten Realitätsebene mit, die zunächst als auf die Umwelt des Kindes bezogene Bewegungs- und Handlungsstruktur existiert und zunehmend durch symbolische Repräsentanzen ergänzt wird. In dieser in Bindungsbeziehungen eingebetteten Eigenbewegung des Kindes liegen Antrieb und Grundlage seiner Entwicklung.

Jedes Kind ist wenige Monate nach seiner Geburt in besondere, enge und für das Kind lebenswichtige soziale Bezüge zu mindestens einem Erwachsenen eingebunden, die von unterschiedlicher Qualität sein können, aber als solche für das Kind unverzichtbar sind. Seine Bindung an einige wenige Erwachsene seiner engsten Umgebung macht das Kind zugänglich für deren Wünsche und Absichten, die es nicht ignorieren, wohl aber interpretieren kann. Jedes Kind reagiert auf die offenen oder versteckten Absichten seiner Bindungspersonen, aber keineswegs immer in der erwarteten Weise. Bindungspersonen hätten also einen Zugang zum Kind, der von diesem nicht verstellt werden kann. Erziehung, so könnte man sagen, hätte hier ein Tor zum Inneren des Kindes, und auf diesem Wege könnten zumindest Bindungspersonen Einfluss nehmen auf die Weltkonstruktionen des Kindes. Hier haben wir die erste Wirkungsgrundlage pädagogischen Handelns, die seine Wirkung – wenn auch nicht die intendierte – gewährleistet: Kinder sind eingebunden in ein Beziehungsgefüge, das zugleich Grundlage der Wirkungen des kindlichen Handelns ist wie umgekehrt die des Erwachsenenhandelns. Aber: Dieser Zugang zum Kind ist von besonderer Art.

Denn das Tor, um in diesem Bild zu bleiben, lässt nichts unverändert passieren. Zwischen dem Wollen und den Absichten der Erwachsenen – und seien sie heißgeliebte Bindungspersonen für das Kind – und dem, was durch dieses Tor gelangt, steht immer ein Konstruktionsprozess des Kindes: Auch die dringendste Botschaft wird durch die Sinnesorgane des Kindes in ein elektro-chemisches Signalmuster verwandelt, dessen Bedeutung erst durch Konstruktionsleistungen des Kindes erschlossen wird, die es mit Bezug auf seine bis dahin geschaffene innere Welt erbringt. Das Kind interpretiert die Botschaft auf der Basis seines eigenen Weltverstehens. Dieses Weltverstehen resultiert aus dem Bild von der Welt, das vom Kind bis dahin konstruiert wurde und ist zwar nicht unabhängig vom Erwachsenen, aber wesentlich ohne sein Zutun vom Kind erarbeitet worden.

Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen

Wenn Bildung immer Aktivität des Kindes, also nur Selbstbildung ist und sein kann, bleiben für Erziehung als Aktivität der Erwachsenen grundsätzlich drei Formen, über die sie mit Bildung in Verbindung gebracht werden kann:

(1) Die Gestaltung der Umwelt des Kindes und damit die (reflektierte) Auswahl von Sachverhalten, die Gegenstand der Konstruktionsleistungen der Kinder werden sollen. Fragen der Raumgestaltung etwa sind in Kindertagesstätten dann keine Themen von peripherer Bedeutung, sondern stehen im Zentrum der pädagogischen Aufgabe.

(2) Die Beantwortung und Erweiterung der Themen der Kinder durch Erwachsene gewinnt einen zentralen Stellenwert, wenn vorausgesetzt wird, dass Kinder in jedem (wachen) Augenblick mit Konstruktionsaufgaben befasst sind. Um auf Themen der Kinder antworten und sie sinnvoll erweitern zu können, müssen diese vom Erwachsenen wahrgenommen und gedeutet werden.

(3) Die Zumutung von Themen gehört zum pädagogischen Dialog zwischen Kind und Erwachsenen, solange die Regeln des Diskurses nicht verletzt werden. Die Antwort der Kinder auf „zugemutete Themen“ werden immer „eigenartig“ sein und eine erneute, ggf. modifizierte Stellungnahme der Erzieherin dazu herausfordern. Hier spielen die frühen Bindungsstrukturen eine wesentliche Rolle, insofern sie u.a. den Zugang der Erzieherin zum Kind (und umgekehrt) sichern. Auf diese Weise wird das zugemutete Thema zum Konstruktionsgegenstand des Kindes. In welcher Weise Kinder damit umgehen und zu welchen Schlüssen sie kommen, kann nicht vorhergesehen werden, und daraus folgt die Notwendigkeit des kontinuierlichen und durch die Erzieherinnen kompetent geführten „Gesprächs“ mit den Kindern, in dessen Verlauf die notwendigerweise subjektiven Konstruktionen des Kindes sich objektivieren können.

Bildung als Selbstbildung der Kinder und Erziehung als Aktivität der Erwachsenen stehen so in einem Wechselverhältnis zueinander. Die auf den frühen Bindungen der Kinder basierende Bereitschaft zur wechselseitigen Anerkennung bildet die Brücke, über die Erziehungsziele der Erwachsenen zu Bildungszielen der Kinder werden können. Der allgemeine Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen ließe sich dann so formulieren: Die Aufgabe der Kindertageseinrichtung ist es, die Bildungsprozesse der Kinder durch Erziehung zu ermöglichen, zu unterstützen und herauszufordern und ihre Grundlage durch Betreuung zu sichern.

Im Grundsatz muss in der Vorschul-Pädagogik verstanden werden, dass Bildung nach dem Stand des Wissens nur Selbstbildung sein kann: Kinder (und Erwachsene ebenso) können nicht gebildet werden, sie bilden sich von Beginn an selbst. Ebenso wie „Bildung“ muss jedoch auch „Erziehung“ neu gedacht werden, die nun als Aktivität der Erwachsenen den Selbstbildungsprozessen der Kinder gegenübersteht. Bildung und Erziehung können in den Kindertageseinrichtungen nicht weiter nebeneinander stehen, sondern müssen in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Erziehung als ein legitimes kulturelles Anliegen verlangt dabei, dass Erzieherinnen (und Eltern, Träger, Beraterinnen, Wissenschaftler, Journalisten, …) sich über die wichtigsten Erziehungsziele verständigen, in einen Diskurs eintreten, der sowohl im Kleinen als auch öffentlich geführt werden sollte.

Es wird für die kommenden Jahre eine essentielle Aufgabe sein, den zentralen „Mechanismus“ von Bildungsprozessen als durch eine an kulturell definierten Zielen orientierte Erziehung beantwortete Eigenbewegung des Kindes mit handlungsleitenden Praxisvorschlägen für Kindertagesstätten anschaulich zu machen. Ein entsprechendes Vorhaben ist bereits in Kooperation mit dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg in die Wege geleitet. In den nächsten drei Jahren wird von INFANS unter dem Arbeitstitel „Zehn-Stufen-Plan Bildung“ eine Handreichung für Kindertageseinrichtungen erarbeitet, die Anregungen und Vorschläge zusammenfassen wird, wie Kindereinrichtungen sich selbst auf den Weg zu einer Bildungseinrichtung begeben können.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Hans-Joachim Laewen ist Diplom-Soziologe und leitet gemeinsam mit Beate Andres das Institut für angewandte Sozialisationsforschung/Frühe KIndheit (INFANS) in Berlin

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